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Endlich auch zwei sonst gern vernachlässigte Ost-Bühnen. 1964 war das Berliner Theatertreffen als Schaufenster des Westens in der eingemauerten Frontstadt gegründet worden wie 13 Jahre zuvor schon die Berlinale. Interessant waren die laut Reglement »bemerkenswertesten« Inszenierungen jeweils als Seismograph für Theatertrends. Wobei das schwammige Kriterium »bemerkenswert« vom stets subjektiven Urteil der Juroren bestimmt wird. Was die Moden betrifft: Ohne Video geht heute kaum noch etwas, und ein bißchen Musik soll möglichst auch dabei sein. Den Anspruch, aktuell, auch politisch auf Wirklichkeit zu reagieren, erfüllte zum Auftakt die Jelinek-Trilogie »Das Werk/Im Bus/Ein Sturz«. Der Kölner Schauspielintendantin Karin Beier gelang es, die überbordende Textmasse, wie man sie von der Autorin gewohnt ist, in eindringliche Bilder umzusetzen. Dreimal Katastrophen, bei denen der Mensch der Natur unterliegt. »Das Werk«, bereits 2003 uraufgeführt, erinnert an Ausbeutung und Tod beim Bau eines Wasserkraftwerks in den Kapruner Alpen von 1928 bis 1955. Schon hier wie dann im Hauptteil des Abends spielt Wasser eine Rolle, Laboranten und Putzkräfte hantieren mit Wasserflaschen, bis ein Männerchor mit Eislers Solidaritätslied ein Memento mori für die umgekommenen Zwangsarbeiter anstimmt. Nach dem Intermezzo eines Clowns-Trios, das ein Münchner Busunglück memoriert, schließlich das von Elfriede Jelinek eigens für die Kölner Schauspieler geschriebene Stück »Ein Sturz«, in dem es um das Verschwinden des Stadtarchivs der Rhein-Metropole in einer unterspülten U-Bahn-Baustelle geht. Karin Beier inszeniert das mit von der Decke rieselndem Sand und glucksenden Wassermassen auf dem Bühnenboden zwischen Bürokratie-Satire und metaphorischem Kampf Erde gegen Wasser, symbolisiert in einer lehmverschmierten nackten Erdfrau und einem blauen Wassertänzer. Hatte das noch einen gewissen spektakulären Reiz, so krankte ein anderer aktualitätsbezogener Beitrag gleichermaßen an einem verquasten Text wie an dessen eben solcher Umsetzung. Kathrin Röggla wollte etwas zum Fall Natascha Kampusch schreiben, in indirekter Rede, ohne den Namen zu nennen. Neben Kunstfiguren wie dem Möchtegern-Journalisten, der Pseudopsychologin oder der Irgendwie-Nachbarin erscheint die Verschleppte, die wie Rotkäppchen »3069 Tage« (Titel ihrer Autobiografie) im Bauch des Wolfes zugebracht hat, verfremdet. »Die Beteiligten« – so nennt Röggla ihr krudes Konstrukt – instrumentalisieren den Fall im Konjunktiv in medienkritischer Absicht für sich. Regisseur Stefan Bachmann hat seine Inszenierung im Wiener Akademietheater mit krampfhaften Österreich-Denunziationen aufgepeppt. Per Video erscheint eine schöne Alpenlandschaft, und aus dem Kitsch-Film »Sound of Music« über die Trapp-Familie wird eine Szene autoritärer Erziehung zitiert. Ein SS-Offizier steppt, monologisiert und entschwebt dann in seiner schwarzen Montur in den Bühnenhimmel. Im Playback sind Falco-Hits zu hören, eine unsichtbare Frau wird von Affenmenschen durch einen Wald gejagt, natürlich videoprojiziert, und zuletzt entledigen sich die Beteiligten ihrer zuvor angepaßten Kostüme im einheitlichen Kampusch-Look, um in Ganzkörpernacktanzügen zum choreographierten Finale anzutreten. Selten habe ich mich bei einem Theatertreffen so oft gelangweilt. Leider auch bei der Dokumentartheatergruppe She She Pop mit »Testament«. Wie man das vom bekannteren Ensemble Rimini-Protokoll kennt, spielen die Akteure sich selbst: drei Frauen Anfang 40, ein junger Mann und drei Väter mit ihren authentischen Generationsproblemen: Alter, Pflege und Verantwortung – aufgelockert durch Countrysongs. Diskussionen, wie sie während der Proben zwischen den Alten und ihren Kindern geführt wurden, liefern das Skelett der Aufführung vor der Folie von Shakespeares »König Lear«, wo es ja auch um Liebe und Erbschaft geht. Originaltextstellen aus einem Regiebuch werden auf eine Leinwand projiziert als Auslöser für parallele Situationen zwischen den Generationen von heute. Nicht immer ist das so lustig wie bei der Gegenüberstellung von Regans und Gonerils Weigerung, die 100 Ritter im Gefolge ihres Vaters Lear aufzunehmen, mit dem Problem, beim Umzug eines Vaters in die Wohnung der Tochter dessen 8000 Bücher und technisches Gerät