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Die Zeiten der politikersetzenden Stammtischparolen à la: »Jetzt wird in Europa auf einmal deutsch gesprochen« sind wohl noch längst nicht vorbei. Ob die britische Regierung schaurig kauder-welsche Sätze wie: »Nur den eigenen Vorteil suchen zu wollen und nicht bereit zu sein, sich einzubringen, das können wir den Briten nicht durchgehen lassen«, zu Neujahr in die Themse geschüttet hat, ist auch nicht sicher. Immerhin: »Großbritannien bleibt Vollmitglied der Europäischen Union, und die Ereignisse der vergangenen Woche haben das in keiner Weise geändert«, beteuerte Premier Cameron nach dem vorweihnachtlichen EU-Gipfel, bei dem er den Plan einer gemeinsamen Vertragsänderung für mehr Haushaltsdisziplin der 27 EU-Mitgliedstaaten torpediert hatte, weil seine Ablehnung der Finanztransaktionssteuer in Brüssel kein Gehör fand. (Seine Regierung will den Finanzmarkt stattdessen durch die Trennung von Privatkunden- und riskantem Investitionsgeschäft regulieren beziehungsweise kurieren.) Offen ist seitdem, wohin der neue britische Kurs führen wird – die Zahl der Euroskeptiker in Camerons Konservativer Partei ist hoch, und ihre Versuche, eine Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft herbeizuführen, sind nach wie vor virulent. Der Koalitionspartner wiederum, die europafreundliche Liberaldemokratische Partei, kommt zunehmend in die Klemme und sieht sich bereits gezwungen, dem konservativen Koalitionspartner mit dem bewährten Ruf »Last orders please« das letzte Regierungsstündlein anzudrohen. Dennoch empfiehlt sich in typisch englischer Manier und bis auf Weiteres: Abwarten und Tee trinken. Das Vereinigte Königreich ist schließlich seit 1973 Mitglied der zur EU gewandelten Europäischen Gemeinschaft (EG), hat bislang immer seine speziellen Interessen realisieren können – etwa den von Maggie Thatcher ausgehandelten Beitragsrabatt –, hat nach wie vor das Pfund Sterling in der Hinterhand und ist ein militärisches Schwergewicht. Premier Camerons auf den ersten Blick so standhafte Verteidigung des britischen Finanzsektors vor »unfairen EU-Steuern« kommt nicht von ungefähr. Dieser Bereich »erwirtschaftet sagenhafte zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts, entrichtet knapp 60 Milliarden Euro Steuern an den Schatzkanzler und stellt rund 1,3 Millionen Erwerbsarbeitsplätze bereit. Die Hälfte davon generiert allein der Londoner Finanzplatz, die City, die zur Zeit die größte internationale Finanz- und Spekulationsdrehscheibe der Welt ist. Hier werden an einem Tag Devisen in Höhe von bis zu 1,5 Billionen Dollar »umgeschlagen«. Von den Steuerparadiesen Jersey und Co. ganz zu schweigen. Allerdings sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, daß auch die von Angela Merkel zur Formierung einer Spar-Union verdonnerten restlichen 26 EU-Mitgliedstaaten Getriebene und Gefangene der Finanzmarktakteure sind. An diesem die politischen Gestaltungsmöglichkeiten inzwischen gegen Null tendieren lassenden Grundübel hat die EU-Gipfelorgie des Jahres 2011 nichts geändert. Zurück auf die britischen Inseln, wo am 27. Juli die Eröffnungsfeier der dritten Olympischen Spiele in London für eine willkommene Ablenkung von den dramatischen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Problemen des Königreichs sorgen dürfte. Pekings Spektakel soll dann spätestens in Vergessenheit geraten, und zwar auch das der Schlußfeier. Premier David Cameron hat jedenfalls der Verdoppelung der Kosten für die Feiern auf 81 Millionen Pfund (rund 94,5 Millionen Euro) zugestimmt. Und der Olympiaminister Hugh Robertson unterstreicht, man wolle »mit perfekten Zeremonien die Nachhaltigkeit der Spiele und den Tourismus fördern«. Insgesamt