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Über den Wert von Tagebüchern entscheidet nicht das Talent des Verfassers – denn die Zusammenhanglosigkeit der Bemerkungen hindert doch die Entstehung eines literarischen Meisterwerks –, sondern der Rhythmus der allgemeinen und persönlichen Ereignisse, die registriert werden.« (3. Oktober 1910) Der Schriftsteller, Bänkelsänger und Bohémien Erich Mühsam, der 1934 nach monatelanger Folter von den Nazis ermordet wurde, hat mit seinen Tagebüchern ein literarisches Meisterwerk hinterlassen, dessen Kulturdauer – 100 Jahre nach seiner Entstehung – unbestreitbar ist. Endlich werden sie gedruckt und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Kürzlich erschien der erste von 15 vorgesehenen Bänden, der die Zeit von August 1910 bis Oktober 1911 umfaßt. Der letzte soll 2018 vorliegen. Mühsam beginnt sein Tagebuch während eines Sanatoriumsaufenthalts in der Schweiz. Als Lektüre halten ihn Varnhagens Tagebücher in Spannung. Er schreibt über das Jahr 1844 von der »großen revolutionären Sehnsucht ... inmitten aller Kläglichkeit« und vergleicht die damaligen Ereignisse mit denen seiner Zeit: »Das ist der Triumph der Pressefreiheit, die damals erkämpft wurde, daß die Presse selbst über alles, was geistiger Wert heißt, eine Zensur übt, die viel ärger ist als die schlimmste Polizeizensur.« Erich Mühsam wurde 1878 geboren und wuchs in Lübeck in einer gut assimilierten jüdischen Familie auf. Von den vier Kindern waren drei so, »wie er (der Vater; S. K.) sie haben wollte, brav, fleißig und gehorsam, und nur ich schlug aus der Art.« Mit seinem Vater verbindet Mühsam neben Respekt und Sympathie vor allem die Erinnerung an unsagbare Prügelstrafen. »Man kannte meine Neigung, Bücher zu lesen. Nie erhielt ich welche geschenkt ... Geld bekam ich nie in die Hand ... Ich denke mit wahrem Grauen an die Tage, wo ich herumschlich, angstvoll auf die versprochenen Keile zu warten.« Für »unterschlagene 20 bis 30 Pfennige« wurde ihm eine »dreifache Auflage von Prügeln zudiktiert«, »d. h. ich hatte an drei Tagen hintereinander mich zum Empfang der Strafe zu melden.« Für seine Neugier und Empfindsamkeit fand er weder im Elternhaus noch in der Schule Verständnis – im Gegenteil wurde er bestraft und von Vergnügungen ausgeschlossen. Seine Mutter fügte sich dem autoritären Regime des Vaters. Fehlende Anerkennung und bitter entbehrte Herzenswärme prägten sein Leben. Nach der Kur in der Schweiz, wo Mühsam sein Tagebuch begonnen hatte, kehrte er nach München zurück, seinem damaligen Wohnort. Auch wenn Sorgen um Geld, das oft nicht zum Existenzminimum reichte, seinen Tagesablauf bestimmten, half er großzügig denen, die noch weniger besaßen. »Cilla jammerte ... über ihre Geldlosigkeit. Schließlich versprach ich ihr, am 1. Oktober die 9 Mark zu zahlen, die die Verpflegung ihres Kindes in Zürich kostet, schenkte ihr auch gleich 2 Mark, damit sie nur erst ruhig sei.« – »Der Monat fängt mit Geldsorgen an. Onkel L. schickte ... nur im ganzen 100 Mk. – 44 sind schon an Johannes abgeschickt. Die Rechnung hier beträgt mit Trinkgeld 46 Mk. Was bleibt da als Taschengeld für Oktober, zumal ich 5 Mk unbedingt an Frieda zurückgeben muß, die ich gestern im Café Wittelsbacher Passage traf und anpumpte? Mit Frau v. Ruttersheim war ausgemacht, daß sie die Chansons vor dem 1. Oktober zu zahlen habe. Also den Vertrag hat sie schon gebrochen; ob sie nun noch nachträglich anständig sein wird? Ob ich die 500 Mk ... zu sehn bekommen werde? Alle meine Erfahrungen sagen nein.« – »Daß Papa sich nicht rührt, ärgert mich schwer ... Ich habe keinen Anzug am Leibe, mit dem ich mich in einträglicherer Gesellschaft sehn lassen kann. Ich trage zerrissene Stiefel, weil mich die 4 Mk 50 reuen, die das Besohlen kostet. Ich habe viel zu wenig Wäsche, und überall haperts und fehlts. Sobald der Vater stirbt, bin ich ein begüterter Mann.« Im Juni 1911 kann er 3000 Franken leihen. Nicht einmal drei Monate später ist die Summe ausgegeben. »Aber es war doch große Freude, als ich nachhause kam und einen richtigen echten rosafarbenen Tausendfrankenschein schwenkte und Iza 120 Fr. für ihr Doktorexamen und noch 80 für Extra-Ausgaben aushändigte. Johannes soll außerdem noch 50 Fr. kriegen.