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Im IWF ist das Stimmrecht nach der jeweiligen Kapitaleinlage verteilt, den Ton geben dort die USA an. Kreditvergaben des IWF sind seit jeher mit Auflagen für die nationale Gesellschaftspolitik gekoppelt: Deregulierung, Privatisierung öffentlichen Eigentums, Lohndämpfung, Abbau von Sozialleistungen. Keine Chance hatte in Cannes der französische Staatspräsident (derzeit G20-Vorsitzender) mit seinem Wunsch, rasch eine Steuer auf internationale Finanztransaktionen einzuführen. Unter anderen Großbritannien, vor allem aber die USA wollen nicht, daß der Megaspekulation ein kleines Stückchen abgezwackt wird. Der Volksmund sagt es ja seit jeher: Geld regiert die Welt, und dabei soll es bleiben. Arno Klönne Das höchste WesenLeben wir in Zeiten, die immer mehr zur Gottlosigkeit führen? Ein weitverbreiteter Irrtum. Der Glaube an ein höheres, ja höchstes Wesen ist ungebrochen. Es verlangt Anbetung, Unterwerfung, Aufmerksamkeit; es kann strafen und belohnen, Opfer verlangen, Gnade zuteilen. Wir müssen um sein Vertrauen werben, denn es waltet gerecht über uns. Unbotmäßigkeiten können seinen Zorn hervorrufen, Zweifel läßt es nicht zu. Wir versuchen, seine Entschlüsse zu erforschen, aber vieles bleibt unergründlich; dennoch sind wir ihm Gehorsam schuldig. Unsere Staatsmänner und -frauen tun ihr Bestes, diese höchste Macht in gute Stimmung zu versetzen, verdammt seien die Ruchlosen, denen es am Respekt vor ihr mangelt. Wir können Menschen nur auf die Idee kommen, demokratisch müsse darüber entschieden werden, ob man Geboten des göttlichen Finanzmarktes folgen soll. M. W. Monethik»Europa buhlt um Chinas Geld« titelt die Leipziger Volkszeitung und berichtet, daß »der Chef des Eurorettungsschirms EFSF, Klaus Regling, in Peking um Investitionen« wirbt. So finden die Bemühungen von Frau Merkel um die Menschenrechte in China ihre sinnvolle Ergänzung. Günter Krone Angewandte LutherlehreChrismon, das kirchenoffiziöse evangelische Magazin, als monatliche Beilage etlicher Tageszeitungen und der Wochenzeitung Die Zeit erscheinend, leistet in seiner Novemberausgabe Deutungshilfe: Wie kam es zur Marktwirtschaft, weshalb bröckelt das Vertrauen in dieses ökonomische System, auf welche Weise kann man es wiederherstellen? Antworten darauf gibt Michael J. Inacker, Vorsitzender der Internationalen Luther-Stiftung und Manager bei der Metro Aktiengesellschaft. Wir erfahren: Luthers Theologie »hat Energie und Kreativität freigesetzt«, und so kam es zum historischen Zusammenwirken von Protestantismus und Unternehmertum, »protestantische Wurzeln hat die Marktwirtschaft«. Freilich bringt sie auch Unannehmlichkeiten hervor – wenn Unternehmer oder Manager »Fehler« machen. Die haben nichts mit dem System zu tun, sondern sind verursacht durch »Schuld« einzelner Akteure. Und die Finanzkrise? Am Beispiel USA sind deren Ursachen zu erkennen: »Falsch verstandene Sozialpolitik« hat viele Menschen dazu gebracht, über ihre Verhältnisse zu leben, jeder wollte sich ein Haus kaufen. Aber die Marktwirtschaft hat funktioniert, sie hat solche »Fehlentwicklungen aufgedeckt«. Alles geht gut, wenn wir Luther richtig verstehen: Unternehmertum soll sein. Ein »Aufstiegsversprechen« sei das Soziale an der Marktwirtschaft, sagt Inacker; jedoch kann das ja nicht bedeuten, daß jeder zum Immobilienbesitzer wird. Eines schickt sich nicht für alle. Wo kämen wir hin, wenn es nur noch Unternehmer gäbe. Sozialpolitik hat darauf zu achten, daß dies bewußt bleibt. M. W. Inacker ist einer der am besten vernetzten politischen Publizisten mit Wirtschaftsneigung in der Bundesrepublik. Er war