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Auf dem Pfarrertag der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, ausgerechnet hier, wo Martin Niemöller einst Kirchenpräsident war, fuhr er schweres Geschütz auf, diesmal gegen die bundesrepublikanische evangelische Kirche in den 1970er und 80er Jahren im allgemeinen und gegen »westdeutsche Theologen« im besonderen: Mit ihrer »Linkslastigkeit« hätten sie »bei ihren Besuchen in der DDR den Glaubensgeschwistern weismachen« wollen, »sie litten im Kapitalismus unter schlimmeren Zuständen«, und sie hätten »den Begriff Freiheit negativ besetzt«. Gauck, so glaubt er, weiß heute alles, auch das, was sich in der deutschen (Kirchen-)Geschichte seit 1945 zugetragen hat. Das war in den 1950er/60er Jahren noch anders, als er in Rostock Theologie studierte. Damals fand er laut Wikipedia »kaum Zugang zur Kirchengeschichte« – schade. Aus nächster Nähe hätte er beobachten können, was sich damals in den evangelischen Landeskirchen in West- und Ostdeutschland abspielte. In jenen Jahren fing der Mehrheitsprotestantismus nach den Worten des damaligen Ratspräsidenten der Evangelischen Kirche in Deutschland, Otto Dibelius, »dort wieder an, wo er 1933 aufhören mußte«, und verbreitete nun weiterhin seinen Antikommunismus, seine menschenfeindliche Sexualmoral, seine Frauenverachtung (1954 forderte die Kirche, an einer »gewissen Entscheidungsbefugnis« des Vaters gegenüber der Mutter müsse »festgehalten werden«) und schließlich seinen herkömmlichen Militarismus, der kurz zuvor noch »in großer Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Partei- und Staatsführung« den deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieg, besonders nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941, »mitgetragen und durchgestanden« hatte (so Günter Brakelmann in »Kirche und Krieg«, 1979). Für all diese Aktivitäten eignete sich vorzüglich das schon 1949 geschaffene System der »Kirchenpartnerschaften«, wonach jede Landeskirche in Ostdeutschland eine westdeutsche Landeskirche als »Partnerkirche« erhielt, zum Beispiel die Landeskirche Sachsens die hannoversche und die Landeskirche Mecklenburgs, in der Gauck ab 1967 seinen Dienst tat, die bayerische. Desgleichen wurden den einzelnen Kirchengemeinden Partnergemeinden zugeordnet. Dieses sehr früh gesponnene Netz gewährte den westdeutschen Kirchen ein reiches Betätigungsfeld und erwies sich als besonders glücklicher Umstand für die westdeutsche Regierungspolitik in ihrem Kampf gegen die »Sowjetzone«. So entstand bald eine intensive »Päckchenpartnerschaft« von West nach Ost, seit 1955 ergänzt durch den »Kirchlichen Bruderdienst«, einen »Spendendienst« von Pfarrern für Pfarrer, später auch für kirchliche Mitarbeiter, der, zunächst illegal betrieben, ab 1957 vertraglich mit der DDR geregelt wurde. Bis in die späten 60er Jahre wurde, vielfach ungefragt, das Geld in Höhe der Kirchensteuern den westdeutschen Brüdern vom Gehalt abgezogen. So wuchs das »Spenden«-Aufkommen« kontinuierlich: von 938.000 Mark 1955 auf sieben Millionen Mark 1992. Insgesamt erbrachte der »Bruderdienst« 243 Millionen Mark. Der antikommunistische Kirchenkampf erreichte 1959 in der »Obrigkeitsschrift« des langjährigen Ratsvorsitzenden Dibelius seine höchste Vollendung. Darin kam der Verfasser zu der Einsicht, er brauche die Verkehrsregeln in der »Sowjetzone« nicht zu beachten, weil die »Obrigkeit« dort, anders als das