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Den historischen Materialismus erneuern

Rezension

Nancy Holmstrom

Ellen Meiksins Wood: Demokratie contra Kapitalismus. Beiträge zur Erneuerung des historischen Materialismus, Köln: Neuer ISP Verlag 2010, 304 S., 29,80 Euro.

Ellen Meiksins Woods Demokratie contra Kapitalismus ist ein herausragendes Buch, das es verdient, zu einem Klassiker unserer politischen Richtung – dessen, was Hal Draper "Sozialismus von unten" nannte – zu werden. Wood liefert eine brillante Darlegung und Verteidigung der zentralen, für den Sozialismus relevanten theoretischen Konzepte – Sozialismus dabei verstanden als radikalste soziale und ökonomische Demokratie.

Während die Niederlage des Stalinismus den Anschein erwecken mag, dass Meinungsverschiedenheiten in der Linken über die Bedeutung des Marxismus weniger dringend seien, bedeutet der weltweite Triumph des Kapitalismus nicht nur soziale und ökonomische Barbarei, sondern auch eine weltweite ökologische Katastrophe. Der Kampf gegen den Kapitalismus wird solange weitergehen, wie der Kapitalismus existiert, und geschärfte ideologische Waffen sind mehr denn je unentbehrlich. Doch ist es ein verblüffendes Paradox, wie Wood mehrfach bemerkt, dass gerade im Moment der weltweiten Dominanz des Kapitalismus theoretische Richtungen auf der Linken Überhand nehmen, durch die diese Tatsache unwichtig, unbegreifbar oder gar unsichtbar wird.

Die postmoderne Feindseligkeit gegenüber jeder Vorstellung von System, Struktur und "großer Erzählung" macht es unmöglich, den Kapitalismus als ein System mit spezifischen Gesetzen oder seinen totalisierenden Charakter zu begreifen; die Betonung von Fragmentierung, Heterogenität und Besonderheit erlaubt nur den lokal beschränkten Widerstand. Offensichtlich muss etwas falsch sein mit theoretischen Richtungen, die uns so entwaffnen. Und Wood zeigt uns genau, was daran falsch ist.

Wenngleich reich an historischer und soziologischer Gelehrsamkeit, die vom antiken Griechenland über den Feudalismus zur Gegenwart, von Max Weber über Louis Althusser zu den Theoretikern der Postmoderne reicht, ist dies nicht in erster Linie ein akademisches Werk. Wie bei all ihren Arbeiten handelt es sich um ein politisches Buch, dessen theoretische Darlegungen Waffen für den ideologischen Kampf gegen den Kapitalismus liefern wollen. Ihr Stil ist mitunter polemisch, und diejenigen, die das Buch nicht lieben, werden es wahrscheinlich hassen.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert; Teil I hat den Titel "Historischer Materialismus und Eigenart des Kapitalismus", Teil II ist überschrieben mit "Demokratie contra Kapitalismus". Während die mehr politisch engagierten Leser wahrscheinlich Teil II als relevanter betrachten werden, ist der entscheidende Punkt, der die beiden Teile verbindet, die absolute Zentralität der Produktionsverhältnisse – d.h. der Klasse – für das Verständnis der marxistischen Theorie und dessen politische Leitlinien.

Der Kern des historischen Materialismus ist für Wood die Vorstellung, dass jede Produktionsweise spezifische Produktionsverhältnisse aufweist, die dem System seine spezifische Logik verleihen. Die dem Kapitalismus eigentümlichen Produktionsverhältnisse erlauben erstmals in der Geschichte, dass die herrschende Klasse ihre Herrschaft ausübt, ohne das Monopol der politischen Macht zu besitzen. Daher ist die Demokratie – in einer sozial schwachen Form – für den Kapitalismus charakteristisch.

Historischer Materialismus und Kapitalismus

Woods Interpretation des historischen Materialismus wurde als "politischer Marxismus" abgewertet, aber sie heftet sich dieses Etikett gerne an. Denn sie zeigt, dass Marx enthüllte, was die Ökonomen verschleiert hatten, dass nämlich das Wesen der kapitalistischen Produktion in dem Sinne politisch ist, dass es auf den Machtverhältnissen zwischen denjenigen beruht, die die Produktionsmittel besitzen, und denjenigen, die sie nicht besitzen.