unter anderem für das Bundesverteidigungsministerium und als Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der Welt am Sonntag und der WirtschaftsWoche tätig. Die Metro AG, für die er jetzt wirkt, ist der größte deutsche Handelskonzern. Seinen wirtschaftlichen Aufstieg verdankt das Unternehmen vor allem Otto Beisheim, der umstritten war wegen seiner einstigen Zugehörigkeit zur SS-Einheit Leibstandarte Adolf Hitler. Red. Die KeksdoseEin Spektakel sondergleichen: 55,5 Milliarden Euro hat der Bundesfinanzminister gefunden, in einer seiner Filialkassen, die den schönen Namen »FMS-Wertmanagement« trägt. Gehortet waren sie dort, aber falsch verbucht, die Kassenwarte hatten Plus mit Minus verwechselt. Das gab Stoff für anklägerische Auftritte her: »So etwas ist doch kein Betrag, den die schwäbische Hausfrau in der Keksdose versteckt und dann vergißt« – entrüstete sich Thomas Oppermann, Fraktionsgeschäftsführer der SPD im Bundestag. Und in den Medien wurden Rechnungen aufgemacht, welche Wohltaten sich mit diesem nun entdeckten Geld finanzieren ließen: Die Summe reiche aus, zum Beispiel 2,5 Millionen Bürgern einen VW Golf Trendline zu bezahlen. Dazu wird es nicht kommen, aber immerhin, so wurde frohlockt, seien die umgebuchten vielen Milliarden nun zur Verfügung der Staatskasse. Alles Unsinn, Niederschlag finanzwirtschaftlichen Bildungsmangels. Mit dem jetzt als Plus ausgewiesenen Betrag läßt sich nichts kaufen oder bezahlen, der Bundeshaushalt läßt sich damit nicht aufstocken, es handelt sich um einen fiktiven »Wert«. Dessen Bedeutung liegt allein darin, daß die Verschuldungsstatistik der Bundesrepublik um etwa zwei Prozent aufgebessert werden kann. Also bekommt wenigstens unser Staatswesen ein bißchen günstigeren Kredit? Ein besseres Rating? Auch dafür bedeuten die Fundmilliarden nichts, denn der Zinssatz folgt anderen Regeln, die Höhe der Staatsschulden ist nicht entscheidend. Vielleicht hatten die Buchhalter bei der staatseigenen Bad Bank das alles durchschaut und handelten nach der Devise: Wertpapiere ohne Wert, da ist es doch egal, ob ein Plus oder ein Minus davor steht. Oppermanns Aufregung – gegenstandslos. P. S. Der lange Schatten der StasiJetzt endlich wissen wir, warum in den »neuen Bundesländern« die Landschaften nicht kohlmäßig blühen wollen. Es lag nicht an der überstürzten Währungsunion, die auch nach Einschätzung des damaligen Bundesbankpräsidenten zum völligen Ruin der DDR-Wirtschaft führen mußte. Es lag nicht an der gloriosen Effizienz des Abrißunternehmens »Treuhand«, das ein Volksvermögen von 600 Milliarden Mark in einen Schuldenberg von gut 250 Milliarden verwandelte (die Neuverschuldung des Bundes stieg damals schlagartig um das Dreizehnfache). Es lag – woran denn sonst – an der Stasi. Wo der lange Schatten der Stasi hingefallen ist, da wächst eben nichts: kein Vertrauen, keine Initiative, kein Unternehmergeist und folglich keine blühende Landschaft. Ein Sozialforscher der Zeppelin University in Friedrichshafen am Bodensee hat, wie der Deutschlandfunk berichtete, herausgefunden, daß Wahlbeteiligung und bürgergesellschaftliches Engagement dort am geringsten sind, wo einst besonders viele Stasispitzel schnüffelten (bis zu 16 IM pro tausend Einwohner), und merklich größer dort, wo die Überwachungsdichte niedriger war (nur zwei IM pro tausend Einwohner). Alles klar? Die Anfrage beim Sender, ob es sich um einen Satire-Beitrag gehandelt habe, wurde verneint. Hans Krieger BeratungsbedarfDer SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hatte eine Idee: Den DGB-Vorsitzenden Michael Sommer wollte er zum kooptierten Mitglied des sozialdemokratischen