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Beim Lesen von Trotzkis Ausführungen über die Weltrevolution in »Mein Leben« (1930) fiel Jünger beispielsweise auf, wie man den (Ersten) Weltkrieg hätte gewinnen können. »Es ist unzweifelhaft, daß uns die ganze verbündete Welt nicht hätte widerstehen können, wenn wir die Führung des Weltkrieges mit einem weltrevolutionären Anspruche von höchstem Range verbunden hätten.« Seine Schlußfolgerung: Mit einer »weltrevolutionären Tendenz« habe sich die »nationale Besinnung« in Deutschland zu verbünden, »weil sie die eigene Macht in demselben Maße beschwingt, in dem sie die des Gegners lähmt.« (Ernst Jünger: Trotzkis Erinnerungen, in: Widerstand, Februar 1930). Über die Revolution in Deutschland macht sich fünfzig Jahre später auch Rainald Goetz Gedanken. Ihn zieht es 1981 zu Agitations-Teach-Ins von Karl Held, dem »schönen Hohenpriester« der Marxistischen Gruppe (MG). Aufgeregt berichtet Goetz in seinem Roman »Irre«: »Auch wenn man nicht alles sofort verstand, während Herr Doktor Karl Held sprach«, habe er, Goetz, etwas in sich gespürt. »Eine Sehnsucht nach Teilhabe an diesem Durch- und Überblick, den Doktor Karl Helds Worte zu versprechen schienen, Teilhabe, die zu gewinnen war durch Eintritt in jenen Verein, unter dessen Mitgliedern man hier saß, einer von einigen Hunderten, einer werden, dachte man, von den möglicherweise Tausenden, die durch hoch angestrengte theoretische Arbeit die entsagungsvolle revolutionäre Praxis leisteten, belohnt wurden jedoch durch eben diesen Lebenssinn, Weltveränderung!, Sinn von verlockend unmittelbarer Evidenz.« Drei Stunden später, abends, auf dem Weg nach Hause, ist sich Goetz sicher, daß es in dem Vortrag zur »Psychologie des bürgerlichen Individuums«, den er gehört hatte, vor allem um ihn persönlich gegangen war. Während Goetz unruhig schläft, ob der Frage, sich den »marxistischen Denk-Kriegern« (so Goetz) anzuschließen, ist ein anderer Denk-Krieger, Ernst Jünger, im Morgengrauen aufgestanden, hat kalt gebadet, ist Seil gesprungen, hat gefrühstückt und eine Patience gelegt. Jetzt sichtet Jünger die Post und öffnet einen Brief von Walter Patt. Der Privatdozent am Philosophischen Seminar der Johannes-Gutenberg-Universität zu Mainz versucht, zwischen Carl Schmitt und Herbert Marcuse Brücken zu schlagen und steht mit Jünger seit 1975 in regem Gedankenaustausch. Ein Vortrag der Marxistischen Gruppe an der Universität Mainz hat Walter Patt angeregt, Karl Helds Buch »Die Psychologie des bürgerlichen Individuums« (München 1981) zu lesen, und heute berichtet er Ernst Jünger von seiner Lektüre. Jünger notiert in sein Tagebuch unter dem 12. Februar 1981, daß die Marxistische Gruppe eine »neo-marxistische Studentenverbindung« sei, die »sich von unmittelbaren Aktionen freihält« und lediglich »Bewußtseinsarbeit« leiste. In dem Buch »Die Psychologie des bürgerlichen Individuums« werde, so habe ihm Patt geschrieben, eine »treffende Kritik am Selbstmord« geübt. Jünger schreibt eine zentrale Passage des MG-Textes in sein Tagebuch: »Der Selbstmordkandidat befindet sein höchstpersönliches moralisches Lebensprogramm, in dem allein er sich selbst gefallen will, für gescheitert und fortan undurchführbar – aber ohne auch nur im geringsten an den Kriterien irre zu werden, als deren Charaktermaske er einzig und allein sich selbst gelten lassen und sogar überhaupt leben will.« Hmm, »stilistisch nicht eben geglückt« sei das, kritisiert Jünger. Aber es sei ein »doch zu unterstreichendes Urteil; es entspricht der Verfügungsgewalt, die ich dem Anarchen zubillige.