Der politische Marxismus betrachtet die Produktionsverhältnisse "unter ihrem politischen Aspekt … unter dem sie konkret umkämpft werden: nämlich als Herrschafts- und Eigentumsrechte, als Macht, die Produktion und Aneignung zu organisieren und zu lenken. Das Ziel dieses theoretischen Ansatzes ist … ein praktisches. Es geht darum, das Terrain der Kämpfe zu beleuchten, indem man die Produktionsweisen nicht als abstrakte Strukturen betrachtet, sondern so, wie Menschen mit ihnen konfrontiert sind und in Beziehung zu ihnen handeln müssen." (S.35.)

Somit wird die Betonung der Politik und des Klassenkampfs in der historischen Erklärung durch Wood (und Marx) nicht einer Betonung der Produktions- oder Wirtschaftsweise entgegengesetzt. Sie zielt vielmehr darauf ab zu enthüllen, wie diese zutiefst gesellschaftlich und politisch sind. Wood will diese Einsicht wieder in das Zentrum der historischen und gesellschaftlichen Analysen stellen, wo sie hingehört.

Die meisten Historiker und Sozialwissenschaftler haben diesen Aspekt übersehen. Wood weist darauf hin, dass eine wichtige Quelle des vorherrschenden defätistischen Gefühls, wonach nichts anderes als der Kapitalismus möglich ist, die Vorstellung ist, dass der Kapitalismus stets existiert hat, und die, wie sie zeigt, in vielen historischen Theorien implizit enthalten ist. Weber bspw. benutzt "die protestantische Ethik", um die Ursprünge des Kapitalismus zu erklären, aber wenn eine Gesellschaft nicht schon eine verallgemeinerte Marktgesellschaft ist und die Werktätigen nicht bereits dem Kapital unterworfen sind, wird diese Ethik nicht zu der Produktivität und der Profitmaximierung führen, die kennzeichnend sind für den Kapitalismus. Somit lässt Webers Erklärung die Frage offen, wie Kapitalismus entsteht.

Einige marxistische Theorien der Geschichte machen denselben Fehler. Zum Beispiel nimmt John Roemer an, dass der Kapitalismus "als Option" bereits innerhalb des Feudalismus existiert hatte, wobei er, wie Weber, die Frage offen lässt, wie der Kapitalismus entstanden ist. Im Gegensatz zu solchen Theorien zitiert Wood zustimmend Robert Brenners Arbeit, die den spezifischen Charakter jeder Produktionsweise betont und den Übergang zum Kapitalismus in Bezug auf die Dynamik, die Widersprüche und die Kämpfe innerhalb der vorkapitalistischen Produktionsverhältnisse zu erklären sucht.

Brenners Arbeit hilft dabei, die Details dessen zu liefern, was, wie Wood – Marx folgend – betont, die entscheidende für den Kapitalismus erforderliche Bedingung ist: die Scheidung der jeweiligen Produzenten von ihren Reproduktionsbedingungen, eine historische Transformation, die gleichzeitig ökonomisch, sozial und politisch ist.

Eine weitere Quelle für Irrtümer bei der Interpretation des historischen Materialismus besteht darin, der Metapher von "Basis und Überbau" eine zu große theoretische Bedeutung beizumessen, die, wie Wood sagt, stets mehr geschadet als genutzt hat, da sie die Existenz getrennter, in sich abgeschlossener Bereiche suggeriert. Dies wurde noch schlimmer durch den stalinistischen mechanischen, üblicher Weise technologischen Determinismus.

Die Standardalternative zu mechanisch-deterministischen Interpretationen war jedoch ein vager Humanismus. Als ein Beispiel dafür wird oft das Werk E. P. Thompsons angeführt, doch Wood sieht in ihm einen Vertreter ihrer Richtung des politischen Marxismus. Wood legt dar, dass Thompsons Arbeit diese falschen Dualismen überwindet, indem er zeigt, dass das Ökonomische irreduzibel gesellschaftlich und politisch ist und aus menschlichen Beziehungen von Ausbeutung und Aneignung besteht.