Parteivorstandes machen. Sommer fand das offenbar zunächst interessant, zog sich aber wieder zurück – es könne der Vorwurf aufkommen, der Deutsche Gewerkschaftsbund sei parteipolitisch nicht neutral. Was hatte Gabriel mit seinem Vorschlag im Sinn? Nehmen wir freundlicherweise einmal an, daß es ihm nicht darum ging, in der Konkurrenz mit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel, die jetzt ja Mindestlohnpropagandistin ist, Sympathie für die Lohnabhängigen nachzuweisen. Oder innerparteilich den selbsternannten Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück auszubalancieren. Unterstellen wir, daß der SPD-Vorsitzende das Gefühl hat, in der Spitze seiner Partei wisse man einfach zu wenig über Probleme der Arbeitnehmerbevölkerung, da sei Beratungsbedarf. Wie wäre es dann, nachdem ein DGB-Vertreter nicht zur Verfügung steht, zum Beispiel mit einer oder einem Abgesandten des Erwerbslosen-Forums Deutschland? Oder der Katholischen Arbeitnehmerbewegung? Die hat sich schon mit dem SPD-Konzept für einen Mindestlohn beschäftigt. Als in dem Stundensatz unzureichend hat sie es bewertet. Sigmar Gabriel sagt doch, er wünsche sich kritische Diskussion. Carla Tölle Auf Tucholskys Spuren»Sprache ist eine Waffe. Haltet sie scharf!« Mit diesem Aufruf befaßte sich die Jahrestagung 2011 der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft in der vertrauten Umgebung der Berliner Zentral- und Landesbibliothek. Beteiligt waren auch die Internationale Heinar-Kipphardt-Gesellschaft und die Berliner Kurt-Tucholsky-Oberschule; der Verein »Kreuzberg liest« und eine junge Theatertruppe aus Marzahn rundeten die Konferenz mit ihren Beiträgen ab. Für einen gelungenen Auftakt hatte die junge Wissenschaftlerin Alexandra Brach gesorgt. Mit dem Eröffnungsreferat »Literarische Sprache und politische Wirklichkeit« ging der Vorsitzende der Heinar-Kipphardt-Gesellschaft, Sven Hanuschek, in medias res und stellte die inhaltliche Verbindung zwischen zwei Autoren her, die zwar durch eine Generation und unterschiedliche Zeitumstände voneinander getrennt waren, durch die Lebensnähe ihrer Publikationen und ihre hochgradige Sensibilität dagegen eng miteinander verbunden sind. Dieter Mayer wartete mit einem pointierten Überblick über die Lyrik der Nachkriegszeit und der Weimarer Republik auf. Walter Fähnders wies an Musikbeispielen nach, daß der Aufforderungscharakter Tucholskyscher Lyrik wie auch der von Weinert, Mehring und anderen Zeitgenossen durch Vertonungen und Interpretationen wesentlich gewinnen kann. Jan Eik, Ikone der Berliner Kriminalliteratur, widmete sich Tucholskys »Gebrauch von Berliner Dialekt«. Er war bei der Vorbereitung seines Beitrages selbst davon überrascht, wie wenig Belege sich für das Berlinische im Werk seines Landsmannes fanden. Vielleicht hat sich Tucholsky an seine eigene Devise gehalten: »Berlinern soll nur, wer Berlin wirklich in den Knochen hat ...« Er selbst schrieb später aus Paris »Wie lieb ich dich! Von weitem. Mein Berlin –!« Aber wenn er sich seiner Geburtssprache bediente und seine Landsleute glossierte, lugten Humor und Sozialkritik aus allen Knopflöchern hervor, denn: »Die er kennt, saacht der Berliner du!