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Bereits zehn Jahre später hatte sich dieser Prozentsatz verdoppelt und dem Westniveau angenähert, das sich allerdings im gleichen Zeitraum auf 17 Prozent erhöht hatte. Bei den Kindern und Jugendlichen in Ost und West waren im Jahr 2010 schon keine Unterschiede mehr festzustellen. So konnte die Nachrichtenagentur verkünden: »20 Jahre nach der Wiedervereinigung wachsen die Deutschen auch in Sachen Allergien zusammen.« Wenn das kein Grund zur Freude ist, was dann? Aber auch auf anderen Gebieten wächst so einiges zusammen. Seit 20 Jahren untersucht das Sozialwissenschaftliche Forschungszentrum Berlin-Brandenburg das »Leben in Ostdeutschland«. Erstmals wurden dabei 2011 neben Ostdeutschen auch 1.000 Einwohner Nordrhein-Westfalens befragt. Und siehe da, in wichtigen sozialpolitischen Fragen zeigte sich eine bemerkenswerte Übereinstimmung. 77 Prozent der Ostdeutschen und 73 Prozent der Befragten im größten westdeutschen Bundesland sprachen sich für die Einführung von Mindestlöhnen aus. Noch größer war der Gleichklang bei der Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit. 91 Prozent der Ost- und 86 Prozent der Westdeutschen plädierten für ein Ende der Lohnunterschiede zwischen den alten Ländern und denen, die immer noch die »neuen« genannt werden. Im KrankenhausSchwester Marlies in der Intensivstation sieht den Patienten mit dem ersten Blick an, was ihnen fehlt. Da kann ihr keiner der jungen Ärzte etwas vormachen. Aber sie hütet sich, das irgend jemanden spüren zu lassen. Sie packt schnell und sicher zu und korrigiert nebenbei wortlos die Fehler anderer. Sie hat eben Erfahrung. Schon vor über 30 Jahren hat sie hier gearbeitet und einige der jüngeren Kolleginnen ausgebildet, die jetzt in dieser Klinik und in einigen benachbarten angestellt sind. Seit all den »Umstrukturierungen« nach der »Wende« (lauter täuschende Wörter) hat Schwester Marlies keine feste Anstellung mehr. Sie steht unter Vertrag bei einer Personalverleihfirma, die sie mal an dieses, mal an jenes Krankenhaus schickt. Sie verdient weniger, als sie nach dem früher auch für sie geltenden Tarif verdienen würde, weniger als ihre angestellten Kolleginnen verdienen. »Und kein Krankenhaus stellt sie wieder an?« – »Nein, denn es müßte der Verleihfirma eine Ablösung zahlen. Das wäre zu teuer.« – »Menschenhandel.« – »Könnte man sagen.« Aus dem Nachbarzimmer ruft eine Kollegin nach ihr. Mutet man ihr, obwohl sie eine der Ältesten ist, die härtesten Aufgaben zu? Versucht man, ihr, weil sie nicht zum Stammpersonal gehört, die Schuld zuzuschieben, wenn eine andere einen Fehler gemacht hat? Mobbing? Schwester Marlies würde sich nie über Kolleginnen beschweren. Es könnte doch sein, daß sie mal etwas falschmacht, wenn sie nur noch alle paar Wochen hier ist und wenn sie zwischendurch in anderen Häusern arbeitet und wenn überall immerzu umgebaut wird und die Regeln sich ändern und neue Chefärzte neue Marotten mitbringen. Da kann eine alte Schwester ohne festen Vertrag leicht schuldig werden. Eckart Spoo Die niedrigeren Ostlöhne werden einerseits beklagt und verflucht, andererseits sind sie sehr begehrt, selbst im reichen Freistaat Bayern. Dort gibt es zum Beispiel ein Unternehmen mit dem romantischen Namen »Alpenland Pflege GmbH«. Es weigert sich beharrlich, einem Teil seiner Beschäftigten Westlöhne zu bezahlen, und pocht darauf, sie auch fürderhin mit Ostlohn abzuspeisen, was immerhin einen Unterschied von monatlich 170 Euro ausmacht. Der Grund ist simpel: Die Filiale der bayerischen Firma liegt nicht im malerischen Alpenland, sondern in der Nähe eines schmucken Schlosses im Ostberliner Stadtbezirk Marzahn. Da die Pflege eines Ostdeutschen bekanntlich leichter und bequemer ist als die der bayerischen Landsleute wird das Verlangen des seit vielen Wochen streikenden Pflegepersonals strikt zurückgewiesen. Wo kämen wir denn hin, wenn Ostpfleger Westlöhne erhielten? Eine solche Gleichmacherei könnte schlimme Auswirkungen haben, beispielsweise für den vor der Eröffnung stehenden neuen Großflughafen in Berlin Schönefeld. 