dürften sich die Kosten für die 17-tägigen Spiele auf mindestens rund elf Milliarden Euro belaufen – es könnten, einschließlich des zusätzlich reservierten Notfallkapitals, auch ein paar Milliarden mehr werden. Aber das ist bei Großveranstaltungen der Moderne nichts Ungewöhnliches. Immerhin, mehr als 90 Prozent der Baumaßnahmen sind bereits abgeschlossen; die Proben für die Feierlichkeiten sind in vollem Gange. »Big Society« magst ruhig sein? Der fast fertige Olympic Park (so etwas fehlte noch nach all den längst vertrauten betonharten Büro- und Gewerbeparks) findet sich im östlichen Londoner Stadtteil Stratford am Fluß Lea. Er liegt neben dem derzeit auf Kosten von circa 4,8 Milliarden Euro kalkulierten neu entstehenden Wohn- und Gewerbezentrum »Stratford City« nahe dem ebenfalls neuen Bahnhof der Eurostar-Bahnlinie. Es handelt sich zweifellos um ein ehrgeiziges Projekt; den Planungen zufolge sollen insgesamt rund 5.000 neue Gebäude errichtet werden und Stratford City zugleich zum drittgrößten Shopping-District in London hochkatapultieren (hinter dem West End und Knightsbridge). Einen Vorgeschmack auf diese konsumträchtige Zukunft offeriert seit September 2011 das »Shopping centre Westfield Stratford City«. Rein von der Fläche her ist es der derzeit größte urbane Konsumkomplex in der EU – mit 300 Läden, 70 Restaurants und zwei Hotels. Langfristig soll er das Entstehen von bis zu 10.000 festen Arbeitsplätzen befördern. Allein bis Ende 2012 werden gut 30 Millionen »Kunden« erwartet. Ungewöhnlich neuartig sind zweifelsohne die 20 »Pavegen floor tiles«, die auf dem Weg zwischen dem Einkaufszentrum und dem Olympiastadium verlegt werden. Diese Bodenfliesen wandeln bei jedem Fußgängertritt die kinetische Energie in Elektrizität um – jeder einzelne Schritt ermöglicht theoretisch die 30-sekündige Beleuchtungsdauer einer LED-Straßenlaterne. Eine zukunftsweisende Technologie? Der heftige Belastungstest während der Olympischen Spiele wird nähere Aufschlüsse geben. Das neue Einkaufszentrum erhebt sich klotzig genau an der Grenze des herkömmlichen Stadtteils Stratford, und damit in direkter Nachbarschaft eines der traurigen Armenviertel Londons. Hier hat fast jeder Dritte Jugendliche keine Arbeit, leben viele Familien, die Cameron als Teile der »kaputten Gesellschaft« bezeichnet, die »zu reparieren« sei. Übrigens sitzen von den 1984 nach den »Riots« im letzten Sommer vor Gericht gebrachten jungen Menschen noch mehr als 800 in den (privat betriebenen) Gefängnissen. Ein Sprecher der Hilfsorganisation »Family Action« vermerkt zu Recht: »Unsere Gesellschaft hat viele benachteiligte Jugendliche im Stich gelassen und zerstört jetzt auch noch ihre Zukunft durch Gefängnisstrafen.« Was das Jahr 2012 den inzwischen mehr als eine Million arbeitslosen Jugendlichen im ganzen Land zu bieten hat – zumal die Bauarbeiten für die Olympiastätten fast abgeschlossen sind – steht bereits fest. Wenig Erfreuliches. Wegen der drastischen Kürzungen im Staatshaushalt und den stark gesunkenen verfügbaren Einkommen der Briten, den geplanten Renten-»Reformen« – die Renten der Angehörigen des öffentlichen Dienstes sollen künftig nach dem Durchschnittseinkommen und nicht wie bisher nach dem letzten Gehalt berechnet werden – und der schwächelnden Konjunktur ist eine Besserung der Lebenslage nicht in Sicht. Ob die Gewerkschaften – wie jüngst am 30. November 2011 beim größten Streiktag der britischen Gewerkschaften seit 1926 – ihre Protestmärsche und Streiks gegen die das Volk kaputtsparende Regierung ausweiten werden? Eine »Big ANGRY Society« – das wäre doch eine wahrlich entscheidende neue olympische Disziplin.
Erschienen in Ossietzky 1/2012 |
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