Gegen Thompsons Kritiker wie Althusser, G. A. Cohen und Perry Anderson zeigt Wood, wie sein Werk durchweg das marxistische Problem angeht, wie man sowohl der Logik der Produktionsweisen als auch der menschlichen Wirkung innerhalb der von dieser Logik gesetzten Bedingungen Rechnung tragen kann. Die Kritiker, so Wood, sind im Wesentlichen ahistorisch: Sie sehen keine Alternative zur strukturellen Notwendigkeit außer der Kontingenz, während Thompson "historische Determinationen, das heißt … strukturierte Prozesse menschlichen Handelns" (S.85) sieht. Ein Beispiel für Thompsons subtile Analysen der historischen Prozesse ist seine Darstellung, wie das, was er die "Klassenlagen" nennt, existieren und bestimmend sein kann, selbst wenn reife Klassen und Klasseninstitutionen nicht vorhanden sind, und wie, im Namen alter Gebräuche, Klassenwiderstand durchgeführt werden kann.

Sich an Thompsons Kritiker wendend bietet Wood eine vernichtende Analyse von Louis Althussers Werk, das sich als eine geniale Auflösung des Konflikts zwischen einem rigiden Basis-Überbau-Modells einerseits und vager menschlicher Wirkung andererseits präsentiert. Aber tatsächlich, so Wood, erreichten die Althusserianer diese Auflösung "gewissermaßen durch begriffliche Trickserei, denn während im Reiche gesellschaftlicher Strukturen eine rigide Determinierung vorherrschte, erwies es sich, dass dieses Reich praktisch gesehen eine Sphäre reiner Theorie ist. Die reale empirische Welt dagegen – wenngleich von wenig Interesse für die meisten Althusserianer – blieb (ungeachtet aller expliziten Denunziationen von Kontingenz) tatsächlich kontingent und auf irreduzible Weise einzigartig." (S.58.)

Die Enttäuschung über den Althusserschen Marxismus war, wie Wood meint, ein Impuls, überhaupt vom Marxismus zur Postmoderne überzugehen.

Wood kritisiert Gerald A. Cohens einflussreiche Interpretation von Marx’ Theorie der Geschichte (in Karl Marx’s Theory of History – a Defense, 1978) als einen technologischen Determinismus, der einmal mehr die Gesetze des Kapitalismus in universelle Gesetze der Geschichte verwandelt. Eine solche universelle Theorie ist problematisch, weil sie den einzigartigen Trieb des Kapitalismus, die Produktivkräfte zu entwickeln, und seinen Expansionismus nicht erklären kann, den Marx und Engels vor 150 Jahren so prophetisch im Kommunistischen Manifest als die Umgestaltung der Welt durch den Kapitalismus nach seinem Bilde beschrieben hatten.

Die Aufgabe ahistorischer Interpretationen des historischen Materialismus mag als ein Verlust für den Marxismus erscheinen, aber Wood besteht darauf, dass dies nicht so ist. Denn falls der Kapitalismus mit seiner spezifischen Logik nur dank des Zusammenfallens historischer Ursachen zu einem besonderen Zeitpunkt in der Geschichte entstanden war, dann ist es auch möglich, dass er überwunden werden wird. Das sozialistische Projekt sollte als die Wiederaneignung der Produktionsmittel durch die direkten Produzenten betrachtet werden.

Der demos contra "Wir, das Volk"

Die spezifische Besonderheit des Kapitalismus, die Wood in ihrer Interpretation des historischen Materialismus betont, ist auch die Grundlage ihrer Analyse der Demokratie und wie diese mit dem Kapitalismus verbunden ist. Nach der vorherrschenden Darstellung der Geschichte der Demokratie entstand sie in Athen, aber verschwand von der historischen Bühne bis zu ihrem Sieg im Kapitalismus.

Radikale haben oft die Beschränkungen der kapitalistischen Demokratie und der des antiken Griechenlands hervorgehoben. Aber Wood fügt dieser radikalen Kritik eine neue und faszinierende Perspektive hinzu. Wenngleich es wichtig ist, Idealisierungen der athenischen Demokratie aufzudecken, indem man zeigt, wie viele Menschen von der Teilnahme ausgeschlossen waren, vor allem Sklaven sowie Frauen aller Klassen, ist es bemerkenswert, wie Wood darlegt, wen sie einbezog. Die wörtliche Bedeutung des griechischen Wortes "Demokratie" ist "Herrschaft durch das Volk", und als "Volk" ("demos") wurden besonders auch die Menschen verstanden, die mit ihren Händen arbeiteten.

Sich auf ihr Buch Peasant-Citizen and Slave: The Foundations of Athenian Democracy (1988) beziehend, erklärt sie, dass die Bauern-Bürger von Athen eine beispiellose historische Formation produzierten, deren tiefer gesellschaftlicher Hintergrund ein Kräftegleichgewicht zwischen Reich und Arm war. Dies wurde sowohl von den Anhängern der Demokratie verstanden als auch von ihren Gegnern, wie Plato und Aristoteles.