60 hochqualifizierte Flugzeugmechaniker sollen deshalb im kommenden Jahr bei einem Wechsel vom Westberliner Airport Tegel, der geschlossen wird, nach dem Flughafen Berlin-Brandenburg von West- auf Osttarif heruntergestuft werden. Nach Angaben der Gewerkschaft ver.di würde sich ihr Jahreseinkommen um durchschnittlich 2.500 Euro verringern. Lohneinbußen drohen offenbar auch 200 Reinigungskräften, die an den neuen Flughafen wechseln werden. Bedeutet das, daß die Flugzeuge dort weniger sorgsam gewartet und die Flughafeneinrichtungen oberflächlicher gereinigt werden sollen? Natürlich nicht, aber im Osten wird nun einmal für gleiche Arbeit weniger Lohn als im Westen gezahlt. Wenn dem so ist, wieso sollten dann die neuen Ostarbeiter des Flughafens besser gestellt werden als ihre Kollegen in anderen Branchen? Die Lohnunterschiede haben sich doch bewährt. Im Schnitt verdienen die Ostdeutschen 17 Prozent weniger als ihre Kollegen im Westen, fand die Hans-Böckler-Stiftung heraus. Selbst da, wo sie das Glück haben, nach Tariflöhnen bezahlt zu werden, sind die Unterschiede in den Stundenlöhnen erheblich. Östlich von Elbe und Werra verdienen Tischler 6,79 Euro, westlich davon 9,30 Euro, Klempner und Installateure 6,60 statt 9,68 Euro, Facharbeiter in der Landwirtschaft 5,89 statt 7,55 Euro. Auch da, wo Mindeststundenlöhne vereinbart wurden, wurde berücksichtigt, daß die Arbeit im Westen anstrengender und folglich ein wenig besser zu entlohnen ist. Bei Gebäudereinigern beträgt der Unterschied 1,55 Euro, bei Elektrikern 1,30 Euro und bei Malern und Lackierern zwei Euro. Berücksichtigt wird auch, daß die Unternehmen in einzelnen Bundesländern unterschiedlich bedroht sind. So erhalten Sicherheitskräfte im gefährlichen Bayern wenigstens 8,15 Euro die Stunde, im friedlich-beschaulichen Mecklenburg-Vorpommern 6,53 Euro. Nachdem vor Jahren von den Bundestagsparteien allein die Linke für einen allgemeingültigen Mindestlohn eintrat, mittlerweile fordert sie zehn Euro die Stunde, plagiert nach den Grünen und der SPD auch die CDU diese Forderung, allerdings ganz im Sinne des vaterländischen Zusammenwachsens mit einem gehörigen West-Ost-Unterschied. Als ein probates Instrument zur Krisenbekämpfung und Profitsteigerung hat sich in den letzten Jahren bekanntlich auch die Leiharbeit erwiesen. Selbst hier wird berücksichtigt, daß die Ostdeutschen genügsamer sind. Während im Westen ein Leiharbeiter 2009 im Durchschnitt 1.456 Euro brutto erhielt, mußte sich sein ostdeutsches Pendant mit 1.224 Euro begnügen. Doch das wird oft ausgeglichen und läßt sich verschmerzen, schließlich ist der Anteil der ostdeutschen Leiharbeiter, die zugleich auf »Hartz IV« angewiesen sind, beträchtlich höher als der der westdeutschen. Leider schützt der schönste »Hartz IV«-Ausgleich nicht vor Armut. Kürzlich hat das Statistische Bundesamt ermittelt, daß in den »neuen« Ländern 19 Prozent der Bevölkerung »armutsgefährdet« sind, in den »alten« sind es immerhin 13 Prozent. Hier wächst tatsächlich einiges zusammen. Mecklenburg-Vorpommern und der Stadtstaat Bremen haben es bereits geschafft. In beiden Bundesländern ist jeder fünfte Einwohner »armutsgefährdet«. Übrigens ist das ein schönes Wort, und es klingt deutlich besser als »arm«. Ewiggestrige ostdeutsche Besserwisser wollen dieses Beispiel der Harmonisierung der Lebensverhältnisse in West und Ost nicht wahrhaben. Halsstarrig verweisen sie neben den Unterschieden bei Löhnen und Renten unter anderem auch darauf, daß zwei Jahrzehnte nach der staatlichen Vereinigung der Anteil Ostdeutschlands am wiedergewonnenen deutschen Vaterland auf einzelnen Gebieten recht unterschiedlich sei: bei der Bevölkerung 16 Prozent, bei den Arbeitslosen über 27 Prozent, bei den Erwerbstätigen 14,4 Prozent, beim verarbeitenden Gewerbe 9,5 Prozent und beim Export 5,7 Prozent. Und nicht genug damit, auch die Zukunft malen sie in schwarzen Farben. Unter Berufung auf renommierte Wirtschaftsinstitute behaupten sie, daß die Zahl der Bevölkerung auf dem Gebiet der untergegangen DDR 1989 16,4 Millionen betragen habe, sich gegenwärtig 14 Millionen nähere und bis 2050 auf unter zehn Millionen absinke. Daraus ziehen sie den fatalistischen Schluß, daß eine Angleichung der Lebensverhältnisse beider Teile Deutschlands eine Illusion bleibe. Dem kann nur energisch widersprochen werden. Daß die Verhältnisse in der Bundesrepublik sich erfolgreich angleichen, zeigt nicht nur das eingangs erwähnte Zusammenwachsen von Ost und West »in Sachen Allergie«. Der Vergleich von Löhnen und Einkommen sowie anderen Parametern ist letztlich doch nichts anderes als eine übertrieben pedantische Zustandsbeschreibung – pingelige Erbsenzählerei. Aber selbst diese belegt, daß der Osten den Westen nicht nur ein-, sondern auch überholen kann: 2010 wurden in Deutschland auf 5.337 Hektar Erbsen angebaut. Während im westlichen Teil der Republik lediglich 558 Tonnen geerntet wurden, waren es im östlichen 598 Tonnen dieser wertvollen proteinhaltigen Hülsenfrüchte. Allen Unkenrufen zum Trotz wurde damit erneut bewiesen: Deutschland wächst zusammen!
Erschienen in Ossietzky 23/2011 |
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