Gruß nach vorn

Fabian Wolf

Im Oktober 2011 nahmen Schüler der Kurt-Tucholsky-Oberschule Pankow mit eigenen Arbeiten an der Tagung der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft teil (s. Ossietzky 23/11). Fabian Wolf, Schüler der 13. Klasse, trug nach dem Vorbild »Gruß nach vorn« von Kaspar Hauser (s. Die Weltbühne, 14/26, S. 555) den nachfolgend abgedruckten Text vor, auf den uns Brigitte Rothert-Tucholsky aufmerksam machte:

Halt! Mach die Website nicht wieder zu. Ja, ich meine dich! Du wunderst dich, schaust auf die Seite, siehst das Datum: 14. September 2011. Ein Datum, das bei dir Assoziationen mit Staub, mit »Uralt-Technik« und Benzinmotoren weckt. Dein Opa hat dir von dieser Zeit erzählt, als du noch klein warst, zugehört hast du ihm nicht. Hast den Alten brabbeln lassen. Ich will es dir nicht verübeln, ich war genauso. Wer hört denn schon auf diese Fossilien? Wenn du jetzt, im Jahre 2070, diesen Text liest, bin ich selber ein Fossil. Würde ich dir auf der Straße begegnen, du sähest mich mitleidig, vielleicht auch abschätzig an und hofftest, ich möge dich nicht ansprechen und dir gar von meiner »guten alten Zeit« erzählen. Aber verdränge das Bild des Greises wieder, stell dir mich so vor, wie du gerade bist, vielleicht sogar noch jünger: chaotisch, auf das Hier und Jetzt fixiert, voller Träume und Ideen. In einer Achterbahnfahrt der Gefühle gefangen, unsicher, aber offen für Neues, voll von dem sprichwörtlichen Feuer der Jugend. Voll von Visionen einer besseren Zukunft, deiner Gegenwart.

Stell dir die Welt vor, in der ich lebe: Die USA werden von einem der größten Hoffnungsträger meiner Zeit regiert, dem ersten schwarzen Präsidenten, Barack Obama. Doch der Freudentaumel des Wahlsiegs ist dem rauhen Alltag einer bankrotten Weltmacht gewichen. In Afrika verhungern ganze Dörfer, doch wir vernichten Brot, um den Preis hoch zu halten. Atomwaffen lagern überall, doch Demonstrationen dagegen werden als »Hippie-Zeug« abgetan. Zu deiner Information: Hippies waren junge Leute mit Visionen in den Sechzigern des 20. Jahrhunderts. Klimakatastrophen sind irgendwo anders, nur – zum Glück – nicht bei uns. Wie die kleinen Kinder denken wir, wenn wir die Augen zudrücken, ist alles um uns herum nicht mehr da. Ja, das ist meine Welt.

Deine Welt sieht ganz anders aus ... oder?

Obama ist garantiert längst tot ..., gibt es denn einen neuen amerikanischen Messias? Afrika hungert sicher immer noch, oder habt ihr das Problem etwa gelöst? Über unseren Umgang mit der Umwelt schimpft ihr zurecht, schließlich müßt ihr mit den Folgen leben.

Tsunamis, die bei uns Spendenwellen auslösten, sind bei euch längst Alltag, aber ihr baut eure Städte vermutlich eh seit Jahren schon tsunamisicher. Die Luftverschmutzung ist so hoch, daß man mancherorts Atemgeräte braucht, und gesunde Fische kriegt man nur noch aus der Zucht. Oder ist vielleicht alles ganz anders?

Das, was für dich Geschichte gewesen sein wird, ist mein Leben im Heute. Vielleicht haben wir schon einmal im Museum nebeneinander gestanden. Ich sah mir das erste Auto an, du sahst da nur ein veraltetes, umweltschädliches Transportmittel. Das, was für uns Hightech war, ist für euch nur noch Schrott. Tablet-PCs sind bei uns zur Zeit der Renner schlechthin, die absolute Spitze der Technik.

Ich bin sicher, Du lächelst. Und mit diesem Lächeln will ich dich entlassen. Der junge alte Träumer hat gesprochen. Ich hoffe, du wirst selbst auch mal so einer. Erinnere dich!

Erschienen in Ossietzky 4/2012