von Torben Ehlers
Am Neujahrstag 1994 erhoben sich ein paar tausend schlecht bewaffnete Indios und Mestizen im südöstlichsten Bundesstaat Mexikos, erklärten dem Staat einen nationalen Krieg und begannen Ländereien zu besetzen. Der Aufstand scheiterte und die anfängliche Guerilla transformierte sich in der Folgezeit in eine einzigartige soziale Bewegung. Aus revolutionären Absichten wurden reformerische. In bis dahin nicht gekannter Weise verbinden die Zapatisen bis heute lokale Protestanliegen gegen Gewalt an Minderheiten – insbesondere indigenen Frauen – mit nationalen Forderungen an die Zivilgesellschaft für eine Demokratisierung Mexikos in einem globalen Problembewusstsein der zunehmenden Neoliberalisierung.
Seit nunmehr 16 Jahren widersetzt sich eine kleine ländliche Bewegung, die Zapatisten, in Chiapas der staatlichen Politik von Kooption und Korporatismus, Assimilation und Repression. 40 000–60 000 Soldaten, mehr als ein Viertel des mexikanischen Bundesheeres, belagern die Gebiete der sich seit längerem selbst verwaltenden Kleinbauern, Handwerker, Busfahrer, ehemaligen Gewerkschaftler, Plantagen- und Straßenbauarbeiter, Frauenkooperativen und deren geschaffene autonome Verwaltungszentren. Seit langem führen Militär, Geheimdienst und Paramilitärs von Großgrundbesitzern einen "Krieg der niederen Intensität" gegen die Anhänger dieser Bewegung, auch "Ejercito Zapatista de Liberación National" (EZLN) genannt. Dazu gehören Vergewaltigungen, gezielte Tötungen, Psychoterror, Folter, Demütigungen, willkürliche Verhaftungen, Landvertreibungen, Denunziation, Bestechungs- und Spaltungsversuche der Bewegung. Der EZLN gelingt es jedoch politisch immer wieder, sich der physischen Umklammerung zu entziehen. Sie appeliert wortgewandt via Internet und linksorientierten Tageszeitungen (wie dem "Proceso" oder der "Jornada") in regelmäßigen Abständen an die mexikanische Zivilgesellschaft, sich gegen den "Ausrottungskrieg" und für ein demokratisches Mexiko einzusetzen. Gehör finden sie bei den Millionen verarmter Mexikanern, die die Verlierer des neoliberalen Modernisierungskurses des Staates sind.
Grund für den Aufstand waren der Eintritt Mexikos in die nordamerikanische Freihandelszone 1994, zusammen mit den USA und Kanada sowie die Abschaffung des Artikels 27 der mexikanischen Verfassung (Regulation der Landvergabe, s.u.) zwei Jahre zuvor. Chiapas (über 4 Mio. Einwohner) mit seinem hohen Indigenen-Anteil von etwa einem Drittel steht aufgrund struktureller Rassismen in vielen mexikanischen Statistiken auf dem letzten Platz: ob bei der Lebenserwartung, dem Lohnniveau, den Wohnverhältnissen, der medizinischen Versorgung, der Analphabeten- oder Kindersterblichkeitsrate. Ca. 20 000 Menschen, meist Indios, sterben jedes Jahr an heilbaren Krankheiten wie Keuchhusten, Masern, Tuberkulose, Cholera oder Unterernährung. Hinzu kommt eine extrem ungerechte Landverteilung in einem Bundesstaat, dessen Bevölkerung sich alle 20 Jahre verdoppelt ohne das neues Land nutzbar gemacht werden kann (Einwohnerzahl 1970: 1,5 Millionen). Der oben erwähnte Artikel 27 regulierte in den vergangenen Jahrzehnten durch staatliche Landvergabemechanismen die letzten brauchbaren Flächen, doch seit zwei Jahrzehnten hat Mexiko nichts mehr zu verteilen. Die Lage wird im Bundesstaat noch durch 100 000 ehemalige guatemaltekische Bürgerkriegsflüchtlinge verschärft, die in ihrer Not die sowieso schon kargen einheimischen Löhne als Saisonarbeiter unterbieten.