« Der Journalist Paul-Josef Raue zitierte ausführlich Tucholskys kritische Auffassungen vom Journalismus und von Journalisten und setzte sie zur gegenwärtigen Praxis in Bezug. Einige seiner Antworten zu den zahlreichen Anfragen dagegen hätte ich mir konkreter und überzeugender gewünscht. Der »Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik«, im Zweijahresabstand im Rahmen oder im Umfeld der Tagung zu verleihen, stand lange auf der Kippe. Die ursprünglichen Sponsoren hatten sich längst zurückgezogen, und nur dank der Großzügigkeit privater Spender und der Unterstützung des Mainzer Kabarett-Archivs wurde eine erneute Dotierung möglich. Den Preis erhielt diesmal der taz-Kolumnist Deniz Yücel. Der Vorstand hatte auch keine Skrupel, gegen Yücel erhobene Beschimpfungen wie »Schmierfink«, »Schlampen-Deniz« und »Verleumder« sowie Auszüge aus LeserInnenzuschriften auszudrucken und den Gästen der Preisverleihung als Kommentar auf die Stühle zu legen. Das war mutig und gut so. Sowohl der Laudator Jan Feddersen als auch der Preisträger trugen ihre Positionen mit Charme vor; der soeben Geehrte noch dazu mit sympathischer Gestik und Mimik. Der neugewählte Vorstand der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft gleicht dem alten. Neu trat Ossietzky-Autor Jürgen Rose hinzu, seit Jahren in der Anti-Kriegs-Bewegung engagiert. Wolfgang Helfritsch Öffentlich? Rechtlich?Heute hat mir Frau K., meine Obermanagerin, die mir schon mehrmals geraten hatte, einen anderen Job zu suchen, mit etwas belanglosen Worten meine Kündigung beim Südwestrundfunk überreicht. Sie müssen sparen – idealerweise an den prekär Beschäftigten, also auch an mir. Bin gespannt, ob es auch meine KollegInnen trifft oder nur mich, habe ich mich doch mit meiner Kühnheit, Urlaub zu fordern, nicht beliebt gemacht. Leider blieb ich der einzige unter den Geringfügigen, der so unfügsam war, dieses gesetzliche Mindestrecht einzufordern; den anderen wurde es verwehrt. Die Warnung, sich nur ja nicht mit Forderungen unbeliebt zu machen, wirkt immer noch. Demokratie, auch in der Form gesetzlicher Schutzbestimmungen, verfällt in Betrieben und Institutionen wie eben auch öffentlich rechtlichen Sendern rasant. Gewerkschaft und Personalrat interessierten sich nicht für das wachsende Prekariat im Sender, sie sind damit beschäftigt, sich ihrer eigenen Zukunft zu versichern. Auf die Frage, warum ich dort noch Mitglied bin, kann ich nur sehr akademisch antworten. Die Nachrichten sind schon schlecht, das Programm des Senders nur noch für eine fortgeschrittene Pflegestufe zu gebrauchen; man kann sich auch zu Tode sparen. In Wirklichkeit wird aber gar nicht gespart, es wird umverteilt wie anderswo auch, hier zugunsten von Sport, Spiel, Jauch, Gottschalk – vom Management im Dunkeln ganz zu schweigen. Übrigens bekomme ich vermutlich nicht mal ein Arbeitszeugnis, das ist bei Geringfügigen nicht vorgesehen, ich darf den Sender aber als Referenz angeben, sagte Frau K. Wolfgang Haible An die LokalpresseDie Mitteilung, daß Libyen frei und Gaddafi tot ist, ging bei mir runter wie Öl. Nun verbreiten die Zeitungen allerdings verschiedene Varianten über den Tod des Diktators. Manche behaupten sogar, er wäre erst gefangen genommen und dann erschossen worden. Das kann ich mir nicht vorstellen, das hätten die Befreiungssoldaten bestimmt nicht gemacht. Ich denke mir eher, er ist in der Röhre, in der er sich feige versteckt hatte, auf dem glibschigen Untergrund ausgerutscht und hat sich dabei verletzt, und die Soldaten haben ihn in die nächste Rettungsstelle bringen wollen, und unterwegs ist er dann gestorben oder irgendwelche Heckenschützen haben auf ihn gefeuert. Verstöße gegen internationale Rechtsgrundsätze traue ich den Soldaten einfach nicht zu, und die Erschießungen Bin Ladens oder Saddam Husseins waren bestimmt auch nur Kollateralschäden. – Martha Unglaube (57), Hausfrau, 74639 Zweiflingen * Der Berliner Kurier berichtete vor einiger Zeit, daß der italienische Ministerpräsident Berlusconi gestürzt sei. Ich wunderte mich schon über die kurze Notiz, stellte dann aber erleichtert