« Der Anarch ist für Jünger die positive Entsprechung zum rein »negativen« Anarchisten. Der Anarch ist ein unabhängiger Mensch, der »eine neue Konzeption der Freiheit« verfolge, jemand, der sich sein Leben nicht vorschreiben lasse. Und da könne der Suizid durchaus der sinnvolle Endpunkt einer aktiven Lebensgestaltung sein, wenn der Mensch sich »der unmöglich gewordenen Existenz« gewiß sei (Ernst Jünger: »Über die Linie«, 1951). Jünger liest den marxistischen Text auf eigene Art. In ihm ging es eigentlich um eine »Kritik am Selbstmord«. Karl Held urteilt, der Suizid sei eine »moralische Spinnerei«. Der Selbstmordkandidat messe sein Leben an persönlichen Vorstellungen davon, unter welchen Bedingungen seine Existenz lebenswert sei. Schlimme Umstände seines Daseins erkläre der am Leben Zweifelnde zu Argumenten gegen sich. Daß er mit Schicksalsschlägen nicht klar komme, sei für den Lebensmüden kein Grund zur Revolte, sondern ein Beweis, daß er einem Maßstab von Tauglichkeit nicht genüge, dem er sich bereitwillig unterwerfe. Indem der Selbstmörder dann seine »unmöglich gewordene Existenz« (Jünger) beende, sich »über die Linie« (Jünger) befördere, bringe er der von ihm akzeptierten bürgerlichen Gesellschaft ein brutales Eigenopfer – so die Kritik am Selbstmord seitens der Marxistischen Gruppe. Der ironisch-kritische Ton des Textes ist Jünger entgangen. Das Umfeld, in dem das MG-Zitat steht, nimmt er nicht zu Kenntnis. Und deshalb wundert sich Jünger: »Merkwürdig ist die Quelle, da der Marxismus den Selbstmord notwendig als Fahnenflucht aus der Gesellschaft verurteilen muß. Das gilt für alle Parteien und Gemeinden; das unehrliche Begräbnis an der Mauer ohne Kreuz und Namen scheint für den Selbstmörder fast noch zu gut.« Fahnenflucht, ein unehrliches Begräbnis: Jünger selbst hatte einst die Erschießung eines deutschen Deserteurs beaufsichtigt (Jünger: »Sarg kaufen, übliche Größe, billigste Ausführung«. Tagebuch, 29. Mai 1941; in der veröffentlichten Fassung des Tagebuchs fehlen die Sätze zur Organisation der Erschießung). Und so schweben beim Tagebuchschreiben 40 Jahre später, am 12. Februar 1981, Jüngers Gedanken ab, hin zur schönsten Zeit seines Lebens, als er im Weltkrieg durch Gärten und Straßen, Parks, über die Friedhöfe von Paris flanierte und unehrliche Begräbnisse zu verantworten hatte: »So wurde es auch auf dem Pariser Soldatenfriedhof gehalten; mich erstaunte die Mißachtung, die in den Vorschriften zum Ausdruck kam. Es ist zu billig, den Selbstmord entweder als Feigheit oder als Verbrechen zu verabscheuen, denn er setzt sowohl Mut wie ein starkes Bewußtsein des eigenen Rechtes voraus.« (Ernst Jünger: »Siebzig verweht III«, Stuttgart 1993, S. 18f.) Walter Patt hat Ernst Jünger offenbar nie über seine eigenartige Leseweise des Textes über den Selbstmord des bürgerlichen Individuums aufgeklärt. Da Jünger nur befreundete Artikel zur Kenntnis nahm, wußte er auch nicht, wie die Marxistische Gruppe ihn, Ernst Jünger, sah – was ihm auch egal gewesen wäre. Ernst Jünger verstehe man nur über seine Einstellung zum Tod, meint die Marxistische Gruppe. Jünger habe »noch jede Schlächterei als ein inneres Abenteuer« gesehen. »Kriege, Leichen kommen ihm gerade recht, um sich als Zuschauer in einem gigantischen Theater zu imaginieren, den das ganze Geschehen einzig als Material seines Genusses interessiert.« Jünger – so heißt es weiter im Magazin der Marxistischen Gruppe MSZ – sehe im Tod eines Soldaten »einen ungeheuren Sinn, dem er seine Anerkennung nicht versagen mag«. Ihn fasziniere, wie der Staat seine Macht im Kriege durchsetze. Er nehme die Gewalt des Staates nur als Stilfrage wahr. Und es sei ergänzt: den Selbstmord auch. * Nachsatz: Ernst Jünger starb 1998, Walter Patt 2008, Karl Held 2011. Rainald Goetz ist gesund und munter. Die Marxistische Gruppe löste sich 1991 auf, nachdem der Verfassungsschutz den Radikalenerlaß auf die Privatwirtschaft auszudehnen versuchte und Unternehmen vor MG-Angehörigen in der Belegschaft warnte. Einige Theoretiker der Gruppe publizieren heute in der Zeitschrift Gegenstandpunkt.
Erschienen in Ossietzky 15/2011 |
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