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Es herrschte eine geradezu heitere Zuversicht, daß die verkrusteten Regierungsstrukturen samt den hohlen Politikfloskeln, mit denen die Mauer immer noch als notwendiges Bollwerk verteidigt wurde, veränderbar wären … Als man in den Medien bald nur noch »Wir sind ein Volk« gelten ließ, dämpften nach dem Mauerfall konkrete Erfahrungen mit astronomisch steigenden Mieten und verlorenen Arbeitsplätzen die Euphorie. An der Humboldt-Universität erlebten wir jedoch 1990 ein Comeback der Alexanderplatz-Stimmung. Die Studenten hatten schnell begriffen, daß demokratische Rechte gegen Regierende verteidigt werden müssen. Solidarisch mit ihrem vom Senator abgesetzten Rektor, demonstrierten sie selbstbewußt: »Wir sind das Uni-Volk« und skandierten vor dem Abgeordnetenhaus: »Unseren Heiner nimmt uns keiner«. In dieser Überzeugung luden sie auch zu einer Veranstaltung ins Auditorium Maximum ein, wo sie prominente Künstler und Wissenschaftler (einige von ihnen hatten schon an jenem 4. November auf dem Alex gesprochen) als Volksvertreter befragen wollten, wie sie die überraschende fristlose Absetzung ihres Rektors durch den Wissenschaftssenator beurteilten. Sie konnten in den autoritären Maßnahmen der vergangenen Tage keinen demokratischen Geist erkennen. Sie stimmten dem Offenen Brief zu, in dem Prorektor Ulrich Reinisch geschrieben hatte: »Die Humboldt-Universität ist die einzige Universität der ehemaligen DDR, in der die Selbstverwaltungsgremien noch nicht zertrümmert worden sind. Heinrich Fink steht für diesen Weg. Er ist seit Monaten dafür angegriffen worden. Dieser Selbsterneuerungsweg, für den Heinrich Fink steht, ist mit unendlichen Problemen belastet, inneren und äußeren … Der Senator Erhardt hat in Berlin einen Interessenkampf ausgelöst: FU gegen TU, TU gegen HU, FU gegen HU – und damit ein Desaster angerichtet, das eigentlich kaum noch reparabel ist. … Nun will er jenen Mann beiseite räumen, der eben nicht das bequeme Angebot angenommen hat, diese Universität wegzuräumen …« Obwohl der Studentenrat erst wenige Stunden vorher eingeladen hatte, war das Auditorium Maximum schnell überfüllt. Die Studentin der Kulturwissenschaft Dominique Krössin und der Student der Veterinärmedizin Joachim Höchel leiteten die Veranstaltung. Mit brausendem Beifall wurden die Schriftsteller Christa und Gerhard Wolf, Daniela Dahn, Stefan Heym und Christoph Hein begrüßt, ebenso die Schauspielerin Käthe Reichel, die Wissenschaftler Rudolf Bahro, Jens Reich und Günter Krusche sowie Walter Romberg (SPD), Europaabgeordneter und letzter Finanzminister der DDR. Christoph Hein verlas seinen Brief an die Senatoren Christine Bergmann und Thomas Krüger (beide aus der Bürgerbewegung): »Wenn in der Nachrichtensendung der ARD zu dieser Maßregelung der Kommentar gegeben wird: ›Es sieht schlecht für den Rektor Fink aus, denn die Akten, die ihn belasten, wurden gelöscht‹, wird der Rechtsstaat auf den Kopf gestellt, und unsere Demokratie wird weiter ausgehöhlt und bekommt das Gesicht eines McCarthy. Protestieren Sie, und wenn Ihr Protest erfolglos sein sollte, bitte ich Sie zurückzutreten … Wenn Sie sich nicht willfährig erweisen, wird man auch gegen Sie mit einem ominösen Decknamen und einem leeren Aktendeckel als Beweisen Ihrer Schuld vorgehen.« Christa Wolf knüpfte daran an und nannte es eine Groteske, daß einen nichts so sehr belasten könne wie verschwundene Akten. Walter Romberg warnte: »Es geht darum, daß wir nicht durch Finanzbeamte und Verwaltungsjuristen … unser zukünftiges Miteinander bestimmen lassen, sondern uns im Gespräch gegenseitig stellen und uns für ›fragwürdig‹ halten … Sonst werden wir und unsere Nachbarn in Ost und West eine Wende in Europa erleben, wie wir sie uns nicht gewünscht haben…« Der Theologe Günter Krusche brachte das Auditorium zu hellem Lachen: »In meiner Bibel steht: An ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen, nicht an ihren Akten.« Daniela Dahn bedauerte, daß die Gauck-Behörde, die aus der Bürgerbewegung ihre Legitimation erhalten habe, in Gefahr stehe, ein bürokratisch funktionierender Zulieferer für Stasi-Halbwahrheiten und Aktennummern zu sein, ohne sich für die arbeitsrechtlichen und politischen Folgen »bürgerlich« verantwortlich zu fühlen; das sei das Gegenteil von dem, was die Bürgerbewegung will. Rudolf Bahro brachte die Sorge der Anwesenden in treffende Worte: »Es ist nicht gut für Deutschland und die Welt, wie mit dem Syndrom Staatssicherheit umgegangen wird, nämlich in einem umfassenden Abschiebe- und Verdrängungsmanöver nach dem Sündenbock-Verfahren, damit wir nichts gewesen sind. Noch dazu unter systematischem Absehen davon, daß es nach dem Hitlerkrieg in Westdeutschland das nicht gegeben hat, was jetzt hier praktiziert wird … Die ganze vorherrschende Art und Weise, die DDR zu bewältigen, indem man es hier nicht gewesen ist und sich drüben aufgrund erlebter Demokratisierung Licht ohne Schatten zuschreibt, die macht nur dann Sinn, wenn man verdrängt, daß es die Schlacht von Stalingrad und daß es die Sowjetfahne auf dem deutschen Reichstagsgebäude und darum, mindestens darum, die DDR hat geben müssen.« Im überfüllten Auditorium war der optimistisch-oppositionelle Schulterschluß geradezu spürbar: Wir erneuern unsere Universität aus eigenen Kräften. Die deutlichen Warnungen in den kritischen Beiträgen der Gäste wirkten ermutigend. Leider war diese Veranstaltung, die mit Vernunft, Einsicht und Einlenken der Regierenden rechnete, die letzte dieser Art in der Humboldt-Universität. Die Revolution entließ nicht ihre Kinder, sondern weil die Revolution zur Mauerfall-Episode geschrumpft war, begriffen nun ihre rebellierenden Kinder, daß demokratische Strukturveränderungen im Universitätsvereinigungskonzept weder vorgesehen noch erwünscht waren. Die ersten Berufungen von Professoren aus den alten Bundesländern auf C4-Stellen waren für die verbliebenen Kollegen ein deutliches Signal, auf was es bei der Prüfung ihrer Eignung für die Neuberufung auf ihre alten Stellen ankam: Ihre »politische Integrität« sollte festgestellt werden. So begann in der Universität die Wende in der Wende. Bis heute dienen die Stasi-Akten als angeblich unanfechtbarer moralischer Maßstab zur Neuvermessung der akademischen Landschaft Ost. Die Serie mit Erinnerungen von Heinrich Fink an die Berliner Humboldt-Universität in der Wendezeit wird fortgesetzt.
Erschienen in Ossietzky 10/2011 |
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