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Bundesbürger hatten bis dahin so gut wie nichts von der langen Blutspur erfahren, die die deutschen Truppen zwischen dem 8. September 1943 und dem 25. April 1945 in den Dörfern und Städten Italiens hinterließen. In mehr als 400 Massakern ermordeten sie 15.000 Zivilisten. Wer weiß es heute, wer will es wissen? Die deutsche Presse registrierte dieser Tage mit überwiegender Genugtuung, daß der Internationale Gerichtshof in Den Haag der Bundesrepublik am 3. Februar die »Staatenimmunität« zugesichert hat, die sie nun im Besonderen schützen soll vor allen Forderungen ziviler Opfer der deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, soweit es solche nach fast 70 Jahren überhaupt noch gibt. Die Geschichte ist lang. Festgehalten sei nur, daß – in Ermangelung eines Friedensvertrages, dem sich Deutschland konsequent entzogen hat – bis zum Ende des Kalten Krieges aus durchsichtigen politischen Gründen solche Forderungen aus dem Ausland de facto unterblieben. Die im atlantischen Kontext wiederaufgerüstete BRD sollte nicht mit solchen Hypotheken belastet werden. Die antifaschistischen Energien der ersten Stunde waren von den christdemokratischen Regierungen in Bonn wie in Rom rasch in einen antikommunistischen Grundkonsens umgeleitet worden. Die italienische Regierung wurde 1960 mit einer Zahlung von sage und schreibe 40 Millionen DM abgefunden! Ein Schrank im römischen Palazzo Cesi, dem Sitz der Militärjustiz, in dem die von den Alliierten in erster Stunde ermittelten Erkenntnisse von 695 Verbrechen (in 280 Fällen gegen »unbekannt«, aber in 415 gegen namentlich benannte Täter) gestapelt waren, wurde einfach mit den Türen zur Wand gedreht – bis 1994 jemand diesen »Schrank der Schande« (»L’armadio della vergogna«, Buch von Franco Giustolisi, der als erster darüber berichtete) von der Wand abrückte und öffnete. Bis dahin hatten nur Orte wie Marzabotto oder die Fosse Ardeatine in Rom traurige internationale Berühmtheit erlangt, nur wenige Verantwortliche wie Herbert Kappler oder Walter Reeder waren in Italien zu Haftstrafen verurteilt worden. Eine lange Liste des englischen Geheimdienstes über »Atrocities in Italy«, versehen mit dem Stempel »secret«, kam zutage, und die daraus folgende komplexe politische Debatte Mitte der 1990er Jahre über die politische Verantwortung für die Unterschlagung der Akten durch die italienische Militärjustiz brachte auch Verbrechen in den besetzten Ländern wie Albanien, Griechenland und Jugoslawien ins Gespräch. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß konnte sich schließlich nicht auf einen einheitlichen Schlußbericht einigen; zwei Resümees räumten ein, zwar könne man keinen »Befehl« und auch keine direkte Einmischung der Geheimdienste im Nachkriegsitalien nachweisen, wohl aber sei eine Rücksichtnahme auf die »Staatsräson« anzunehmen. Daß mit dem römischen Schweigen auch der Gedanke an eine Straffreiheit italienischer Faschisten und ihrer Verbrechen in den besetzten Ländern verbunden war, liegt auf der Hand, denn von der faschistischen zur nachfolgenden Justiz zogen sich in Italien wie in der Bundesrepublik viele Kontinuitäten. Erst ab 1995 konnten also Ermittlungen in etwa 20 Fällen auf lokaler Ebene überhaupt aufgenommen werden, mit allen Schwierigkeiten nach 50 Jahren; wenige führten zu Verurteilungen, und nur drei Täter kamen in Haft: Karl Hass und Erich Priebke (der einzige heute noch Lebende verbringt den Hausarrest bei seinem römischen Anwalt) sowie der kürzlich verstorbene Michael M. Seifert, verantwortlich für die Verbrechen im Arbeitslager Fossoli bei Bozen. Zur Zeit laufen noch weitere Prozesse: unter anderem gegen die drei Mörder der 184 Bewohner des Dorfes Padule di Fucecchio, gegen die Verantwortlichen der Massenerschießungen in Vallucciole und anderen Appennindörfern in der Toskana und Emilia; ein Verfahren gegen die Mörder von 348 Menschen bei Fivizzano befindet sich in der letzten Instanz. Der römische Militär-Staatsanwalt Marco De Paolis kommentierte das Haager Urteil mit den Worten: »Die Entscheidung ist enttäuschend, kann aber Anlaß sein, unsere Forderung zu erneuern, daß die in Italien rechtskräftig verurteilten Nazi-Verbrecher, die unbehelligt in Deutschland leben, endlich ihrer Strafe zugeführt werden.