Obwohl schon 1982 nach der verherrenden Weltwirtschaftskrise durch einen Staatsbankrott via IWF und Weltbank eingeleitet, schwenkte Mexiko seit 1992 vollends auf einen kapitalistischen Kurs ein. Auch die letzten "sozialistischen" Ambitionen wurden aufgegeben – zu ungunsten Millionen Angestellter der fragilen Mittelschicht in Staatsbetrieben agro- wie industrieller Art, die dann in den tertiären Sektor abrutschten. Die staatlichen Löhne wurden dem privatwirtschaftlichen Marktprinzip angepasst und die Subventionen für Preisgarantien der wichtigsten Lebensmittel wurden gestrichen. Letzteres traf besonders die Kleinbauern im ländlich geprägten Chiapas, von denen sich viele daraufhin der EZLN anschlossen. Aber auch jene ehemaligen Landlosen aus ganz Mexiko, die in den 1970er Jahren in die letzten Landrefugien des Lakandonischen Regenwaldes an der Grenze zu Guatemala geströmt waren und dort neben den ansässigen Ethnien jenseits des Staates eigene Strukturen für ihre kleinen Ackerflächen aufgebaut hatten, sahen keine Möglichkeit mehr, die Landrechte zu erhalten, auf die sie seit Jahrzehnten gewartet hatten. Die Kleinbauern hatten zahllose Anträge gestellt, jahrelang demonstriert, protestiert, Verhaftungen und Gewalt in Kauf genommen und gewartet. 1992 riß der Faden der Geduld und Vorbereitungen für eine neue Form politischer Aktionen wurden vorbereitet, die sich im Aufstand 1994 entzündeten. Bewusst wurde der Neujahrsmorgen 1994 als Beginn des Aufstandes gewählt: Der Tag des Inkrafttretens des NAFTA-Abkommen, ein Tag an dem die Welt auch auf Mexiko und diese ungewöhnlichen Aufständischen schaute. Seit jener Zeit herrschen bürgerkriegsartige Zustände zwischen den großen Rinderzüchtern, Plantagenbesitzern mit Privatarmeen, geschützt von Polizei und Militär, und den eher schlecht ausgerüsteten Zapatisten um einigermaßen gutes Land. Mit geringem Aufwand enthüllten die Zapatisten das diktatorische Gesicht der mexikanischen Regierung.
Neben dieser chaotisch anmutenden Situation vollzieht sich zudem in und um die zapatistisch gehaltenen Gebiete das wohl größte überstaatliche Entwicklungsprojekt der Welt: der Puebla-Panama-Plan. Dieses Mammutprojekt sieht eine flächendeckende (Agro-) Industrialisierung in nahezu allen Lebens- und Arbeitsbereichen im verarmten Südmexiko, ausgehend von der Stadt Puebla über Guatemala, Belize, Honduras, San Salvador und Costa Rica bis nach Panama vor. "Jaguarstaaten" sollen in den nächsten zwanzig Jahren aus den lateinamerikanischen Entwicklungsländern werden, die mit den asiatischen "Tigerstaaten" um Billiglohnarbeit und niedere Dienstleistung zu konkurrieren haben zum Wohle der USA und der EU. Eine Entwicklung, gegen die sich die zapatistischen Gemeinden zusammen mit anderen betroffenen Netzwerken zur Wehr setzen, zum Unwillen der großen Wirtschaftskonsortien, die riesige Touristenzentren, Strohmtrassen und Handelszentren planen und zum Wohle ihrer Investitionen keine renditedrückenden Revolten gebrauchen können.
Da ist die Frage schon erlaubt, wie es diese kleine Bewegung mit ihren weltweit auf Gehör stoßenden Nachrichten aus dem Lakandonischen Regenwald schafft, sich gegen die global größten Konsortien zu behaupten. Die Zapatisten besitzen ein einzigartiges Charakteristikum: ihr hybrides Identitätskonstrukt. Die Anhänger sind bei weitem nicht mehr nur Indigene der vier indianischen Hauptethnien (der Chol, Zoque, Tzotzil oder Tojolabales) bzw. der Maya-Ethnien. Viele junge Mestizen, die nach dem Ende der staatlichen Landverteilung 1992 keine Chance mehr auf einen eigenen kleinen Acker sahen und ganze, durch die Bevölkerungsexplosion in den 1970er Jahren neu gegründete Gemeinden sind Teil der lokalen Bewegung. Die Beginne der Bewegung von 1983 resultieren aus einer Mixtur marxistisch-leninistischer Großstadtrevolutionäre mit guevaristischer Strategie und indigener Entscheidungsfindung im radikaldemokratischen Konsens, deren Symbiose an sich schon etwas völlig Neues darstellte. Darüber hinaus hat sich die Bewegung im Laufe der Entwicklungen der letzten 30 Jahre immer wieder selbst neu erfinden müssen, um sich neu entstandenen Begebenheiten in der mexikanischen Gesellschaft anzupassen, so die Abwahl der sozialistischen Partei nach 80 Jahren Diktatur durch eine USA-freundliche Alternative unter dem Ex-Coca-Cola-Manager Vicente Fox im Jahr 2000. Auch das ist ein Novum, an dem viele Bewegungen, nicht nur in Lateinamerika, zerbrochen sind.