fest, daß der agile Regierungschef in seiner Dusche gestürzt war und sich ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen hatte. Nun interessiert mich, ob er sich davon wieder erholt hat oder ob ein Dauerschaden zurückgeblieben ist. Außerdem möchte ich gern wissen, ob noch jemand mit in der Dusche war und ob sie sich auch verletzt hat. – Lisbeth-Erdmute Müller (62), Rentnerin, 79369 Sexau * Kaum waren die Wahlen im September vorbei, die verzählten Stimmen korrigiert und die im Container gefundenen Unterlagen ergänzt, folgte schon im Oktober der nächste Ausscheid: Die Wahl des deutschen Hundeskanzlers! Schön, daß es ein kleiner krummbeiniger Dackel mit treuen Augen geworden ist! Und ich bin froh darüber, daß es bei der Hundeskanzlerwahl, über die Zeitungen und Illustrierte berichten, offensichtlich korrekt zuging und nicht wieder Wahlunterlagen vertauscht, verschwunden oder verschusselt worden sind! Kann man nicht die Prozedur der Hundeskanzlerwahl auf andere Wahlen übertragen, damit nicht noch einmal solche Pannen vorkommen? – Gretchen Gralow (77), Kanzleirats-Witwe, 24894 Hoffnungstal Wolfgang Helfritsch Walter Kaufmanns Lektüre»Das Fliegende Auge« – eine sehr eigene und zugleich treffliche Namensgebung für ein Buch von Gesprächsprotokollen: Der Filmregisseur Tom Tykwer befragt den Kameramann Michael Ballhaus. Es sind kenntnisreiche Fragen, die kenntnisreich beantwortet werden. Wer in die Welt des Films eintauchen, viel erfahren will über das Miteinander von Bild und Regie, dem wird der Preis für diese nahezu dreihundert Seiten nicht zu hoch sein. Hier wird die Karriere eines Kameramanns umrissen, der fünfzehn Filme mit Rainer Werner Fassbinder drehte und in Hollywood durch seine Arbeit mit Martin Scorsese, Francis Ford Coppola, Wolfgang Petersen und Robert Redford fortfuhr, seinen Ruf weltweit zu festigen. Das »Fliegende Auge« blickt genau – prüft die Echtheit des Filmsets, die Qualität des Lichts, die Eigenheiten der Darsteller. Nichts entgeht ihm, das Auge ist allgegenwärtig und den Filmemachern unentbehrlich. Mit Tykwer und Ballhaus sind sich zwei Künstler verschiedener Generationen nahegekommen. Der jüngere weiß den älteren zu fordern. Mit jedem der vielen Filme, über die sie sprechen – es wird kaum umfangreichere Filmografien als die von Michael Ballhaus geben – entlockt er dem Kameramann Geheimnisse seines Fachs: wie wird Spannung, wird Glaubwürdigkeit, werden Stimmungen erzeugt. Und viel wird über die Schauspieler offenbart, die Ballhaus vor der Kamera hatte – daß Daniel Day-Lewis, zum Beispiel, in »The Gangs of New York« so versunken in seiner Rolle blieb, daß er nicht als Daniel, sondern nur als Bill the Butcher anzusprechen war, während Leonardo DiCaprio seine Rolle mühelos abstreifen und auf Anhieb wieder in sie schlüpfen konnte, er zudem ein unglaubliches Gefühl für die Kamera hatte, immer sehr präzise in das Licht kam, das man für ihn setzte. Cameron Diaz wiederum »schaffte eine tolle Stimmung – war hoch konzentriert in der Szenenarbeit«. Ihre Intensität, ihre erotische Spannung war wichtig für den Film »als Gegenpol zu dem Druck zwischen Daniel und Leo«. Vielfältig sind die Beobachtungen des Michael Ballhaus, seine Erfahrung mit Schauspielern ist enorm, es fasziniert, davon zu lesen, und ist spannend, und spannend sind auch seine Einschätzungen der verschiedensten Regisseure, mit denen er gearbeitet hat: allesamt Studien der besonderen Art. Es lohnt sich dem »Fliegenden Auge« zu folgen, diesen für alle Filmfreunde höchst informativen Erinnerungen des Michael Ballhaus an seine Jahre in Deutschland und Amerika. W. K. »Das Fliegende Auge. Michael