unterzubringen. Mir drängte sich an dem Abend manchmal der Vergleich auf mit dem Drang zur Ausbreitung privater Probleme vor den Kameras des Privatfernsehens, bei She She Pop freilich auf höherem intellektuellen Niveau. Und wie ging das Theatertreffen mit »Klassik« um? »Werktreue« á la Peter Stein ist nicht erst heute von vorgestern. Stattdessen »Regietheater« zwischen Originalitätssucht und Erkenntnisvermittlung, wie man letztere aus den besten Inszenierungen des DDR-Theaters kannte. In dieser Tradition steht das Dresdner Gastspiel mit Schillers »Don Carlos«. Das höfische Intrigenspiel könnte auch in einer heutigen Vorstandsetage oder Parteizentrale stattfinden. Entsprechend präsentieren sich die Akteure im Maßanzug (Burghart Klaußner als politisch knallharter, aber menschlich verletzlicher König Philipp) oder leger mit hochgekrempelten Hosen (Christian Friedel als impulsiver Carlos zwischen der Liebe zu seiner Stiefmutter und der Rebellion gegen den Vater – hier ist das Private politisch). Matthias Reichwalds Posa tritt als freigeistiger Intellektueller mit Brille und Schultertasche auf, Anwalt der flandrischen Freiheitskämpfer und kühl taktierender Utopist, der aber an seinen Idealen scheitert. Die Bodyguards einheitlich in weißen Hemden mit schwarzer Fliege. Soweit unterscheidet sich die Inszenierung des 33jährigen gebürtigen Schweizers Roger Vontobel nicht von anderen Klassikerinterpretationen. Historische Kostüme sind längst in den Fundus verbannt. Daß die Protagonisten, so wie sie aussehen, uns an der nächsten Straßenecke begegnen könnten, soll Gegenwartsbezüge des auf der Bühne Verhandelten unterstreichen. Vontobel nimmt dabei aber das Original ernst. Wo Schiller draufsteht, ist auch Schiller drin. Dreieinhalb Stunden lang. Und das war spannender als die Absicht, etwas partout anderes machen zu wollen, wie sie Karin Henkel mit ihrem auf zwei Stunden gestutzten »Kirschgarten« demonstrierte. Gewiß, Tschechow wollte sein letztes Stück als Komödie verstanden wissen, aber wohl kaum als Zirkusnummer, wie sie dieser zweite Beitrag aus Köln bot. Das bankrotte Gut, auf das die Ranjewskaja samt Entourage aus Paris heimkehrt, wird zur Manege. In der Mitte ein blinkendes Rundpodest, das im Zirkus für dressierte Tiere bestimmt ist, hier aber von zwei Musikanten mit Posaune und Schlagzeug besetzt wird, um die die ganze Gesellschaft immer wieder herumhüpft. Einzelne wenden sich an der Rampe direkt ans Publikum – auch dies ein von Regisseuren zunehmend angewandtes Stilmittel. Freilich die Empathie, die man doch sonst Tschechows Figuren entgegenbringt, bleibt hier auf einer Slapstick-Strecke. Einzig Lopachin, dessen Vorfahren noch als Leibeigene schufteten, beweist Realitätssinn mit dem Vorschlag, auf dem Kirschgarten Ferienhäuser zu bauen, während alle anderen der Pleite zum Trotz weitermachen wollen wie bisher. Ihr Tanz auf den Trümmern vergangener Herrlichkeit soll heutige Praktiken der Verdrängung von Katastrophen assoziieren lassen. Ob es die stets beifallfreudigen Besucher im Parkett mitbekommen haben? Doch wenn schon ganz anders, dann richtig provokant. Damit wurde der erst mit 60 Jahren vom Extremschauspieler aus Castorfs Volksbühnenmannschaft zum neuen Regiestar und Medienkünstler aufgestiegene Herbert Fritsch seinem Ruf gerecht. Ein Bühnenberserker, der in der vergangenen Spielzeit sechs, in der laufenden fünf Inszenierungen stemmte und sich vor Anfragen kaum retten kann. Beim Theatertreffen spaltete er mit Hauptmanns »Biberpelz« aus Schwerin das Publikum. Für mich gehörte seine aus Oberhausen importierte Verwandlung von Ibsens »Nora« in eine bürgerliche Horroshow zum wirklich Bemerkenswerten des Theatertreffens. Die Titelfigur (Manja Kuhl) beherrscht in ihrer Kostümierung als geldgieriges Porzellanpüppchen die kahle Szene, umgeben von lauter Untoten, die in Zombie-Masken ihren Gräbern entstiegen scheinen und ihr an die Wäsche gehen. Bernard Herrmanns Komposition für den Hitchcock-Thriller »Vertigo« liefert die melodramatische Klangkulisse. Von Emanzipation als Weg ins Freie kann bei Noras Ernüchterung am Ende keine Rede sein. Fritsch will keine Botschaften verkünden. Sein Credo: »Theaterspielen ist was Lustiges.« Dem Theatertreffen hat das gut getan.
Erschienen in Ossietzky 11/2011 |
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