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Ersten Schätzungen zufolge haben ungefähr 50.000 Libyer die »Operation vereinigte Beschützer« nicht überlebt. Mit der Liquidierung des alten Feindes und der Beseitigung des von ihm geschaffenen Systems der Dschamahirija (»Volksherrschaft«) hat das Kriegsbündnis sich jedoch den Weg zu den libyschen Ressourcen freigeräumt. Ohne Einhaltung einer Schamfrist haben Politiker und Medien der beteiligten Länder sogleich Ansprüche an den zukünftigen Öl- und sonstigen Geschäften angemeldet. Der Anteil daran müsse sich selbstverständlich nach dem Anteil am Krieg richten, tönte es aus England und Frankreich. Der »Nationale Übergangsrat«, die unter der Ägide von Paris, London und Washington gebildete Führung der Aufständischen, hat Frankreich bereits Anfang April den Zugriff auf ein Drittel des libyschen Öls zugesichert. Den Startschuß für die britischen Firmen hat, wie die Zeitung Guardian berichtete, der britische Militärminister Philip Hammond abgefeuert, indem er sie drängte »ihre Koffer zu packen«, nach Libyen zu eilen und sich Wiederaufbau-Aufträge zu sichern. »Libyen ist ein relativ wohlhabendes Land mit Ölreserven, und ich erwarte, daß es Möglichkeiten für britische und andere Konzerne gibt, sich am Wiederaufbau Libyens zu beteiligen«, so Hammond in einem BBC-Interview. Die 150 Milliarden Dollar Auslandsguthaben Libyens, die nun wieder freigegeben werden, bilden, so das Blatt, einen »ziemlich großen Topf«. Vermutlich ist der aufzuteilende Kuchen noch viel größer. Das britische Handelsministerium schätzt das gesamte Auftragsvolumen im kommenden Jahrzehnt, summiert über alle Bereiche – von der Ölförderung bis zu medizinischer Ausrüstung, Wohnungen und Erziehung –, auf umgerechnet 250 Milliarden Euro (Daily Mail). Libyen könnte eines der größten Wachstumsgebiete britischer Firmen werden, frohlocken englische Zeitungen. Der britische Handelsminister hat im Verein mit den Öl-Multis Shell und BP bereits entsprechende Verhandlungen aufgenommen, ihre französischen Pendants ebenfalls. Die Aktienwerte von Shell und BP gingen nach Gaddafis Tod in froher Erwartung der Anleger ordentlich in die Höhe. »Die NATO beendet möglicherweise ihre Operationen in Libyen, die Präsenz des Westens ist aber noch lange nicht zu Ende, wobei die großen Konzerne nun die Kampfflugzeuge ersetzen werden«, stellte die Londoner Journalistin Laura Smith sarkastisch fest (RT). »Die Länder, die den ölreichen Staat zusammengebombt haben, erhalten nun lukrative Aufträge, um ihn wieder aufzubauen.« Den offiziellen Angaben zufolge war dieser Krieg recht billig. Washington gibt seine Gesamtkosten mit rund zwei Milliarden Dollar an. Die Briten beziffern die Ausgaben für ihre 2.100 Luftangriffe auf Libyen, mit denen sie rund 900 Ziele zerstörten, auf nur 300 Millionen Pfund, also rund 350 Millionen Euro. Angesichts der relativ geringen Kosten erweise sich der Krieg für die britische Regierung als »exzellente Investition«, so der Malta Star. Berechnungen unabhängiger Experten zufolge betragen die tatsächlichen Kosten zwar das Fünf- bis Siebenfache. Doch auch dann wäre es aus dieser Sicht ein gutes Geschäft. Allerdings ist der Erfolg in Libyen noch lange nicht gesichert. Auch zwei Monate nach der Liquidierung Gaddafis herrscht im Land keine Ruhe. Der Nationale Übergangsrat wird zwar von den maßgeblichen Ländern als neue Führung Libyens anerkannt, hat das kriegszerstörte Land aber keineswegs unter Kontrolle. Neben dem anhaltendem Widerstand gaddafitreuer Gruppen und dem Unwillen der Mehrheit im Westen des Landes, sich den neuen Herren unterzuordnen, die ihnen NATO-Bomben und Zerstörung brachten, mangelt es ihm vor allem auch an Autorität, um sich gegen die verschiedenen Kräfte innerhalb der Anti-Gaddafi-Koalition