Ballhaus im Gespräch mit Tom Tykwer«, Berlin Verlag, 281 Seiten, 26 € Ein fiktiver AufstandKnapp hundert Seiten, die es in sich haben! Wieder offenbart Volker Braun eine andere Seite seines Könnens: Diesmal schreibt er – »ein Narr« – über etwas, das es nicht gab: einen Aufstand von Arbeitern, die nach der Auflösung der DDR ihre Betriebe zurückhaben wollen. Aber ganz erfunden ist die Geschichte nicht: Da ähneln manche Vorgänge, die dem Aufstand vorausgehen, denen in Bischofferode. Da heißt eine Sozialministerin Hilde Brand und einer der wenigen aufrechten Bürgerrechtler Schurlamm, ein Führer im Aufstand gar Mintzer. Ja, auch Erfahrungen und Fakten des Bauernkriegs und anderer historischer Erhebungen im Mansfeldischen sind im Spiel, das selbstverständlich schlimm ausgeht: »Sie würden demokratisch ausgehungert werden,« ahnt Mintzer im voraus. Aber ihre Utopie ist überlebensfähig. Zu den zwölf »Mansfelder Artikeln von den gleichen Rechten aller« fügt er hinzu: »Die Zukunft ist ein unbesetztes Gebiet. Sie ist offenzuhalten für Anmut und Mühe. Falls eine Forderung dem entgegensteht oder dem Grundgesetz widerspricht, wird auf (sie) es verzichtet.« Wieder schafft Braun eine Collage aus Fiktivem und Faktischem, stellt die Erfahrung der Niederlagen neben die Utopie. In den Text montierte Zitate seiner Kollegen (unter anderem Goethe und Novalis) und aus der Bibel geben dem Text zusätzlichen historischen und ästhetischen Atem. Dabei sind die von Braun gefundenen Begriffe und Verallgemeinerungen verblüffend plausibel: »Liegen- und Lassenschaften«, »Sanktjederleinstag«, »wo man kaufen ging, wollte man nicht kämpfen«, »man habe einen Rechtsstaat, aber kein Rechtsvolk«, der »Beruf der großen Menge: Zuschauer« und und und. Als Philosoph und Lyriker, Chronist und sozialistischer Träumer in einer Person, denkt er über das Wesen und den Sinn von Eigentum nach und über Gewalt, über den Wert von Arbeit sowieso. Ein Buch, das mehrmals zu lesen lohnt. Christel Berger Volker Braun: »Die hellen Haufen«, Erzählung, Suhrkamp, 97 Seiten, 14,90 € Irgendwo in den Slumsvon Accra, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Ghana: Ein Mädchen wird ermordet aufgefunden. Kabira, Mitarbeiterin einer Nichtregierungsorganisation, gerät an das obdachlose Straßenkind Fofo. Das zunächst routinierte Ausforschen des Mädchens zur Gewinnung verwertbarer Informationen gerät schnell zum Kriminalfall, als sich herausstellt, daß Fofo die Schwester der Toten ist. Die Autorin nutzt diesen Ausgangspunkt zu einem breit gefächerten Sittengemälde der gegenwärtigen westafrikanischen Gesellschaft samt ihrer Abgründe. Die traditionelle afrikanische Stammesgesellschaft löst sich auf, ohne daß an deren Stelle andere funktionierende Strukturen treten. Wer mittellos vom Lande in die Stadt kommt, fällt meist in ein bodenloses Nichts. Hauptsächlich sind es Frauen, die in den Slums Reste solidarischen Miteinanders aufrechterhalten und die andererseits als erste der allgemeinen Verrohung zum Opfer fallen. Amma Darko zeichnet die Biographien zahlreicher Romanfiguren nach, den unerbittlichen Sog von Armut und Hoffnungslosigkeit, der sie in die Kleinkriminalität trieb. Und die grauenhaften Zustände in den Straßen der Armutsviertel, in denen schon der Gang zur Toilette zum Risiko wird. Geschickt spielt die Autorin mit Elementen der Groteske und des schwarzen Humors, schildert die absurdesten Verwicklungen im Überlebenskampf der Slumbewohner, beschreibt mit einem Augenzwinkern Schelmenstreiche und betrogene Betrüger. Hauptproblem der Heldin: ihren heißgeliebten, aber schrottreifen Wagen am Laufen halten. Ein Polizeirevier, das