Das moderne Konzept der Demokratie hatte andererseits seinen Ursprung in einem sehr unterschiedlichen Zeitraum und Kampf, dem der feudalen Grundbesitzer gegen die Monarchie. Die Freiheit, für die sie kämpften, war nicht die Freiheit von den Herren, sondern die Freiheit der Herren, "über ihr Eigentum und ihre Diener nach Belieben zu verfügen". Die parlamentarische Herrschaft mit ihren Prinzipien begrenzter Regierung und der Trennung der Gewalten schloss alle, die kein Eigentum besaßen, von den Bürgerrechten aus. Daher war es die Herrschaft einer hochgradig privilegierten Elite, die vorgeblich das Volk als Ganzes repräsentierte und eindeutig als Gegnerin der Demokratie verstanden wurde.

Zu der Zeit der nordamerikanischen Revolution konnte die Demokratie nicht mehr explizit abgelehnt werden – aber sie konnte neu definiert werden. Die amerikanische Neuerung der "repräsentativen Demokratie" wurde von Alexander Hamilton erklärt:

"Das Konzept einer faktischen Vertretung aller Kategorien der Bevölkerung durch Personen jeder einzelnen Kategorie ist vollkommen utopisch … Wir müssen deshalb Kaufleute als die natürlichen Repräsentanten all dieser Gruppen der Gesellschaft betrachten." (S.217f.)

Folglich wurde die Kernbedeutung von "Demokratie" in ihr exaktes Gegenteil verwandelt! Dennoch wurde, trotz erbitterter Opposition, die politische Teilnahme zuerst auf alle freien weißen Männer, dann auf alle Männer und schließlich auf alle Bürger und Bürgerinnen ausgedehnt. Aber diese Einbeziehung war, wie Wood erklärt, nur möglich aufgrund der dem Kapitalismus eigentümlichen Trennung zwischen dem "Ökonomischen" und dem "Politischen".

Der Kapitalismus ist definiert durch das private Eigentum an den Produktions- und Subsistenzmitteln, das den meisten Menschen keine andere Wahl lässt, als ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Der Mehrwert wird über den Markt erzielt anstatt, wie in allen anderen Klassengesellschaften, über den Staat. Diese Verhältnisse von Besitz und Nichtbesitz – gleichzeitig ökonomisch, sozial und politisch – bilden die Grundlage der Macht der Kapitalisten. Deshalb konnte zum ersten Mal in der Geschichte das Bürgerrecht auf alle ausgedehnt werden, ohne die ökonomische Macht der herrschenden Klasse zu gefährden – aber die Bedeutung dieser Bürgerrechte wurde drastisch reduziert. Die Demokratie wurde mehr formal als substanziell, zu einer Bürgerschaft aus atomisierten Individuen.

Oft wird heute der Begriff "Demokratie" nicht im Sinne von Herrschaft des Volkes verwendet (wie begrenzt auch das "Volk" oder das, worüber es herrschen darf, ist), sondern als Synonym des Liberalismus – d.h. garantierter Verfassungs- und Verfahrensrechte – oder gar implizit des Kapitalismus, wie in Berichten über die Ausdehnung der "Demokratie" in den ehemaligen Ostblockstaaten. Somit geht der vorgebliche Triumph der Demokratie einher mit dem Verlust ihrer ursprünglich zentralen sozialen Bedeutung.

Zivilgesellschaft und Identitätspolitik

Die konservative Feindseligkeit gegenüber Regierungsgewalt als unterdrückend findet ihren Widerhall bei Teilen der Linken, die die "Zivilgesellschaft" preisen. Die allgemeine Ablehnung dirigistischer Konzepte von Sozialismus im Zuge des Zusammenbruchs des Stalinismus ist gewiss ein Fortschritt. Wood ist jedoch der Auffassung, dass aktuelle Darstellungen der Zivilgesellschaft, die sie als Sphäre der Freiheit im Gegensatz zum Zwangsregime des Staates präsentieren, einseitige Idealisierungen sind.

