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In den vergangenen Wochen erlebte das Mutterland der Industrialisierung manche historisch bemerkenswerte Ereignisse – eines davon war die sogenannte Traumhochzeit der Herzogin und des Herzogs von Cambridge. Kurz darauf sorgten die Schotten für politisches Wetterleuchten, indem sie die Partei der schottischen Nationalisten (SNP) zur stärksten wählten – die schottische Regionalregierung hat nun die Chance, der Regierung in London mächtig Druck zu machen. Mindestens ebenso gravierend war die Entscheidung von 68 Prozent der britischen Wähler gegen die von den Liberaldemokraten seit einer Generation geforderte Wahlrechtsform. Sie sollte die Ungerechtigkeit beenden, daß überall im Lande jeweils der Stimmenstärkste eines Wahlkreises ein Mandat für das Parlament erhält und bis zu zwei Dritteln der Stimmen wertlos bleiben; Vertreter kleinerer Parteien haben in der Regel keine Chance. Wie es scheint, sind die Briten reformmüde; auch nimmt seit dem Antritt der Koalition das Misstrauen gegen die politischen Amtsträger merklich zu. Der Vorsitzende der britischen Liberalen, Vize-Premier Nick Clegg, hatte mit seiner Zustimmung zur Verdreifachung der Studiengebühren – die er beim Eintritt in die Koalitionsregierung noch ausgeschlossen hatte – einen Wortbruch begangen, der sich nun bei der Jahrhundertchance zur Verbesserung des Wahlrechts bitter rächte. Zudem verlor seine Partei bei den Kommunal- und Regionalwahlen 695 Stadt- und Gemeinderatsitze und ist damit (wie hierzulande die FDP) faktisch gelähmt. Nicht zu vergessen: Am 26. März 2011 hatte in London der größte Protestmarsch seit 2003 statt gefunden (damals ging es um den britischen Kriegseintritt gegen den Irak). Mehr als eine Viertelmillion Menschen waren dem Aufruf des Gewerkschaftsverbandes TUC zum »Anti-cuts march« gefolgt und demonstrierten gegen die Streichungen und Kürzungen der Koalitionsregierung. Sie waren aus allen Teilen des Landes gekommen, selbst aus dem weit entfernten Edinburgh, und marschierten vom Embankment bis zum Hyde Park. Blasmusikgruppen, Chöre und Tänzer begleiteten den Protestzug, und besonders laut pfiffen die Teilnehmer, als sie das Parlamentsgebäude passierten. Einer der Redner, die bei der Kundgebung im Hyde Park sprachen, war Labour-Chef Ed Miliband. Er formulierte unter großem Applaus: »Wir müssen darum kämpfen, die besten der von uns geschätzten Sozialleistungen, die das Beste unseres geliebten Landes sind, zu erhalten, zu schützen und zu verteidigen. Wir wissen, was die Regierung entgegnen wird: Dieser Protestmarsch bilde nur eine Minderheit ab. Sie irrt sich sehr. David Cameron, Sie wollten eine ›Big Society‹ kreieren – dabei sind wir die Big Society. Genau die Big Society, die jetzt geschlossen gegen das kämpft, was Ihre Regierung unserem Land antut. Wir stehen heute zusammen – nicht als eine Minorität, sondern als eine Stimme der großen Mehrheit in diesem Land.« Brendan Barber, der Generalsekretär des TUC, versicherte, »daß wir stark und einig sind und nicht zulassen werden, daß die Regierung die Leistungen des öffentlichen Dienstes zerstört«. Das extrem harte Kürzungsprogramm – es heißt beschönigend: »Welfare that Works« (funktionierende Wohlfahrt) – raubt den Resten der früher kampfbereiten Arbeiterklasse, der großen Zahl der Dienstleister sowie den prekär Beschäftigten, Arbeitslosen, Studierenden und nicht zuletzt den Rentnerinnen und Rentnern spürbar viel Geld aus den ohnehin knappen Kassen. Denn die britische Sozialpolitik begnügt sich im wesentlichen damit, Armut zu vermeiden; die macht es sich nicht zur Aufgabe, umzuverteilen und einen erträglichen Lebensstandard zu gewährleisten. Die gesamten Sozialausgaben liegen schon lange deutlich unter 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Kluft zwischen hohen und niedrigen Einklommen ist größer als im Durchschnitt der 27 EU-Mitgliedsstaaten. Die Nachkriegszeiten, in denen zunächst auch Großbritannien sein Sozialsystem ausbaute, sind lange vorüber. Margaret Thatchers marktradikal-konservativer