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Er hatte einen Brief an den Rektor der Humboldt-Universität zu Berlin (HUB) »betreffs meiner Rehabilitierung« geschrieben; der Eingangsstempel besagte, daß das Schreiben bereits sechs Monate deponiert war. Als Angehöriger der Theologischen Fakultät war ich seit den 1980er Jahren Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg. Damals sprach mich der Bauer Alfred Böhme aus Letschin/Oderbruch an, ob ich den Juristen Hermann Klenner kenne. Der sei nämlich keineswegs freiwillig, sondern von höchster Stelle der DDR »strafversetzt« von 1958 bis 1960 bei ihnen Bürgermeister gewesen. Seine politische, aber mehr noch seine menschliche Kompetenz habe die Dorfbewohner zunächst verblüfft, dann begeistert. Selbst die Konservativsten hätten den überzeugten Marxisten und seine Familie schätzen gelernt. Und als eine Gruppe Theologiestudenten der HUB im Dorf ihren Ernteeinsatz ableistete, habe sich dieser ungewöhnliche Bürgermeister viel Zeit zu ausführlichen, durchaus kontroversen Diskussionen genommen. Und die Studenten hätten Klenners umfassende Literatur-, Philosophie- und sogar Bibelkenntnisse ehrlich bewundert. Das alles fiel mir nach so vielen Jahren angesichts dieses »unerledigten« Briefes wieder ein. Aber den wirklichen Grund für die damalige so drastische Disziplinierung eines Hochschullehrers hatte ich leider nie erfragt. Und dafür wußte ich jetzt keine Entschuldigung. Am Runden Tisch der HUB waren schon in den ersten Sitzungen zum Thema »Unrecht der DDR-Regierung gegenüber Wissenschaftlern« spontan Namen wie Robert Havemann, Rudolf Bahro und Wolfgang Harich genannt worden. Warum hatten die Juristen den Namen Hermann Klenner nicht gleich auf die Liste der zu Rehabilitierenden gesetzt? Nun hatte er – ohne Bitterkeit – mit seiner Bitte den Runden Tisch wie auch den Akademischen Senat in die Pflicht genommen. Er selbst war 1990 monatelang Vorsitzender des Runden Tisches in der Akademie der Wissenschaft gewesen. Am nächsten Tag schon gab ich der neugewählten Dekanin der Juristen, Rosemarie Will, den Brief und verabredete kurzfristig ein Gespräch, an dem auch Prorektor Dieter Klein teilnahm. Daraufhin forderte die Dekanin bereits in ihrer Antrittsrede, daß Hermann Klenner unverzüglich zu rehabilitieren sei. Der damalige DDR-Minister für Hoch- und Fachschulwesen, Hans-Joachim Meyer (CDU), sorgte sofort für die Berufung Klenners, der mit dem Fach Rechtsphilosophie, konkret: Geschichte der Rechtsphilosophie beauftragt wurde. Was aber war 1958 geschehen? Weshalb fand damals die Babelsberger Konferenz in der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften Walter Ulbricht statt? Klenner hat das in seinem Brief ausführlich beschrieben: Magnifizenz! Ich wende mich an Sie in folgender Angelegenheit: Ich war von 1951 bis 1958 als Dozent bzw. seit 1956 als Professor an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität beschäftigt. Im Ergebnis falscher Anschuldigungen, politischer Verdächtigungen und persönlicher Hinterhältigkeiten wurde ich durch einen Brief Ihres Vorgängers im Amt, Prof. Dr. Hartke, vom 1. April 1958 auf Antrag der Juristischen Fakultät mit sofortiger Wirkung von der Ausübung der Dienstgeschäfte und allen Funktionen beurlaubt. Diese Beurlaubung ist in einem weiteren Brief vom 3. Juli 1958, wiederum von Prof. Hartke, aufgehoben, freilich mit dem Hinweis, daß ich mir eine andere Arbeit suchen möge, da die Universität das Arbeitsverhältnis mit mir mit Beginn des neuen Studienjahres auflösen werde. Ich habe dann, politisch gezwungen, tatsächlich als Professor eine Dorfbürgermeisterstelle im Oderbruch angenommen. Die rechtlichen Verhältnisse zwischen der Universität und mir sind nie geordnet gewesen und die ursprünglichen Versprechungen, daß ich nach meiner Bürgermeisterei wieder an die Fakultät zurückkehren könne, nicht eingehalten worden. Das Ansinnen des damaligen Dekans, selber zu kündigen, habe ich abgelehnt und die geforderte Rückzahlung eines Halbmonatsgehaltes erst recht. Daß ich damals nicht den Weg über die offenstehende Grenze in die BRD gewählt habe, entsprach meiner grundsätzlichen Auffassung als Marxist ... Zehn Jahre später, ich war inzwischen als Professor an der Akademie der Wissenschaften beschäftigt, wurde ich vom damaligen Rektor, Prof. Dr. Würzberger, gebeten, an der Juristischen Fakultät eine Gastprofessur zu übernehmen. Ich habe daraufhin die Vorlesung »Einführung in die Rechtswissenschaft« begonnen zu halten. Und wiederum wurde ich im Ergebnis politischer Verdächtigungen zum Rektor bestellt, der mir mitteilte, daß er die in seinem Besitz befindliche Bestallungsurkunde als Gastprofessor mir nicht aushändigen werde, was ich wohl verstehen würde. Ich habe ihm erklärt, daß ich Marxist sei, er hingegen nicht, und ich ließe mir von einem Nichtmarxisten nicht vormachen, wie sich ein Marxist verhalten