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Juni 2010 hat Belgien keine Regierung mehr, das sprachgeteilte Land ist seit einem Jahr in einer Art Ausnahmezustand. Die Belgier sind zu rund 60 Prozent Flamen und 40 Prozent Wallonen, dazu gibt es noch eine kleine deutsche Minderheit. Lange Zeit hatten die frankophonen Wallonen das Land dominiert, die Flamen mit ihrem niederländischen Dialekt galten als Bauerntölpel. Vor allem durch seine Kolonien war das Land wohlhabend. König Leopold II. betrachtete das riesige Gebiet des Kongo als seinen Privatbesitz und errichtete dort das grausamste Kolonialsystem Afrikas. Am Brüsseler Hof wurde ausschließlich französisch gesprochen, wer in der Verwaltung und in den Kolonien reüssieren wollte, mußte französisch parlieren. Das hat sich gründlich geändert. Während der wallonische Bergbau und die Stahlindustrie in den 1970er Jahren wegbrachen und die Kolonien unabhängig wurden, entwickelte sich Flandern zum prosperierenden Industriezentrum. Was zunächst nur zu einem stärkeren flämischen Selbstbewußtsein führte, radikalisierte sich 2007. Die extreme flämische Rechte fordert nichts weniger als die Unabhängigkeit, einen eigenen Staat. Die Wallonen klammern sich an die Idee des Bundesstaates, sehen im Zerfall des Landes die größte Gefahr. Während der französische Süden traditionell links wählt, rücken die nationalistischen Flamen immer weiter nach rechts, die rechtsradikale Partei Vlaams Belang vertritt mit dem Slogan »Eigen volk eerst« eine stramm völkische Politik und setzt sich auch für die Rehabilitierung von Nazi-Kollaborateuren ein. Die Neo-Flämische Allianz (NVA) war bei der Wahl 2010 mit 30 Prozent der große Sieger. Daran scheiterte bisher die Neubildung der traditionellen Regierungskoalition zwischen linken Frankophonen und rechten Flamen. Der Streit um die Verteilung der Mittel eskaliert. Vor allem die Region Brüssel mit ihrer komplizierten Demographie steht erneut im Brennpunkt. Die Stadt selbst ist französischsprachig, im Umland dominiert hingegen das Flämische. Die flämischen Nationalisten fordern die Eingliederung des flämischen Gürtels in die Region Flandern. Stell dir vor, das Land hat keine Regierung, und keiner merkt es ... – Theoretisch kann Belgien bis zur nächsten Wahl im Mai 2014 mit einer geschäftsführenden Regierung leben. Das Chaos ist bisher ausgeblieben, die Verwaltung arbeitet normal, es gibt nach wie vor die leckersten Fritten und die beste Schokolade. Außer einigen Studenten, die sich bis zur Bildung einer neuen Regierung nicht rasieren wollen und einigen Belgierinnen, die zum Sexstreik aufriefen, stört es kaum jemanden, daß es keine richtige Regierung gibt. Das Land hat sogar in der zweiten Hälfe des Jahres 2010 dem Europarat vorgestanden. Gesetze wie das Burkaverbot wurden verabschiedet, der Einsatz in Libyen wurde im Parlament beschlossen. Eine Regierung, die nicht gewählt ist, kann auch nicht gestürzt werden. Wenn es tatsächlich gelingen sollte, doch noch einen Kompromiß zu finden, dann nicht auf Drängen von König Albert, sondern seiner Majestät dem Finanzmarkt. Dem ist ein Land ohne Regierung suspekt, es droht ein Verlust der Kreditwürdigkeit. Also wurde Elio de Rupo, der Vorsitzende der Sozialisten, Mitte Mai vom König beauftragt, bis zum Sommer eine Regierung zu bilden. Aber schon im Juli 2010 hatte er diese Aufgabe nicht lösen können. Zwischendurch hatte auch mal Bart de Wever, sein flämischer Gegenspieler, den gleichen Auftrag. Wenn demnächst in Brüssel über ein europäisches Rettungspaket für Belgien verhandelt werden sollte, böte es sich vielleicht an, das Land nicht zu retten, sondern einfach aufzulösen. Die Auflösung des Königreichs Belgien wäre nach knapp 200 Jahren ein Ende ohne großen Schrecken. Wallonen und Flamen sind sich in herzlicher Abneigung zugetan, die von Albert II. symbolisierte nationale Identität ist eine leere Hülle, das reiche Flandern möchte nicht mehr die wallonischen Sozialkassen füllen. Was könnte aus Belgien werden? Die Flamen, auch dem niederländischen Nachbarn wenig zugeneigt, könnten sich für unabhängig erklären. Die Wallonie würde vielleicht zur 23. Region Frankreichs werden, was allerdings der französischen Arbeitslosenstatistik nicht gut täte. Und Brüssel? Das würde wohl zur exterritorialen Hauptstadt der Europäischen Union.
Erschienen in Ossietzky 14/2011 |
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