sie im Rahmen ihrer Arbeit besucht, verfügt über kein einziges Auto; der Polizist führt daher keine Ermittlungen durch und gibt offen zu, daß seine Arbeit im Registrieren und Abheften von Anzeigen besteht. Unter solchen Bedingungen bleibt tatsächlich nur Selbsthilfe. Die verläuft zwar sehr holprig und äußerst turbulent, aber am Ende erfolgreich. Dies mag wie ein modernes Märchen erscheinen und ist es wohl auch. Am Ende des Romans steht jedenfalls nicht nur der Täter fest, dem Leser hat sich auch eine tragische, aber für afrikanische Verhältnisse nicht untypische Familiengeschichte entblättert. Und dem Mädchen Fofo ist ein wenig Hoffnung gegeben. Amma Darko lebt in Ghana. Mit ihrem Migrationsroman »Der verkaufte Traum« landete sie einen Welterfolg und zählt seither zu den bedeutendsten afrikanischen Schriftstellerinnen. Der Roman »Die Gesichtslosen« erschien zuerst in Ghana und wurde von Anita Jörges-Djafari aus dem englischen Originalmanuskript ins Deutsche übersetzt. Gerd Bedszent Amma Darko: »Die Gesichtslosen«, Roman, Schmetterling Verlag, 187 Seiten, 12,80 € Mal melden!Eine Siebzehnjährige hat 152 »Freunde«. Ein Neunzehnjähriger bringt es auf 252 »Freunde«. Das ist schon mal eine Lebensleistung. In dem Alter! Da kann man den Überblick verlieren und das eine oder andere Freundes-Facebook-Face aus den Augen. Macht ja nichts. Facebook-Freunde nehmen‘s leicht: Wie gewonnen, so zerronnen, sprich verloren. Die Facebook-Familie fängt die Facebooker auf. Jeder verlorene Freund wird durch zehn neue Freunde ersetzt. Da muß man sich mit dem Einen oder Anderen nicht aufhalten. Vorwärts durchs Leben mit den Facebook-Freunden! In fünfzig Jahren, so ein alter Refrain, ist alles vorbei. In 50 Jahren, wenn die Facebook-Zeiten vergangene Zeiten sind. Wenn die Älteren, die Jungen von heute, Zeit haben zurückzuschauen. Wenn sie darauf warten, daß sich die Freunde mal melden. Die ein, zwei Freunde des Lebens. Die, die sie in der Schule kennenlernten oder während der Ausbildung. Wie das so ist im Leben. Einfach und zuverlässig. Und von Dauer. Facebook ade! Bernd Heimberger Press-KohlDie Sparkasse bezeichnet sich als »größte Finanzgruppe Deutschlands«. Die größte Finanzgruppe Deutschlands kann es sich leisten, für ihre Dienste mit ganzseitigen Inseraten beispielsweise im Spiegel zu werben, die dort wahrscheinlich. Letztens war auf der Sparkassen-Finanzgruppen-Anzeige Paul van Dyk, Musikproduzent und Sparkassenkunde, mit seinem kleinen Hund und seinen Kopfhörern zu sehen. Er ließ uns wissen: »Als Musiker trete ich bis zu 150 Nächte im Jahr auf. Damit ich trotzdem gut schlafen kann, habe ich die Sparkasse.« Diese wunderbare Einrichtung ist stolz darauf, daß ihre »Vermögensspezialisten nicht nur erfahren, sondern immer auch in Ihrer Nähe sind«, also in unserer und in der Nähe des Herrn van Dyk. Immer demzufolge befinden sich die Vermögensspezialisten in der Nähe ihres Sparkassenkunden van Dyk. Die ganze Nacht über umringen sie ihn, der als fleißiger Musiker seine Ruhe und seinen erfrischenden Schlaf braucht. Na dann gute Nacht, lieber Herr van Dyk! * Eines vergangenen Tages gastierte Tina Turner in Berlin. Sie »zelebrierte in der Waldbühne ihre wildesten Träume. Die ausgeklügelte Lichtregie ihrer Show wird mit zunehmender Dunkelheit immer augenfälliger ... Doch die Erotik wird mit Augenzwinkern vorgetragen und steht in keinem Widerspruch zu den Kartoffelsalatschüsseln, die unter den Zuschauern die Runde machen. Die pikante Überschrift: »Oben Erotik, unten Kartoffelsalat.« Geschmackssache. Felix Mantel
Erschienen in Ossietzky 23/2011 |
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