Tatsächlich gehört für Wood zum Verständnis der Einzigartigkeit der modernen gesellschaftlichen Form der Zivilgesellschaft die Erkenntnis, dass die Zwangsgewalt des Staates privatisiert worden ist: Das Privateigentum, die Klassenausbeutung und die Marktimperative tun, was der Staat gewöhnlich tat. In Woods eigenen kraftvollen Worten:

"Kein antiker Despot hätte je die Hoffnung haben können, sich in das persönliche Leben seiner Untertanen, ihre Lebenschancen, Wahlmöglichkeiten, Vorlieben, Meinungen und Beziehungen, derart umfassend und bis ins kleinste Detail nicht nur am Arbeitsplatz, sondern in allen Bereichen des Lebens einzumischen." (S.257.)

Entscheidend für Woods Analyse ist hier wieder die Trennung der ökonomischen von der politischen Sphäre durch den Kapitalismus.

Die Politik, die gewöhnlich mit einer Konzentration auf die Zivilgesellschaft in Verbindung gebracht wird, ist als "Identitätspolitik" bekannt geworden. Wood stört sich an der übermäßigen Konzentration auf Identitätspolitik, weil diese in ihrer progressiven wie reaktionären Form jede Art des vereinigten Kampfes ausschließt, der nötig ist, um den globalen Kapitalismus zu besiegen. Die "Identitätspolitik" scheint sogar, die Unterdrückung durch den Kapitalismus unsichtbar oder irrelevant zu machen, da das vom Kapitalismus verursachte Leiden auf der Klassenzugehörigkeit basiert und nicht auf diesen Identitäten. Sogar der Kapitalismus selbst mit seiner vereinigenden Totalität (der Mehrwertgewinnung) wird unsichtbar, wenn die gesellschaftliche Sphäre in besondere, scheinbar getrennte Realitäten, aufgespalten wird, wobei die Klasse bloß eine "Identität" mehr darstellt. Einmal mehr ist etwas faul mit Theorien, die uns derartig entwaffnen.

Wenngleich die Identitätspolitik beansprucht, umfassender zu sein als die ihrer Auffassung nach reduktionistische Klassenpolitik, zeigt Wood tatsächlich, dass die Sammelkategorie "Identität" den einzigartigen Charakter der Klasse nicht fassen kann, denn Klassen sind durch Machtverhältnisse und Ungleichheit definiert, während dies auf sexuelle und ethnisch-kulturelle Unterschiede nicht unbedingt zutrifft. Während es Sinn macht zu sagen, dass Letztere Anerkennung verdienen, sollten Klassenunterschiede nicht anerkannt und für gültig erklärt, sondern abgeschafft werden!

Indem sie den Marxismus gegen die häufige Kritik verteidigt, dass er die Klassenunterdrückung über sexuelle, ethnische und andere Formen der Unterdrückung "privilegiere" (d.h. ihr eine zentrale und besondere Bedeutung verleihe), argumentiert Wood, dass diese Privilegierung kausaler und nicht moralischer Natur sei. Eine Analyse der Produktionsweise kann helfen zu erklären, wie nichtklassenmäßige Formen der Unterdrückung entstehen und an Bedeutung zu- oder abnehmen. Nehmen wir den Rassismus als Beispiel. Wenngleich ethnische Konflikte uralt sind, ist die bösartigste Form des Rassismus ein modernes Phänomen. Die Sklaverei in der antiken Welt war weitgehend als traditionell anerkannt (z.B. ergab sie sich aus militärischen Niederlagen), während die moderne Sklaverei mit pseudowissenschaftlichen Theorien von der natürlichen Überlegenheit der weißen Rasse gerechtfertigt wurde.

Die Antwort auf die Frage, welche Eigenschaft des Kapitalismus dieses ideologische Bedürfnis geschaffen hat, liegt für Wood im Widerspruch zwischen der bürgerlichen Ideologie freier und gleicher Individuen und der Bedeutung der kolonialen Unterdrückung und Sklaverei für den frühen Kapitalismus.

Oder nehmen wir den Sexismus: Während Frauen im Vergleich zu Männern weiterhin unterdrückt werden, neigte die Entwicklung des Kapitalismus dazu, die patriarchalischen Verhältnisse zu schwächen. Andererseits war im Feudalismus die Familie die Produktionseinheit, und der Mehrwert wurde durch den Staat gewaltsam erzielt, weshalb das Familienoberhaupt gezwungen war, innerhalb der Familie die Aufseherrolle zu spielen, während außerhalb der Familie die Männer das Monopol über die Anwendung von Waffengewalt hatten. Diese Bedingungen verstärkten die patriarchalischen Beziehungen. Nehmen wir stattdessen zum Vergleich eine ähnlich abhängige Familie von Produzenten, aber in einer anderen Produktionsweise – dem Kapitalismus –, wo der Mann keine derartige Rolle außerhalb der Familie zu spielen hatte: die Sklavenfamilie im Süden der USA kennzeichnete ungewöhnlich egalitäre Beziehungen.

