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Ein Akt fröhlich-verzweifelten Ungehorsams, ohne politische Führer oder rechtlich Verantwortliche. Und auch ohne die klassischen Forderungen nach mehr Gehalt oder nach Arbeitsplätzen. In den Resolutionen stehen Dinge wie die Abschaffung der Politiker-Privilegien, das Recht auf Wohnung, ein hochwertiger öffentlicher Dienst, Kontrolle der Banken, Bürgerfreiheit und Basisdemokratie, Reduzierung des Militärbudgets. Unter der Parole »Wir gehen nicht, wir entwickeln uns weiter« wurden die Aktionen in Madrid fürs erste beendet, aber in Barcelona haben die Katalanen ihren Tahrir-Platz gefunden. Es ist der Beginn eines großen Mißtrauens in ein System, in welchem der Wähler das Recht hat, die jeweils regierende Partei durch die Wahl einer Opposition zu bestrafen, die nichts ändert, jedenfalls nichts Wesentliches. Für viele, vor allem für desillusionierte Jugendliche, ist diese Ping-Pong-Demokratie perspektivlos. Die europäischen Demokratien funktionieren fast überall ähnlich: Es gibt das konservative und das sozialdemokratische Lager, die sich wechselseitig als Alternative anbieten, aber die Unterschiede kaum noch vermitteln können. Wen wundert es da, daß die Wahlbeteiligung seit Jahren zurückgeht. Auf den Tahrir-Plätzen dieser Welt wird – sicherlich unbewußt – ein Innehalten eingeübt, welches trotz der prekären Lage ein Nachdenken ermöglicht. Eine hektische Gesellschaft, die den Furor der Beschleunigung predigt, verwehrt jegliches Reflektieren, Stehenbleiben, Umkehren. Junge Leute, oft mit exzellenten Schulabschlüssen, müssen erleben, daß man sie nicht braucht und mit Gelegenheitsarbeiten abspeist. Was in Deutschland »Generation Praktikum« heißt, nennt man in Spanien »Generation 1000 Euros«, in Frankreich »génération précaire«. Noch liegt die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich nicht bei 40 Prozent wie jenseits der Pyrenäen, aber aus beiden Ländern werden Industriearbeitsplätze massiv in ostasiatische Länder verlagert. Am 19. Mai besetzten Demonstranten auch in Frankreich Plätze in 15 Städten, meist die »place de la République«, die es in allen großen Städten gibt. Vor allem im Süden, aber auch in Paris und Strasbourg übernahm man die Parolen aus Madrid: »Sans travail, sans argent, sans peur« (Keine Arbeit, kein Geld, keine Angst). Auch in Frankreich nimmt man die beiden großen Parteien kaum als Alternativen wahr. Gerade hat die »parti socialiste« ihre 30 Vorschläge für das Wahljahr 2012 veröffentlicht. Nach dem Motto »Allen wohl und niemand weh« findet man dort die üblichen Versprechungen: Arbeitsplätze, Wettbewerbsfähigkeit, Investitionen, Schuldenabbau, Kaufkraft, Steuerreform, mehr Gerechtigkeit, Vorrang für Bildung, Gesundheit und Sicherheit. Für die »génération précaire« sind das leere Versprechungen; sie erleben, daß seit langem von alledem das Gegenteil geschieht. In Italien hat sich das ›rete dei precari‹ gebildet, ein Netzwerk junger Arbeitsloser, das mit dafür gesorgt hat, daß das Quorum für den Volksentscheid gegen Berlusconi erreicht wurde. 60 Prozent der 18 bis 29-jährigen Italiener verdienen weniger als 1000 Euro, 30 Prozent haben gar keine Arbeit. Viele suchen daher im Ausland ihr Glück. Als eine junge Aktivistin Verwaltungsminister Renato Brunetta zur Rede stellen wollte, beschimpfte der Minister das Netzwerk: »Questo e la peggiore Italia« (Das ist das übelste Italien). Das Video verbreitete sich in Windeseile über das Internet. In Griechenland nennt sich die Bewegung »Empörte Bürger«. Am 12. Juni waren es wieder 15.000, die sich auf dem Syntagmaplatz in Athen versammelt hatten. Ihre Parole: »Wir schulden nichts, wir verkaufen nichts, wir bezahlen nichts.« Ähnlich wie bei den »indignados« in Spanien ist der zentrale Platz zu einer Agora geworden, auf der protestiert, diskutiert und gefeiert wird. Als ersten Erfolg meldete sie, Ministerpräsident Papandreou habe sich einverstanden erklärt, ein Referendum über seine Politik durchzuführen. Entsteht hier eine Art EU von unten? – Es ist kein neuer Mai 68, der sich hier manifestiert. Die Protestierer sind schlicht empört über die herrschenden Verhältnisse, es steht keine Ideologie dahinter. Deshalb fällt es den etablierten politischen Systemen auch schwer, diese Jugendbewegung einzuordnen und adäquat zu reagieren. Schließlich kann man ja nicht wie das Mubarak-Regime zuschlagen. Aber eines steht fest: Dies ist keine kleine radikale Minderheit, sondern eine wachsende Zahl zorniger junger Männer und Frauen, die sich nicht mehr besänftigen lassen. Zumal die dafür nötigen Mittel längst aufgebraucht sind.
Erschienen in Ossietzky 13/2011 |
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