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Die Gesellschaft ist durch vormoderne Clanstrukturen geprägt; die verschiedenen Stämme wurden durch eine übergestülpte Staatsbürokratie, durch Militär und Geheimdienst und nicht zuletzt durch die Verteilung der Einnahmen aus dem Erdölverkauf mehr notdürftig zusammengehalten. Ein nicht abstreitbares Verdienst der libyschen Revolution von 1969 war es, in diesen rückständigen Wüstenregionen einen Prozeß der Modernisierung in Gang gesetzt zu haben. Dank der Verstaatlichung ausländischer Ölkonzerne und der in den 1970er Jahren explodierenden Weltmarktpreise für Rohöl wurde Libyen reich. Und dieser Reichtum floß nicht in die Taschen einer korrupten Oberschicht, sondern wurde primär zum Aufbau einer modernen Infrastruktur und eines für afrikanische Verhältnisse vorbildlichen Sozialstaates verwendet. Eine Überwindung der Stammesstrukturen und nachhaltige Modernisierung der Gesellschaft gelang allerdings nicht. Libyen blieb als politisches Gebilde instabil; die Revolutionsführung war ständig gezwungen, zwischen den unterschiedlichen Stammes- und Regionalinteressen zu lavieren. Ebenso blieb Libyen wirtschaftlich auf Erdölexporte nach Westeuropa angewiesen. Solange die Öleinkünfte stabil flossen, war dies kein Problem, aber mit dem Verfall der Preise für Rohöl in den 1990er Jahren geriet Libyen in eine Finanzkrise. Wahrscheinlich war diese Krise Auslöser für einen etwa auf das Jahr 2001 anzusetzenden Frontwechsel Libyens. Die sich als »sozialistisch« bezeichnende und betont antiimperialistisch agierende Revolutionsführung begann auf militärischer und Geheimdienstebene mit westlichen Staaten zu kooperieren. Eine neoliberale Umstrukturierung der Wirtschaft wurde in die Wege geleitet, staatseigene Betriebe privatisiert, Hunderttausende Angestellte vorzeitig pensioniert oder in die freie Wirtschaft entlassen. Die strukturellen Probleme Libyens wurden durch die politische und wirtschaftliche Umorientierung jedoch keinesfalls beseitigt, sondern eher verstärkt. Westliche Investoren schufen kaum Arbeitsplätze für Libyer, sondern brachten ihre Spezialisten selbst mit und nahmen für schlechtbezahlte Hilfsarbeiten vorzugsweise Arbeitsmigranten aus den Staaten der Zentralsahara (was dem ohnehin in der libyschen Stammesgesellschaft tief verwurzelten Rassismus gegenüber Schwarzafrikanern neue Nahrung gab). Vor allem die Jugendarbeitslosigkeit stieg rapide an, betrug zuletzt 40 bis 50 Prozent. Es wuchs eine ganze Generation heran, die zwar nicht hungerte, aber keinerlei Perspektive für sich sah. Der Zusammenbruch des Regimes erfolgte schrittweise. Als die Welle von Jugendprotesten auch auf Libyen überschwappte, reagierten Polizei und Geheimdienst in gewohnter Manier. Die mit der Herrschaft Gaddafis unzufriedenen Stämme der Cyrenaika nutzten die günstige Gelegenheit zu einer bewaffneten Revolte gegen die Zentralgewalt. In der eilig installierten provisorischen Übergangsregierung hatten dann allerdings übergelaufene Funktionäre des Gaddafi-Regimes das Sagen. Letztere nutzten offensichtlich die günstige Gelegenheit, ihre Widersacher im Staatsapparat loszuwerden und die vom Regime zwar zugesagte, aber nur teilweise umgesetzte Privatisierung der Wirtschaft zu erzwingen. Der Aufstand gegen Gaddafi war also tatsächlich ein Konglomerat aus Sozialprotest, regionaler Stammesrevolte und dem Putsch einer neoliberal gesonnenen Funktionärsschicht. Es war keinesfalls, wie vom Westen behauptetet, ein »demokratischer Aufbruch«, schon weil die Mehrzahl seiner Akteure alles andere als Demokraten waren. Durch Unterstützung des Westens für die in Bengasi residierende Übergangsregierung war der Machtwechsel letztlich vorprogrammiert. Infolge Sperrung sämtlicher Auslandskonten konnte Gaddafi weder seine Truppen besolden noch aus dem Ausland militärischen Nachschub beziehen. Daß die bewaffneten Auseinandersetzungen dennoch Monate dauerten und es des massiven Einsatzes ausländischer Truppen bedurfte, die letzten Hochburgen des Regimes niederzukämpfen, beweist, daß die Übergangsregierung außerhalb der Cyrenaika über keine nennenswerte Verankerung verfügte. Tatsächlich ließen die meisten Stämme Westlibyens Gaddafi erst fallen, als die aufständischen Milizen und ihre westlichen Verbündeten schon in den Vororten von Tripolis standen. Mit der Tötung Gaddafis ist der Krieg keineswegs beendet. Die gegenwärtig tobenden Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Milizverbänden hatten bereits während des Kampfes mit den Gaddafi-Truppen begonnen. Jeder dieser zusammengewürfelten Haufen von Stammeskriegern und islamistischen Untergrundkämpfern versucht, sich aus der Konkursmasse des alten Regimes einen möglichst großen Happen zu sichern. Die von nackter Raubsucht diktierten Interessen ehemals aufständischer Milizen sind mit denen neoliberal gesonnener Technokraten natürlich nicht in Einklang zu bringen. Und für die unter Gaddafi weitgehend perspektivlose Jugend wird es nach Zerschlagung der Reste des libyschen Wohlfahrtsstaates wohl erst recht sozial prekär werden. Dem mit westlicher Hilfe installierten neuen Regime fehlt somit jede Basis. Als Menetekel könnten sich die Ereignisse des 22. Januar in der Stadt Bengasi erweisen: Aus einer Demonstration für die Einführung des islamischen Rechtssystems Scharia heraus stürmten mehrere Hundert Bewaffnete den Sitz der Übergangsregierung, um gegen das gerade beschlossene Wahlsystem zu protestieren. Die Autorität der Übergangsregierung dürfte seitdem gegen Null tendieren. Sehr wahrscheinlich sind ein langer Bürgerkrieg, Staatszerfall und nachfolgende Besetzung durch westliche Truppen. Kolonialismus reload. Gerd Bedszent ist einer der Autoren des vor kurzem erschienenen Sammelbandes Fritz Edlinger (Hg.): »Libyen: Hintergründe, Analysen, Berichte«, Promedia-Verlag, 207 Seiten., 15,90 €
Erschienen in Ossietzky 4/2012 |
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