Während es somit unleugbar viele nichtklassenmäßige Formen der Unterdrückung gibt, die nicht auf die Klasse reduzierbar sind, sowie viele andere Institutionen der Zivilgesellschaft als die Ökonomie, so sind diese jedoch weder getrennt von den herrschenden Produktionsverhältnissen, noch weisen sie dasselbe Vermögen zur Determinierung auf.

Es ist darüber hinaus zumindest vorstellbar, dass eine nichtklassenmäßige Unterdrückung beendet werden kann, während der Kapitalismus weiterbesteht. Deshalb erfordert eine Vision menschlicher Befreiung eine Theorie und Praxis, die universeller ist, als das, was von der aktuellen Identitätspolitik geboten wird.

Es ist jedoch zwingend, dass Sozialisten nicht zu einem Verständnis universeller Politik zurückgehen, bei der alle nichtklassenmäßigen Formen der Unterdrückung als zweitrangig behandelt wurden. Einige Ablehnungen von "Identitätspolitik" laufen auf die Ablehnung aller unabhängigen Bewegungen gegen nichtklassenmäßige Unterdrückung, wie der der Schwarzen, Schwulen und Frauen, hinaus, die summarisch als separatistisch und essenzialistisch fehlinterpretiert werden.

Wenngleich ich wünschte, dass Wood die strategischen Implikationen ausdrücklicher dargelegt hätte, hat ihre Analyse nichts mit dieser klassenreduktionistischen Position zu tun; tatsächlich beschreibt sie Kämpfe gegen die nichtklassenmäßigen Formen der Unterdrückung als "lebenswichtig". Diese Bewegungen haben neue Fantasie und Energie geliefert und die marxistische Kritik des Kapitalismus und die Vision menschlicher Befreiung vertieft.

Sogar die ökonomische Unterdrückung hat gewöhnlich unterschiedliche Auswirkungen auf die ethnische und sexuelle Identität. Eine entscheidende Voraussetzung, vor der Sozialisten heute stehen, ist die Integration von Interessen, die aus nichtklassenmäßigen Formen der Unterdrückung entstehen, mit sozialistischer Politik. Dies wird das sozialistische Projekt bereichern – und es ist entscheidend für den Erfolg beider, denn es gibt heute kaum Chancen für den Aufbau einer sozialistischen Massenbewegung, wenn Fragen von Ethnie, Geschlecht und Sexualität nicht ernst genommen werden.

Oft wird für eine solche alles umfassende Politik die Metapher des Regenbogens verwendet, aber dies suggeriert Pluralismus. Eine andere Metapher ist die einer Jazzband, die zusammen ein gemeinsames Thema spielt, aber den einzelnen Musikern die Gelegenheit gibt, mit ihren verschiedenen Instrumenten zu improvisieren, wobei sie vom Rest der Band gestützt werden.

[…] Der "andauernde Fluch des Stalinismus" (Daniel Singer) besteht in der Zerstörung jeder alternativen Vision des Sozialismus. Aber in dem Maße, wie sich Kämpfe gegen die weltweite Hegemonie des Kapitalismus unvermeidlich entwickeln, werden die Fragen, wie er zu begreifen ist und welche Alternative es zu ihm gibt, unvermeidlich auftauchen.

Woods Demokratie contra Kapitalismus bietet eine anspruchsvolle Interpretation und Verteidigung der Kernaussagen der besten jemals über dieses System entstandenen Theorie. Die Vision des Sozialismus als die radikalste Demokratie war stets ein minoritäres Verständnis, aber es war Marx’ Vision, und sie ist in der Geschichte immer wieder aufgetaucht. Ellen Wood hat einen wertvollen Beitrag zum Kampf für die Verwirklichung dieser Vision geleistet.

Die englische Originalfassung dieser Besprechung erschien in: Against the Current (Detroit, USA), Nr.68, Mai/Juni 1997; eine stark gekürzte deutsche Fassung in der Sozialistischen Zeitung (SoZ), Dezember 2010. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Hans-Günter Mull.

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sopos 5/2011