« – »Die Checks für Gross (100 Fr.) und Margrit (195 Fr.) habe ich schon in der Tasche ... Außerdem leistete ich mir mal wieder das Vergnügen, mit dem Puma (Puppenmacherin Lotte Pritzel; S. K.) Einkäufe zu machen. Ich schenkte ihr eine neue Handtasche, einen Unterrock und etliche Paar Strümpfe, was gegen 25 Mk kostete, und kaufte mir selbst für etwa 12–15 Mk Hemden und Strümpfe ...« Als ebenso abenteuerlich und unstet beschreibt er sein Liebesleben: »Das süße Puma! ... Alle meine Ideale und Theorien von Weib und Freiheit sind in ihr lebendig ... Ob ich sie mehr liebe als Frieda? Ich weiß es nicht.« Keine junge Künstlerin, kein Zimmermädchen entgeht seinen stürmischen Annäherungsversuchen. Und er fragt sich: »Wie ist es bloß möglich, ... daß ich so maßlos wenig Glück bei den Frauen habe?« Die Frauen seines Alltags werden beschrieben und nach Nützlichkeit taxiert. Daneben gibt es Frauen, die er verklärt, die für ihn unerreichbar sind, wie die Schauspielerin Gertrud Eysoldt: »Sie hat einen Ausdruck im Gesicht, daß ich vor ihr knien möchte ... Ihre Stimme ist Engelsmusik, ihre Hände – so stark, ja so männlich sie sind – vibrieren von aller Kunst und Schönheit.« Die Ablehnung jeglichen Zwangs durchzieht Mühsams Leben und Werk wie ein roter Faden. Aus seiner Kritik am »guten Bürgertum«, besonders an der Sozialdemokratie, spricht fundiertes Wissen. Da sind viele Sätze heute noch aktuell. Anläßlich des Sozialistenkongresses in Kopenhagen 1910 notiert er: »Es ist doch schmachvoll, wie diese deutschen Sozialdemokraten ihren Beruf als Volksführer auffassen, mit was für Mätzchen und Kniffen sie sich um die selbstverständlichsten Pflichten herumdrücken ... Das Votum der Deutschen Sozialdemokraten kann bei der Regierung gar nicht anders verstanden werden als: ›Wenn ihr Krieg führen wollt – auf uns, auf die deutsche Arbeiterschaft könnt ihr euch verlassen!‹« Bezug nehmend auf einen Vorwärts-Artikel kritisiert er dessen Parteinahme: »Es ist durchaus wahrscheinlich, daß grade die Arbeiterschaft in sehr berechtigter Wut gegen die Streikbrecher, die unter dem Waffenschutz der hohen Polizei ihr jämmerliches Geschäft verrichten, vielleicht unter Drohungen protestiert haben. Dann ist die Polizei mit Brownings und Plempe dazwischengefahren und hat eine wahre Revolte hergestellt. Der Vorwärts ... stände würdiger da, hätte er von vornherein jeden Angriff auf die Arbeiterverräter und die bezahlten Verbrecher in Schutzmannshelm gutgeheißen.« Nach einem Vortrag über den Spielplan der Volksbühnen kommt Mühsam zu der Einschätzung: »Man kann den Arbeitern viel differenziertere geistige Anstrengung zumuten, als dem bürgerlichen Zeitungsleser, der alles sehr schön tranchiert, zergliedert und womöglich vorgekaut serviert haben möchte.« Kurzweilig und informativ sind die Tagebucheintragungen über die zahlreichen Begegnungen und Korrespondenzen mit Künstlern und Gelehrten wie Gustav Landauer, Johannes Nohl, Frank Wedekind, Otto Gross, Max Reinhardt. Sie zeichnen ein lebendiges Bild der Bohème-Szene in Schwabing vor 1914. Den Herausgebern Chris Hirte und Conrad Piens gebührt Dank und Respekt. Ihre sorgfältige Edition erreicht eine breite Leserschaft, denn neben der gedruckten Fassung (Verbrecher Verlag) ist der gesamte Text nebst Register auch im Internet unter www.muehsam-tagebuch.de zu finden. Weiterführende Anmerkungen sowie das digitalisierte originale Manuskript werden per Klick sichtbar. So haben diese Aufzeichnungen (insgesamt rund 7000 Seiten) auf vielen Umwegen über Prag, Moskau und Ostberlin nun den Weg zum Publikum gefunden, das ihren Reiz und Wert vermutlich nicht so sehr in den »registrierten allgemeinen und persönlichen Ereignissen«, als vielmehr in der scheinbaren Leichtigkeit des Schreibstils finden wird, dem Talent des Verfassers. Sabine Kruse ist Mitbegründerin und Vorsitzende der Erich-Mühsam-Gesellschaft.
Erschienen in Ossietzky 15/2011 |
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