Regierung nahm in den 1980er Jahren zahlreiche einschneidende Kürzungen statt, die angeblich zur Wiederherstellung »internationaler Wettbewerbsfähigkeit« beitragen sollten, tatsächlich aber den Staat und besonders den Sozialstaat zurückdrängten. Unter Tony Blairs Labour-Regierung galt die Leitidee des sogenannten Dritten Wegs, die dem Staat eine »aktivierende Rolle« zuwies. Eine Verbesserung sozialstaatlicher Leistungen war damit nicht verbunden, die Macht der Privatwirtschaft wuchs weiter. London wurde zu einem der wichtigsten Finanzplätze der Welt, weil auch unter Labour ein äußerst »liberaler« Regulationsrahmen alle großen Banken und Versicherungen wie magisch anzog. Der Finanzsektor macht inzwischen gut neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, und um so heftiger schüttelte die 2008 einsetzende Kreditkrise die gesamtwirtschaftliche Entwicklung des Vereinigten Königreiches; die Wirtschaftsleistung fiel 2009 um fünf Prozent, und die offizielle (!) Arbeitslosenrate stieg von 5,6 auf 7,6 Prozent. Gegenwärtig verzeichnet Großbritannien eines der größten Staatsdefizite Europas, und auch die Verschuldung der privaten Haushalte ist mit 180 Prozent des BIP beängstigend hoch ist – schon deswegen, weil gut 90 Prozent der Briten Immobilien besitzen die vor der Krise beliehenen Werte vieler Eigenheime krisenbedingt »preisbereinigt« wurden. Zurück zum Protestmarsch. Kurz bevor er begann, hatte am 23. März der britische Schatzkanzler George Osborne den Etat für 2011/2012 verkündet. Wie schon 2010 geplant, soll bis 2014 der Haushalt um 81 Milliarden Pfund gekürzt werden, davon elf Milliarden im Sozialbereich. Eine halbe Million Stellen im öffentlichen Dienste sind inzwischen schon beseitigt worden. Der britische Staat überläßt das Feld der privaten Wirtschaft, die wachsen und für Wohlstand sorgen soll. Damit ihr das gelingt, senkt die Regierung vor allem die Unternehmenssteuern. Die Körperschaftssteuer beträgt nur mehr 27 Prozent und soll in den nächsten Jahren weiter auf lediglich 23 Prozent sinken. Osbornes »Botschaft«, die jeder »von Hongkong bis Frankfurt bis Shanghai« hören soll, lautet: »Großbritannien ist offen für die Wirtschaft!« Die Demonstranten im eigenen Land verstanden, was diese Botschaft für sie bedeutet: Abbau von Unterstützungsleistungen und Verschärfung von Sanktionen als »Anreize« zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung verbindet, weil »Arbeit sich immer auszahlt« – unter diesen Umständen jedenfalls für die Unternehmen und Besserverdienenden. Auch daß Osborne ein Steuersystem mit einem einheitlichen Steuersatz von um die 20 Prozent anstrebt, ließ aufhorchen. Zwar ist damit ein höherer Steuerfreibetrag für Geringverdiener verbunden: 8000 Pfund im Jahr, aber profitieren werden davon eher die Bezieher höherer Einkommen. Für Rentner, Alleinerziehende, Studierende, Sozialhilfeempfänger und Durchschnittsfamilien sind harte Zeiten angebrochen. Das allgemeine Rentenniveau sinkt, Wohnungs- und Kindergelder werden gekürzt, Alleinerziehende mit Kindern über fünf Jahren erhalten keine Einkommensförderung mehr, sondern müssen sich künftig arbeitslos melden, zwecks »Beschäftigungsanreiz«. Gut möglich, daß die Großdemonstration in London der Auftakt für weitere Protestmärsche war. Selbst der Chef der Bank of England, Mervyn King, sagte jüngst, er verstehe die in die Arbeitslosigkeit oder in die Pleite gedrückten Menschen, wenn sie dagegen protestierten, daß die Banken mit Milliardensummen gerettet werden und sie durch die Kürzung staatlicher Leistungen für die Kosten dieser Rettungsaktion aufkommen müssen. »Der Preis der Kreditkrise muß von Menschen bezahlt werden, die sie nicht verursacht haben«, sagte er und fügte hinzu: »Ich bin erstaunt, daß die öffentliche Wut nicht noch viel größer ist.« King plädiert für eine stärkere Regulierung des Finanzsektors – zu der es hoffentlich nicht erst dann kommen wird, wenn der britische Staat bereits zu Wohlstandstode abgemagert worden ist.
Erschienen in Ossietzky 10/2011 |
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