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Eine galgenhumorige Aufforderung aus Heft 3 der an der Humboldt-Universität herausgegebenen Studentinnenzeitung Unaufgefordert schien der Ansporn zu sein: »... laßt uns gemeinsam über eine andere Zukunft nachdenken – noch müssen wir nicht scheitern wie Don Quichotte.« Besondere Anziehungskraft hatte der »Studentenclub Wissenschaft«, der gezielt sogenannte Achtundsechziger einlud, die, inzwischen selber im Lehrbetrieb engagiert, einst als widerständige Studenten an den Hochschulen der Bundesrepublik den »reaktionären Universitätsbetrieb« politisch aufgemischt hatten. Am 10. und 17. Mai 1990 fanden sich dort – nicht zufällig – Organisatoren des »Anachronistischen Zuges« ein, die Brechts Gedicht als anschaulichen Protestmarsch auf die Straße gebracht hatten, zuerst 1978 gegen die Kandidatur von Karl Carstens für das Bundespräsidentenamt, dem die Bonner Republik seine aktive NSDAP-Mitgliedschaft längst verziehen hatte. Brecht hatte gleich nach dem militärischen Ende Hitler-Deutschlands erspürt, wie die Nazis in alle Ämter zurückdrängten, nur jetzt mit dem Ruf »Freiheit und democracy!«. 1980 waren politisch Engagierte auf Initiative der Brecht-Tochter Hanne Hiob mit den gut aufbewahrten Requisiten erneut auf die Straße gegangen. Auf dem langen Weg von Sonthofen bis Bonn protestierten sie gegen die »Sammlungsbewegung zur Rettung des Vaterlandes«, die Franz Josef Strauß mit den Slogans »Freiheit statt Sozialismus« und »Freiheit statt Enteignung« in seiner Kandidatur zum Bundeskanzler unterstützte. Hanne Hiob war in Berlin nicht nur als prominente Schauspielerin in Brecht-Stücken bekannt, sie hatte auch unbeirrt gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik und dann folgerichtig gegen den Vietnamkrieg protestiert. Weil ihr die weißgewaschenen Nazibiografien von Regierenden und Prominenten aller Art ein Greuel waren, hatte sie Brechts Gedicht »Der anachronistische Zug« mit tatkräftiger Unterstützung des Berliner Ensembles in augenfälliger Inszenierung im wahrsten Sinn des Wortes »in Gang gesetzt«. Die HUB-Studenten und Redakteure von Unaufgefordert hörten interessiert an, was da über diesen jahrelangen Protest berichtet wurde. Und als die Organisatoren von Plänen erzählten, angesichts der fatalen Brisanz des Wendejahres mit diesem bitter ernsten Politspektakel nach Berlin zu kommen, war eine spontane Einladung durch die Studenten nur folgerichtig. Schon wenige Tage später bildete sich ein Unterstützerkomitee. Dazu gehörten die Antifaschistin Esther Bejarano, Frank Deppe, Jutta Ditfurth, Bernt Engelmann, Dietrich Kittner, Helmut Ridder, Dorothee Sölle, Gregor Gysi, André Brie, Stephan Hermlin, Jürgen Kuczynski, Hans Modrow, Ekkehard Schall, Steffi Spira, Renate Richter und Manfred Wekwerth, Markus Wolff, Hans-Eckardt Wenzel, Steffen Mensching und Barbara Thalheim. Am 18. November 1991 starteten dann mit der provokativen Losung »Wir sind das Volk« in Bonn die Gedichtdarsteller mit ihren 50 ausgemusterten Militärfahrzeugen, alten Luxuslimousinen und Motorrädern und kamen im nunmehr ungeteilten Berlin am 2. Dezember nach zweiwöchiger Fahrt an. Beeindruckt von der überzeugenden politischen Forderung und der künstlerischen Gestaltung des Zuges schlugen einige Mitglieder des Studentenrates vor, den Zug für einige Zeit als »Gesamtkunstwerk« im Innenhof der HUB aufzustellen. Den