« 2004 erging erstmals ein höchstrichterliches italienisches Urteil zugunsten eines der 600.000 Militärangehörigen, die nach dem 8. September 1943 ins Deutsche Reich deportiert worden waren und denen damals wie heute nicht der Status von Kriegsgefangenen zugebilligt wurde; so umging man die Genfer Konventionen. Luigi Ferrini verschwand damals als Arbeitssklave in der unterirdischen Munitionsfabrik des Lagers Kahla in Thüringen. Das Gericht forderte neben Entschädigung vor allem eine Anerkennung des erlittenen Verbrechens. Es befand, daß im Falle schwerer Verstöße gegen die Menschenrechte die Staatenimmunität schweigen müsse. Auch im Urteil des höchsten italienischen Gerichtes, das im Oktober 2008 gegen die Verantwortlichen der Massaker von Civitella, Cornia und S. Pancrazio bei Arezzo erging, wurde erstmals ein Anspruch auf Entschädigung der Opfer beziehungsweise ihrer Nachfahren anerkannt, ebenso in einem Urteil, das in Griechenland zugunsten der Nachkommen der 144 Ermordeten von Distomo gefällt wurde. Angesichts dieser Urteile sah man in den Berliner Regierungen, egal ob von Schröder oder Merkel angeführt, wohl die Spitze eines Eisbergs auftauchen, den man längst verschollen hoffte. Deutschland bemühte das Internationale Tribunal in Den Haag, um sich das Recht auf Immunität vor Klagen einzelner Staatsbürger aus dem Ausland bestätigen zu lassen. Und hatte Erfolg. Das Urteil, das eine lange Tradition deutscher Unrechtsprechung fortführt, steht in eklatantem Widerspruch zu den im globalen Kontext gewachsenen Bemühungen, Staatsgrenzen zu lockern, internationales Recht, Menschenrechte und Ansprüche von Staatsbürgern zu stärken. Ganz abgesehen von der Tatsache, daß es gerade die Bundesrepublik Deutschland ist, die mit ökonomischer Macht heute die Aufhebung der Souveränität eines Staates wie Griechenland verlangt. Angesichts solch offensichtlicher Diskrepanzen darf sich niemand wundern, wenn im südlichen Ausland, wo der europäische Demokratie-Lack rasch abblättert, wieder ein abstoßendes Bild deutscher Arroganz und Macht entsteht. Die Berlusconi-Regierung hatte sich bereits so willfährig gezeigt, die Vollstreckung der in Italien gefällten Urteile durch ein Dekret zu unterbinden (s. »Schikane auf Rädern«, Ossietzky 12/10). Das jetzige Haager Urteil greift nun indirekt in die italienische Justiz ein, denn die rechtskräftigen Urteile des Kassationsgerichtes sollen in irgendeiner Form ausgesetzt werden – ein heikles Unterfangen für die Monti-Regierung; deren Außenminister Giulio Terzi das Haager Urteil untertänig als »nützliche Klärung« kommentierte. Danilo Zolo, Experte für internationales Recht, wies hingegen darauf hin, daß der Haager Gerichtshof laut Artikel 96 der UNO-Charta nur Empfehlungen geben, aber keine bindenden Entscheidungen gegen einen Staat fällen könne, der nicht zuvor die Autorität des Gerichtes in der Sache als bindend anerkannt habe. Ob man von Monti erwarten kann, daß er Kanzlerin Merkel bei ihrem nächsten Treffen auf die Gefahren für die Zukunft der Menschenrechte anspricht, die sich aus der deutschen de facto-Verneinung des »Menschenrechtes auf Leben« ergeben?
Erschienen in Ossietzky 4/2012 |
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