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Berlinale-Empfehlungen und -WarnungenWalter Kaufmann »Indignados«: Stéphane Hessel fragte sich öffentlich auf der Bühne des Kino International, wie man aus den zwanzig Druckseiten seines »Empört Euch« einen Dokumentarfilm hatte machen können – es mußten Bilder her, die die Streitschrift nicht liefern konnte: Ein Turnschuh wird aus dem Meer an Land gespült, wo schon etliche Turnschuhe liegen, Wäsche flattert vor ausrangierten Güterwagen, in denen Obdachlose hausen, Hände wühlen in Mülleimern nach Nahrung, ein heimatloses schwarzes Mädchen streift verlassen durch eine fremde Stadt ... Der Apfel, den es einer Demonstrantin schenkt, verbindet es für kurze Zeit mit der Gemeinschaft. Dann ist es wieder allein und auf sich gestellt – schwarzes Schicksal in einem weißen Land. »Empört Euch!« konnte dem Film keine Fabel bieten und Tony Gatlif, der Filmemacher, scheiterte daran, eine zu entwickeln. Die besten Absichten garantieren noch keinen wirkungsvollen Film. Die Polin Malgoska Szumowska hat in französisch-englisch-polnischer Gemeinschaftsproduktion den Spielfilm »Elles« geschaffen, in dem es nicht nur um die Befragung zweier junger Studentinnen geht, die sich in Paris prostituieren, sondern auch darum, wie die Aussagen der jungen Frauen über Geld, Sex und Liebe die Fesseln der Journalistin sprengen – die wohlsituierte bürgerliche Frau entdeckt die Sehnsüchte und Zwänge ihres Alltags, und erkennt, woran es in ihrer Ehe mangelt. All das wird von den Schauspielern blendend umgesetzt. Eine treffliche Inszenierung, atmosphärisch genau, mit stimmigen Dialogen, blendend verfilmt, was alles zu einem überzeugenden Ganzen führt, das bis zum Ende die Spannung hält. Einem jungen Nigerianer, im eigenen Land aus politischen Gründen von Ordnungskräften gefoltert, gelingt die Flucht nach Südafrika, wo ihm alle Bürgerrechte außer dem Wahlrecht zuerkannt werden. Er verliebt sich in eine junge Frau, geht auf Arbeitssuche und – verschwindet. Sein aus London angereister Bruder versucht, seinem Schicksal nachzugehen. Er stößt auf die Verquickung der Polizei mit rechtsradikalen Banden und auf die mörderische Ausländerfeindlichkeit von Einheimischen und gerät selbst in Gefahr. Nie aber wird er erfahren, daß der Bruder von den Rechtsradikalen aufgespürt, in den Kofferraum eines Autos gepackt und lebendigen Leibes verbrannt wurde. Dem Zuschauer jedoch bleibt das Grauen nicht erspart, und es erschüttert ihn umso mehr, weil er von der Liebe der Mutter zum Sohn weiß und der innigen Liebe der jungen Südafrikanerin zu ihrem verschollenen Nigerianer. Wie ein Dokumentarfilm scheint »Man on Ground« der Wirklichkeit gespenstisch nah zu kommen, und daß der Film so wirkt, spricht für die Regie Akin Omotosos und seine überzeugenden Darsteller. 1992 werden zwei rumänische Roma in Mecklenburg-Vorpommern von Jägern erschossen, als sie illegal von Polen her die Grenze überschreiten wollen. Die Jäger geben an, es handele sich um einen Jagdunfall und werden freigesprochen ... Bewundernswert die Ausdauer Philip Scheffners und seines Filmteams, den Fall zwanzig Jahre später noch einmal aufzurollen, und mutig auch! Die Ungereimtheiten, die da aufgedeckt werden – es war hell genug damals, um zu erkennen, daß es sich um Menschen und keine Wildschweine handelte, und warum brannte das Feld ab, kaum daß die zwei Landarbeiter den Leichenfund der Polizei gemeldet hatten? Warum war die polizeiliche Untersuchung derart schlampig, und war da kein Zusammenhang zu erkennen zwischen dem gewaltsamen Tod der beiden Männer und der Grabschändung einer Roma auf dem nahegelegenen Dorffriedhof? Eingehende Interviews mit deutschen Polizeioberen, Sicherheitsbeauftragten, einem Staatsanwalt, einem Gerichtsmediziner, einem Geistlichen der Dorfgemeinde – sie alle lassen mehr als ahnen, daß es sich um keinen Jagdunfall gehandelt haben konnte. Doch verjährt ist verjährt. Nichts aber ist in den Herzen der Roma-Familien verjährt, die das Filmteam aufsucht und deren Vertrauen es gewinnt. Was zutage kommt ist Schmerz und Trauer und die unausgesprochene Gewißheit, daß damals an der deutschen Grenze ein Mord geschah. Man erlebt die Familien in ihrem Umfeld und gelangt zu einer Nähe, die nur bewegte Bilder, nur der Film vermitteln können. »Revision« erweist sich als weit mehr als die dokumentarische Rekonstruktion eines Vorfalls, sie erweist sich als ein J'accuse! »Tri pesni o Lenine – Drei Lieder über Lenin«: Ein Dsiga-Wertow-Stummfilm aus der UdSSR der Jahre 1935/36, mit englischen Untertiteln und Klavierbegleitung. Das Zeughauskino füllte sich bis auf den letzten Platz, und das um vier an einem Wochentag! Man fragte sich, ob den anderen durch den Kopf ging, was einem selbst durch den Kopf ging – diese Sowjetmenschen von überall her aus dem Riesenreich, Bäuerinnen und Stahlschmelzer, Nomaden der Wüste und Moskauer Studenten, junge Frauen tanzend in ihren Trachten, Schulkinder singend, strahlende Gesichter, und stolze – und alle vereint mit Lenin, raus aus der Knechtschaft und vorwärts in die Freiheit, die Macht der Ausbeuter gebrochen, das Kapital besiegt. Und immer wieder ist Lenin präsent, wie er spricht, wie er zuhört, seine Schlichtheit, sein Lächeln – und dann die Trauer der Millionen als er starb. Was alles mußte passieren, daß sein Wort verhallte, seine Lehre scheiterte ... Gorbatschow, Jelzin, und die neuen Oligarchien, oben die Reichen, unten die Armen – totale Umkehrung aller Ziele Lenins, der hier im Berliner Zeughaus noch einmal auferstand, so wie er war, zu seinen Lebzeiten ...
Erschienen in Ossietzky 5/2012 |
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