Studenten und der Mitorganisatorin des Zuges, Barbara Friedrich, versprach ich, diese Anregung dem Akademischen Senat vorzutragen, nicht ahnend, welche Kontroverse ich damit auslösen würde. Hier nur einige Argumente, mit denen Senatorinnen und Senatoren ihrer Empörung gegen die Ausstellung der Brecht-Gedicht-Inszenierung im Hof zum Ausdruck brachten: Dieser Zug habe überhaupt nichts mit Wissenschaft zu tun ..., eine künstlerische Leistung sei nicht zu erkennen ..., die Botschaft sei pure kommunistische Propaganda, von der wir doch nach 40 Jahren endgültig genug hätten ..., Brecht sei durch den Zug instrumentalisiert worden. Außerdem sei dieses Spektakel vor den Bürgerrechtlern nicht zu verantworten, würde dem Geist der Wiedervereinigung schaden, das Ansehen der Universität schädigen, denn für die HUB sei jetzt in einem breiten Bündnis das Wohlwollen der CDU wichtiger. Deshalb solle ich umgehend den Rat von Lothar de Maizière einholen. Große Zustimmung bekam dann die Warnung des Baudirektors Krause, der prophezeite, daß die Betondecke des Innenhofes Risse bekäme, wenn dort so schwere Fahrzeuge geparkt würden. Die drei Studenten im Akademischen Senat wurden nur von den Kollegen der Germanistik und einem Philosophen unterstützt, die respektvoll über die Aktualität des Brecht-Gedichtes sprachen. Angesichts dieser verblüffenden Aufregung ließ ich über den »Anachronistischen Zug« im Senat nicht abstimmen, sondern entsprach als Rektor der Bitte der Studenten und übernahm persönlich die Verantwortung dafür, den ganzen Innenhof der HUB vorübergehend zu einer Mahn- und Nachdenkstätte deutscher Unfriedensgeschichte zu machen. Am 7. März 1991 wurde dann endlich das ambulante antifaschistische Mahnmal in Anwesenheit von Hanne Hiob mit der Rezitation des Brecht-Gedichtes von 1947 durch Ekkehard Schall eröffnet. Die in großer Zahl teilnehmenden Studenten und Hochschullehrer waren von der Aktualität der Brecht-Verse betroffen. Im »Studentenclub Wissenschaft« wurde ein Begleitprogramm zur Diskussion angeboten: »Brecht statt Deutschland, Deutschland über alles«. Am 18. und 19. Januar 1992 tagte im Auditorium Maximum der HUB der Kongreß »Wohin zieht der anachronistische Zug?« Dazu hatte ich noch als Rektor 20 Referenten aus elf Ländern persönlich eingeladen, die dann mit den etwa 450 Teilnehmern diskutierten. Ich mußte die Tagungsteilnehmer allerdings schon als »abgesetzter« Rektor begrüßen, aber schließlich hatten mir der Akademische Senat und die Studenten nach der Entlassung durch den Senator noch einmal ausdrücklich das Vertrauen ausgesprochen. In meiner Einleitung sagte ich unter anderem: »Der ›Anachronistische Zug‹ ist für mich auch eine Metapher dafür, daß man Vergangenheit nicht ›bewältigen‹ kann, denn es gibt keinen Schlußstrich. Diese Vergangenheit ist mit uns bis heute unterwegs, allerdings meistens nicht so ärgerlich sichtbar. Bewältigen müssen wir aber die Gegenwart als Folge dieser Vergangenheit.« Im abschließend formulierten Ratschlag der Referenten heißt es: »... noch nie wurde in den letzten Jahrzehnten so laut nach Freiheit und Demokratie gerufen wie jetzt. Und wie in dem Gedicht stellt sich die Frage: Freiheit für wen und für was?« Heinrich Finks Artikelserie über die Wende-Zeit an der Humboldt-Universität, begonnen in Heft 2/11, wird fortgesetzt.
Erschienen in Ossietzky 21/2011 |
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