soll. Die Vorlesung habe ich nicht weiter gehalten. Magnifizenz! Ich bitte, mein Schreiben nicht etwa dahingehend mißzuverstehen, daß ich wieder an der Juristischen Fakultät (oder Sektion, wie es jetzt heißt) beschäftigt werden wollte. Obschon ich ein leidenschaftlicher Hochschullehrer war und die im Leipziger Reclam-Verlag von mir 1985 herausgegebenen Schriften Wilhelm von Humboldts (»Individuum und Staatsgewalt«) den »juristischen Studentenjahrgängen 1951–1958 an Berlins Humboldt-Universität« gewidmet habe, ist für mich dieses Kapitel insoweit abgeschlossen. Was ich wissenschaftlich bin, hat leider mit der Humboldt-Universität nichts mehr zu tun. Ich bin inzwischen Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, deren Nationalpreisträger und Ehrenpräsident der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie. [...] Mir ist klar, daß mein Fall geringfügig ist gemessen an anderen Fällen von Wissenschaftlern, die ja teilweise in Haftanstalten unserer Republik gelitten haben, obschon sie weiß Gott bessere Sozialisten waren als die angeblichen Sozialisten in Amt und Würden. Nichtsdestoweniger bin ich es meinem Ruf und dem Ruf der Humboldt-Universität schuldig, darauf zu bestehen, daß die mir gegenüber verübten Ungerechtigkeiten und Ungesetzlichkeiten in einer von der Universität zu bestimmenden Weise wenigstens nachträglich aufgehoben werden. Mit sozialistischem Gruß H. Klenner Ausgelöst war Ende der 1950er Jahre das veränderte »Nachdenken über den Stellenwert des Rechtes in der Gesellschaft und die Rechte ihrer Bürger vor allem durch die zwei Jahre zuvor vom XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wenigstens teilweise offengelegten, wenn auch nicht auf ihre Ursachen hin analysierten Verbrechen stalinistischer Gewaltherrschaft in der Sowjetunion.« (Klenner in UTOPIEkreativ 174, S. 292) »Das Recht immer nur als ein Mittel, nie aber auch als ein Maß von der und für die Staatsmacht zu begreifen, reduziert es in der Theorie auf seine Instrumentalität und protegiert in der Praxis bürgerrechtswidrige, undemokratische wie unsozialistische Verhaltensweisen des Staates.« (ebenda S. 302) Solche Stimmen hatte Walter Ulbricht, der einzige Referent auf der Babelsberger Konferenz, 1958 als bürgerliche Ideologie hart kritisiert und führende Rechtswissenschaftler wie Uwe-Jens Heuer, Bernhard Gräfrath und Hermann Klenner bezichtigt, »ideologischen Wirrwarr« zu verbreiten. Die zu Reglementierenden waren gar nicht mehr zur Konferenz eingeladen. Die Inquisition war schon beschlossen, wozu dann noch Diskussion? Klenner schreibt weiter dazu: »Statt auf Erfahrungen und Ursachenanalyse, auf Dialog und Meinungsstreit zu orientieren, hatte [die Babelsberger Konferenz; H.F.] eine auf autoritären Strukturen basierende, also eine auf Unproduktivität angelegte Staats- und Rechtswissenschaft etabliert, ... so sind die Ursachen vorangegangener Fehlentwicklungen zugedeckt und daher diese reproduziert worden. Erkenntnisfortschritt musste erschlichen werden.« (a. a O., S. 302). Der akademische Senat, die Studentenvertretung und die in Gremien und der Studentenzeitung Unaufgefordert Engagierten mußten aber langsam im schnellen Einigungsprozeß lernen, daß Ereignisse wie diese für die DDR folgenschwere Babelsberger Konferenz der »wahre Charakter« des Sozialismus und nicht wie die damals politisch und wissenschaftlich entmündigten Wissenschaftler sagten, eine fatale Parodie auf den Sozialismus gewesen seien. Ein akademischer Disput über die Bedeutung der juristischen Kritiker im Sozialismus wurde leider nur im Kontext der jüngsten Erfahrungen von den Bürgerrechtlern der Wende zugelassen. »Demokratischer Sozialismus« war als jahrzehntelang gebrauchtes Kriterium der Kritik an der DDR nicht erwünscht. Die bürgerliche Demokratie war nun der einzig gültige Trigonometrische Punkt zur bewertenden Vermessung des gescheiterten kontroversen Versuches in einer deutschen sozialistischen Gesellschaft, zum Beispiel auch sozialistisches Recht zu praktizieren. Hermann Klenner hat nicht nur an der HUB wieder gelehrt und unermüdlich in der Öffentlichkeit argumentiert, sondern er hat auch ständig seine Überzeugung kenntnisreich zu Papier gebracht. Über 500 Titel tragen seinen Namen. Vielleicht ist sein Buch, das viel konkreter ist als der Titel »Historisierende Rechtsphilosophie« vermuten läßt, der Beweis dafür, daß Erkenntnisfortschritt nicht mehr »erschlichen« werden muß, sondern lesend erworben werden kann. Darum bleibt: »Lernen, lernen und nochmals lernen« wohl ein politisch nützlicher Rat von einem ebenso unbeirrbaren wie kritischen Marxisten. (Hermann Klenner: »Historisierende Rechtsphilosophie«, Rudolf Haufe Verlag) Heinrich Finks Artikelserie über die Wendezeit an der Humboldt-Universität, begonnen in Heft 2/11, wird fortgesetzt.
Erschienen in Ossietzky 3/2012 |
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