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Ossietzky ab Heft 19/10). »London calling to the underworld / Come out of the cupboard, you boys and girls,« heißt es in dem Lied »London Calling« vom gleichnamigen Album der Gruppe The Clash. >Es erschien 1979 – also genau zu dem historischen Moment, als nach dem Rücktritt der Labour-Regierung unter James Callaghan die konservative Partei bei der Neuwahl des Unterhauses die absolute Mehrheit erlangte und Margaret Thatcher erste Premierministerin Großbritanniens wurde. Der in der Folgezeit von ihr praktizierte »Thatcherismus« schlug die ersten von inzwischen vielen gewaltigen Axthieben in den Stamm des britischen Wohlfahrtsstaates; David Cameron ist offenbar entschlossen, ihn endgültig zu fällen. Nach den »Blackberry-Krawallen« Anfang August, den Brandschatzungen und Plünderungen in den heruntergekommenen Stadteilen von London, Manchester, Liverpool und Birmingham, stellte er noch einmal klar, daß er an den Einsparbeschlüssen festhalten werde und die Zeiten »des Wohlfahrtsstaates, der Nichtstun belohnt«, vorbei seien. Die Kommunen rief er dazu auf, verurteilten Randalierern umgehend die Sozialwohnung zu kündigen. Von den heftigen Kürzungen des Polizei-Etats – einschließlich des Stellenabbaus um zwölf Prozent – will der Regierungschef nicht abrücken. Bei weiteren Krawallen könne man ja die Armee oder (wie einst in Nordirland) Wasserwerfer und Gummigeschosse einsetzen. Bei Scotland Yard konnte er damit kaum Anklang finden, zumal dort nach Abhör-, Bestechungs- und Rassismusvorfällen ohnehin schlechte Laune herrscht. Die bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen in den Armenvierteln der englischen Großstädte wurden von den deutschen Medien in der Regel so kommentiert, daß es für sie »natürlich« keine »eindimensionale« Erklärung gebe. Fast verschämt erwähnten die Nachrichtensendungen von ARD und ZDF, England sei eben eine ausgeprägte Klassengesellschaft. Auch die hohe Jugendarbeitslosenquote kam zur Sprache – sie stieg laut dem UK Office for National Statistics zwischen 2006 und 2011 von 14 Prozent auf knapp 20 Prozent. Die britischen Medien hingegen thematisierten vor allem die zögerliche Haltung der Polizei, beklagten den von »Horden brandschatzender Irrer« erzeugten »Abgrund an Exzeß und Amoral« sowie die Konsumgier der Gesellschaft. Leit-Blätter wie etwa die Sun empörten sich über Diebesgut abfahrende Millionärstöchter oder auch eine 18jährige Olympiabotschafterin, die die Plünderungen als »beste Nacht ihres Lebens« bezeichnete. Die deutsche Financial Times ließ immerhin den britischen Soziologen Simon Winlow zu Wort kommen, der in wenigen Sätzen sagt, was Sache ist: »Die Menschen, die da randalieren, leben am Boden der Gesellschaft, sind sozial ausgeschlossen. Sie fühlen sich gedemütigt von Ungerechtigkeiten, denen sie ausgesetzt sind. […] Sie bekommen nicht einmal stabile und einigermaßen befriedigende Jobs. […] Die Randalierer haben keine klare politische Agenda. Sie wiederholen eher den herrschenden Konsumismus – sie brechen in Geschäfte ein. Das ist kein Akt der Revolution, sie sind nicht an Politik im traditionellen Sinn interessiert.« Das Interview mit dem Jugendkulturexperten Winlow schließt mit seiner Anmerkung: »Das fundamentale Problem ist, daß es keine alternativen gesellschaftlichen Visionen gibt – auch die Linke versagt da.« Ich denke, nicht zuletzt die Linke in Deutschland sollte diesen freundschaftlichen Wink mit dem Zaunpfahl ernst nehmen. Die knappe Woche der Gewalt gegen Mitmenschen in den Armenvierteln, darunter kleine Ladenbesitzer, spiegelte die Situation von Jugendlichen, die gesellschaftlich vernachlässigt sind und durch die »Sparmaßnahmen« der Kommunen und Streichung von Bildungszuschüssen für 16- bis 18jährige Schüler noch stärker von sozialer Teilhabe abgeschnitten werden dürften. Die Zeiten, in denen junge Menschen aus der Arbeiterklasse auch ohne gute Schulabschlüsse einen sicher scheinenden Industriearbeitsplatz ergattern konnten, sind passé. Hinzu kommt der Autoritätsverlust der Eltern beziehungsweise alleinerziehenden Mütter, die mangels auskömmlicher Job-Angebote selbst mit dem Rücken zur Wand stehen. Die anhaltende Wirtschaftskrise wird den Riß durch die englische Gesellschaft zweifellos weiter vertiefen. Die sich auf die Olympischen Spiele 2012 vorbereitende Hauptstadt London ist in der EU wenig zufällig die Metropole mit der größten Kluft zwischen Arm und Reich. Sie beherbergt neben Millionären und Milliardären aus aller Welt, die die Immobilienpreise explodieren lassen, auch diejenigen Mitglieder des britischen Establishments, die in den letzten Jahren für die Eskalation einer ganz spezifischen Gewalt gesorgt haben: die Spar- und Steuergelder verbrennenden Investmentbanker und Parlamentsabgeordneten, die eisern kaputtsparende Regierungskoalition sowie die von Murdochs Journalisten bestochenen oberen Polizeibeamten. Sie sind gewiß keine Horden »brandschatzender Irrer«; schlimmer noch, sie sind die brandschatzende Exekutive eines Gesellschaftssystems, das den Ober- und Mittelschichten so lang wie irgend möglich das Leben versüßt wissen will. Nach den Krawallen wurden mehr als 1400 verdächtige Jugendliche wegen Einbruch, Diebstahl und Landfriedensbruch verhaftet. Sie sollen insgesamt einen Sachschaden von 230 Millionen Euro verursacht haben. In Manchester wurden in einer Nacht 60 Randalierer sogleich vor die Gerichte gebracht und in Schnellverfahren zum Teil umgehend verurteilt. Die von den britischen Konzernmedien durchaus wohlwollend verfolgte Praxis der Justiz erinnert fatal an das seit der Aufklärung längst verabschiedet gewähnte Mittelalter. Ein 20jähriger junger Mann, der an Einbrüchen einer Gruppe beteiligt gewesen sein soll, wurde innerhalb von nur zehn Minuten zu einem halben Jahr Haft verurteilt. Der Richter entließ ihn mit den Worten: »Anständige Mitglieder der Gesellschaft haben Leute wie Sie satt, wir sind Ihrer müde. Sie glauben, Sie könnten machen, was Sie wollen. Aber Sie haben Ihre Freiheit aufs Spiel gesetzt und sie jetzt verloren. Ich werde an Ihnen ein Beispiel statuieren.« Wie lange wird es wohl dauern, bis die Mehrheit der britischen Gesellschaft die herrschende polit-ökonomische Klasse satt hat, und ihr in einem Schnellverfahren die Freiheit nimmt, immer mehr (jungen) Menschen die Chance auf ein würdiges Leben in Freiheit zu rauben?
Erschienen in Ossietzky 17/2011 |
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