Nazi-Regime und alle früheren »Obrigkeiten«, nicht »gottgewollt« nach Kapitel 13 des Paulus-Briefs an die Römer sei. Sein Stellvertreter, dem die »Obrigkeitsschrift« gewidmet war, Hanns Lilje, distanzierte sich zwar zunächst von dem Machwerk, zwei Jahre später war er allerdings an den »Dibelius-Standpunkt« herangerückt. Das wurde deutlich in seinem berüchtigten »Flinten-Interview« bald nach dem 13. August 1961, in dem er den Christen in der DDR einen aktiven Widerstand nahelegte, etwa »zur Flinte zu greifen«, allerdings nicht »voreilig«. Zu solchen Vorstellungen bemerkte damals der Präses der westfälischen Landeskirche, Ernst Wilm, sie führten hinein »in die Kreuzzugsideologie, die in Westdeutschland so eifrig propagiert wird«, und Lilje mute »den DDR-Christen dabei die Rolle einer Fünften Kolonne zu«. Wilm hatte Recht. Doch angesichts der Rechtslastigkeit des Mehrheitsprotestantismus um Dibelius und Lilje hatten er und die Bruderschaften um Martin Niemöller in ihrem Kampf gegen den kirchlichen Antikommunismus, gegen Remilitarisierung und die geplante Atombewaffnung der Bundeswehr nie eine Chance, sich durchzusetzen, weder in der EKD- Synode, noch bei den allermeisten Pfarrern, geschweige in den westdeutschen Gemeinden. Kanzler Adenauer hatte das früh erkannt. Er wußte, welchen Wert die evangelischen Kirchenpartnerschaften für seine restaurative und antikommunistische Militärpolitik hatten. Schon 1953 hatte sein Staatssekretär Franz Thedieck (zur Zeit der Judenverfolgung Oberkriegsverwaltungsrat und Generalreferent im Büro des Militärbefehlshabers Belgien) formuliert, was auch für die späteren Regierungen galt: »Es kann kein Zweifel darin bestehen, dass die christlichen Kirchen zu den wesentlichsten Kräften gehören, die den Menschen in der sowjetischen Besatzungszone seelischen Zuspruch in ihrer Auseinandersetzung mit den kommunistischen Einflüssen aller Erscheinungsformen geben ...« Durch die Ostermarschbewegung, die Studentenbewegung und den Einfluß, den überzeugende Theologieprofessoren wie Helmut Gollwitzer, Heinrich Vogel, Ernst Käsemann und nicht zuletzt die Theologin Dorothee Sölle gewannen, änderte sich die Haltung vieler westdeutscher Theologen in den 70er Jahren. Sie sahen ihre pfarramtliche Aufgabe nun auch darin, einzutreten gegen den verbrecherischen Vietnamkrieg der USA, für die Freiheit des vietnamesischen Volkes; gegen die Apartheid, für die Freiheit Mandelas und der Schwarzen in Südafrika, namentlich für den Sonderfond des Antirassismusprogramms des Ökumenischen Rates, den einige Landeskirchen strikt ablehnten; gegen die menschenfeindliche Sexualmoral der Kirchen; gegen die Berufsverbote in der Bundesrepublik, gegen die Notstandsgesetze und die Hetzpropaganda der erstarkenden NPD; gegen Waffenexporte deutscher Konzerne und die Gefahren der Atompolitik. Dieses Engagement brandmarkt nun erwähnter Joachim Gauck mit dem Ausdruck »Linkslastigkeit«. Sie ist ihm ein Gräuel. Mit seiner Kritik in Frankfurt zeigt er der evangelischen Kirche die Richtung an, in die sie wohl gehen soll: Zurück in die 50er Jahre! Zurück zur Restauration! Zurück zur Rechtslastigkeit der Kirche! Enttarnt endlich auch alle »linkslastigen westdeutschen Theologen« und stellt sie vor das Jüngste Gericht! Ich, der große, vielfach geehrte Gauck will dabei helfen ... Dagegen ist nun wirklich Widerstand geboten.
Erschienen in Ossietzky 14/2011 |
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