durchzusetzen. Besonders die Rebellenmilizen sind keineswegs bereit, nun die Waffen abzugeben oder sich der Übergangsregierung unterzuordnen. Nahezu täglich liefern sich rivalisierende Einheiten Feuergefechte um Macht- und Einflußbereiche. Hinzu kommen massive Auseinandersetzungen zwischen säkularen pro-westlichen und den militärisch starken islamistischen Kräften. Erbittert ist besonders der Kampf um den internationalen Flughafen von Tripolis, der von Rebellenbrigaden aus Zintan kontrolliert wird. Die noch relativ schwache neue Armee unter dem Kommando des langjährigen CIA-Mannes Khalifa Heftar scheiterte mehrfach beim Versuch, ihnen die Kontrolle zu entreißen. Die Auseinandersetzung hat noch an Schärfe gewonnen, weil hier in Kürze laut Spiegel online fünf Frachtflugzeuge mit Bargeld eintreffen sollen. Der Wert der in Deutschland gedruckten Dinar-Scheine beträgt mehrere Milliarden Euro. Wer deren Transport vom Flughafen zur Zentralbank in der Innenstadt absichert, kann mit erheblichen Provisionen rechnen. Der Streit darum dürfte jedoch erst das Vorspiel viel intensiverer Auseinandersetzungen um die enormen Reichtümer des Landes sein. Nachdem die NATO-Staaten nun die zu Kriegsbeginn eingefrorenen Auslandsguthaben des libyschen Staates wieder freigeben, fallen 112 Milliarden Euro in die Verfügungsgewalt der zusammengewürfelten, durch nichts legitimierten neuen Führung des Landes. Was mit den bisher schon freigegebenen 18 Milliarden Dollar geschah, hat sich offenbar weitgehend der öffentlichen Kontrolle entzogen. Ein Mitarbeiter des Übergangsrates berichtete, daß es in seinem Ministerium kein einziges Schriftstück gebe, das den Verbleib der Gelder dokumentiere. Alles würde ausschließlich übers Telefon und in persönlichen Gesprächen abgewickelt. Insofern ist die Sorge vieler Experten, daß Libyen bald in Chaos und neuem Bürgerkrieg versinken könnte, nicht übertrieben. »Libyen als Staat ist verloren und wird immer weiter ins ökonomische und politische Chaos gleiten«, meint der russische Wissenschaftler Sergej Demidenko in Voice of Russia. Die Ermordung Gaddafis könnte der Anfang des totalen Zerfalls des Landes gewesen sein, befürchtet auch der Spiegel. Wenn die NATO-Staaten die Früchte ihres Krieges nicht verlieren wollen, werden sie nach Einschätzung vieler Experten um den Einsatz regulärer Bodentruppen, den »boots on the ground«, nicht herumkommen. Die Situation ähnelt der in Afghanistan im Januar 2002. Auch dort waren es einheimische Verbündete (die Nordallianz) und NATO-Spezialeinheiten, die mit Hilfe massiver Luftangriffe das Taliban-Regime stürzten. Und auch hier setzte man eine pro-westliche Regierung mit zweifelhafter Legitimation ein, die zwar international anerkannt wurde, im Land jedoch kaum Rückhalt hatte. Erst als sich abzeichnete, daß sich die neue Regierung angesichts rivalisierender Warlords und eines wachsenden Widerstands nicht würde halten können, folgte eine jährlich steigende Zahl von »internationalen Stabilisierungskräften« (ISAF) und US-Kampftruppen für die »Operation dauerhafte Freiheit«. In Afghanistan und im Irak begannen die großen Schwierigkeiten erst nach dem Sturz des alten Regimes. Die direkten Kriegskosten der USA in Afghanistan stiegen seither auf über 300 und im Irak auf 800 Milliarden Dollar. Nach einer »ungeheuer erfolgreichen britischen Mission in Libyen«, so Hammond gegenüber der BBC, müsse Britannien nun die »Befreiung des Landes« in eine »erfolgreiche Stabilisierung umwandeln, so daß Libyen zukünftig ein Leuchtturm des Wohlstands und der Demokratie in Nordafrika werden kann«. Finstere Aussichten für Libyen: Das letzte Land, das so ein »Leuchtturm« werden sollte, war der Irak.
Erschienen in Ossietzky 1/2012 |
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