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Dabei ist der Kurzzeitpräsident unter den hochgestellten Lügnern nur ein kleines Licht. An die meisten Wahrheitsvergewaltiger, mit denen sich zum Beispiel Dieter Hildebrandt auf seiner Audio-CD »Politiker-Märchen. Die schönsten Lügen aus 60 Jahren Bundesrepublik« befaßt, reichte er nicht heran. Was sind schon sein Umschiffen der Wahrheit, seine Halbwahrheiten und Ausflüchte im Vergleich zu den faustdicken Lügen von Konrad Adenauer, Franz Josef Strauß, Hans Filbinger, Uwe Barschel, Helmut Kohl, Roland Koch und anderen? Ihre Fälle zeigten, wie an höchster Stelle mit der Wahrheit umgegangen werden konnte und wie rasch sich öffentlicher Lärm, Erregung und Entrüstung legten. Warum also in der »Causa Wulff« das endlose Dauerspektakel in vielen kleinen Enthüllungsakten? Gab es für den Vorreiter Bild und die ihm nachfolgenden Medien über Monate kein wichtigeres Spitzenthema? Sollte gar abgelenkt werden von dem rapiden Wachstum der Staatsverschuldung und den sozialen Folgen der Finanzkrise oder vom Debakel des Krieges am Hindukusch und der Vorbereitung von Feldzügen gegen Syrien und den Iran? Und wenn dem nun aus dem Amt gejagten Bundespräsidenten schon am Zeug geflickt werden sollte, warum dann nur wegen seiner anrüchigen Unternehmer-Freundschaften, der ungewöhnlich günstigen Kredite für sein Privathaus, der umstrittenen Upgrades in Flugzeugen oder der Presse-Drohungen? Da hätte es näher gelegen, ihn wegen seiner amtlich vorgetragenen Unwahrheiten, seiner sinnentleerten Schaumschlägereien anzuklagen. Aber das hat in der ganzen Skandalgeschichte niemand gemacht, obwohl er gerade in seinen staatsmännischen Reden einiges geboten hat. Wer hat sich denn erregt, als der sogenannte erste Mann im Staate ausgerechnet dem bei Arbeitslosigkeit, Niedriglohn und Bevölkerungsschwund eine Spitzenposition einnehmenden Sachsen-Anhalt eine »zwanzigjährige Erfolgsgeschichte« und eine »atemberaubende Entwicklung« bescheinigte? Wer hat ihn der Lüge und Irreführung der öffentlichen Meinung beschuldigt, als er die Spitzenvertreter des Bundesverbandes der Deutschen Industrie für ihr »engagiertes Eintreten ... für das Wohlergehen ... ihrer Mitarbeiter«, das »vorbildliche Miteinander der Sozialpartner«, die »funktionierende Sozialpartnerschaft« lobte und für den »sozialen Zusammenhalt ... zwischen Arm und Reich« eintrat? War in den meinungsmachenden Medien jemals eine kritische Stimme zu hören, als er wiederholt die »unbefriedigende Aufarbeitung des DDR-Unrechts« beklagte und forderte, »die Erinnerung an die Schrecken von Diktatur und Gewaltherrschaft wach(zu)halten«? Im Vergleich zur skandalösen Tatsache, daß Wulff 2011 von einem Berliner Autohändler ein Bobbycar für seinen Sohn geschenkt bekam und der Händler zum Dank eine Einladung zum Sommerfest des Präsidenten erhielt, waren das anscheinend politische Bagatellen, die einer Erwähnung nicht wert waren. Dagegen hat man ihn mit Freude und Zustimmung zitiert, wenn er, der Edeldemokrat, das faschistische »Dritte Reich« und die DDR auf eine Stufe stellte: »Die Erinnerung an beide Unrechtsregime, die unser Land im vergangenen Jahrhundert erlebt hat, ist uns Mahnung und Verpflichtung. Der Einsatz für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat muß die Maxime deutscher Politik sein – weltweit.« Außerdem: Was ist die Schwindelhuberei des Ex-Bundespräsidenten im Vergleich zu den unvergessenen und unverzeihlichen Lügen, mit denen Gerhard Schröder, Rudolf Scharping und Joseph Fischer Jugoslawien überzogen und die Bundesrepublik 1999 in eine Aggression, in den ersten Krieg in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges führten? Auch heutzutage gibt es Halbwahrheiten und Lügen, die medial keine oder nur geringe Aufmerksamkeit finden. Die Kanzlerin und ihre Minister Ursula von der Leyen und Philipp Rösler sonnen sich im Lichte eines »Jobwunders«, das in Wahrheit keines ist, denn zu den angeblich »nur« rund drei Millionen Arbeitslosen werden die rund fünf Millionen Deutschen, die nur einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen können, die eine Million unterbezahlten Leiharbeiter, die Hunderttausenden Beschäftigungslosen, die mit meist sinnlosen Qualifizierungsmaßnahmen drangsaliert werden, die nicht vermittelbaren Arbeitslosen über 58 Jahren nicht hinzugerechnet. Verschwiegen wird in der Regel, daß von 41,6 Millionen Erwerbstätigen lediglich 28 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Auch der Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CDU) steht mit der Wahrheit zuweilen auf Kriegsfuß. Allen Tatsachen zum Trotz behauptete er, daß die Bundestagsabgeordneten der Linkspartei nur anhand ihrer öffentlichen Reden und Schriften vom Verfassungsschutz beobachtet würden und eine Überwachung mit geheimdienstlichen Mitteln nicht stattfinde. Wo blieb da der Aufschrei der wachsamen Medien, die, wie der Fall Wulff zeigt, immer zur Stelle sind, wenn es gilt, Lügner anzuprangern und die Wahrheit zu verteidigen? Die NPD kann angeblich nicht verboten werden, weil vorher die V-Leute des Inlandgeheimdienstes abgezogen werden müßten. So sind die gekauften Agenten des Verfassungsschutzes zu Schutzengeln der neofaschistischen Partei geworden. Vergessen gemacht wird die Erklärung der Bundesrepublik bei ihrer Aufnahme in die UNO, daß das Verbot neonazistischer Organisationen ausdrücklich im Grundgesetz (Artikel 139) verankert ist. Das bewußte Verschweigen von Tatsachen ist auch eine Lüge. Wen kümmert das schon? Wir hatten doch den Wulff, der machte uns ganz andere Sorgen. Und jetzt, da er von der politischen Bühne abgetreten ist, wird unseren systemtreuen Medien- und Politikberatern ganz gewiß etwas Neues einfallen, um das Volk hinters Licht zu führen. Oder sollte etwa Abraham Lincoln letztlich doch Recht behalten, der vor mehr als eineinhalb Jahrhunderten meinte: »Man kann einen Teil des Volkes die ganze Zeit täuschen und das ganze Volk einen Teil der Zeit. Aber man kann nicht das gesamte Volk die ganze Zeit täuschen.« 1865 wurde er erschossen. In Kürze wird wieder ein Umzugswagen zum Schloß Bellevue fahren. Nicht wenige schätzen den neuen Mieter so sehr, daß sie sich sogar den Vormieter zurückwünschen. So viel zum »Präsidenten der Herzen«.
Erschienen in Ossietzky 5/2012 |
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