Indigene gelten heute immernoch als der Abschaum der mexikanischen Gesellschaft, die es kulturell durch Assimilation in das Mestizentum auszurotten gilt ("Indigenismus" genannt). Die Zapatisten drehen die Diskriminierung soziopolitisch um, und setzten sich vom Boden der hierarchischen Gesellschaftspyramide an deren Spitze, als die "wahren mexikanischen Menschen", die noch frei von Korruption und kapitalistischer Profitgier existieren. Als strategische Ressource im Kampf um soziokulturelle Rechte ein politisch genialer Schachzug. Freilich ist dies die romantisierende Konstruktion des "edlen Wilden" an der auch Karl May seine Freude gehabt hätte. Doch die anfängliche indigene Guerilla mit linksintellektueller Führung konnte sich so für alle Mexikaner öffnen, da Mestizen selbst ein hybrides Ergebnis aus Indigenen und Spaniern sind. Die Bewegung konnte wachsen und Sympatisanten im ganzen Land, insbesondere den urbanen Zentren zu gewinnen. Mit der Forderung nach Demokratie, Gerechtigkeit, Bodenrechten und fairen Produktionsbedingungen, gerade an die Zivilgesellschaft und nicht den Staat gerichtet, traf sie den Nerv der Zeit: Die EZLN mit ihren allgemeingültigen Forderungen der Zivilgesellschaft gegen die Regierung wurde zum Symbol des Widerstandes kontra des Ausverkaufes der mexikanischen Nation an das global agierende Kapital. Damit konnten die Zapatisten nun große Teile der mexikanischen Gesellschaft identifikatorisch ansprechen: Linke, Indigene, unabhängige Gewerkschaften, nichtstaatliche Agrarorganisationen, Arbeiter, Apo-Vereinigungen, Frauen und alternative jugendliche Milieus.
Die zapatistische Bewegung nahm bei der Nutzung des Internets eine Vorreiterrolle ein und erkannte dessen Relevanz, um asymetrische Berichterstattung offizieller Kanäle zu umgehen. Bis heute artikuliert die EZLN über globale Internetformen ihre Forderungen und Positionen zu Protesten andernorts, die weltweiten Anklang finden. Dies hat ihnen sogar die Titulierung der "Diskursguerilla" oder der "Cyberrevolutionäre" eingebracht. Die "rückständigen" Zapatisten bauten somit eine Achse auf, die über eine regionale Bedrohung ihrer Lebenswelt die nationale Gefährdung der mexikanischen Gesellschaft durch die kapitalistische Tranformation im Zuge der weltweiten Neoliberalisierung klar benannte. Damit hatte die EZLN drei Ebenen (lokal, regional/national, global) des Protestes für sich nutzbar gemacht und soziokulturelle sowohl mit politischen als auch ökonomischen Forderungen verbunden, was bisher noch keiner lokalen Bewegungen gelungen war.
Einzigartig sind auch ihre Aktionen, die sich von allen anderen Guerillas und sozialen Bewegungen, nicht nur Lateinamerikas, sondern weltweit unterscheiden: Schon ein Jahr nach dem Aufstand führten die Zapatisten an über 6000 Anlaufpunkten in ganz Mexiko eine "Befragung über den Frieden und die Demokratie" mit über einer Millionen abgegebener Stimmen bezüglich ihres eigenen weiteren Vorgehens durch. 1996 willigte sie in das "Abkommen von San Andres über die Anerkennung indigener Rechte und Kultur" ein, welches vom Kongreß im Nachhinein jedoch bis zur Unkenntlichkeit verändert wurde. Im gleichen Jahr lud sie zum "Ersten Intergalaktischen Treffen für die Menschheit und gegen den Neoliberalismus" im Lakandonischen Regenwald ein, zu dem über 3500 Delegierte aus 54 Ländern anreisten sowie zum "Marsch nach Mexiko-Stadt", wo sie auf einer Großveranstaltung zum ersten Mal offiziell in Erscheinung trat. Selbiges wiederholte sie im Jahr 2001 als "Marsch der indianische Würde", diesmal mit dem ehemaligen Führer der Bewegung Subcommandante Marcos vor über hunderttausend Menschen. Zu den Präsidentschaftswahlen 2006 vollführten die Zapatisten "die andere Kampagne" gegen die nationale Elite und transnationale Konzerne: ein Zusammenschluss zahlreicher Netzwerke, Gewerkschaften, Indigenenorganisationen und Gruppierungen der mexikanischen Linken gegen die etablierten Parteien zusammen mit weiten Teilen der Zivilgesellschaft. Ziel war die Selbstdarstellung sowie die sozialen Kämpfe der Apo in Mexiko zu verbinden und über verschiedene Plattformen in einen dauerhaften Dialog zu treten. Anfang letztes Jahr wurde dann auf dem zentralen Platz in der Hauptstadt das "Festival der würdigen Wut" veranstaltet, bei welchem vor allem Minderheiten wie Sexsklavenarbeiterinnen, Aidskranke, Flüchtlinge und Indigenenorganisationen Artikulationsmöglichkeiten in der Öffentlichkeit für ihre Lebenswelten geboten wurde. Der Ansturm und das nationale Feedback dieser Aktionen war so gewaltig, dass es sich die Regierung – zumindest vor den Medien – nicht erlauben konnte, diese ernsthaft zu behindern. Gespannt bleibt abzuwarten, was die zapatistische Bewegung an neuen Aktionen plant, von denen andere soziale Bewegungen weltweit viel lernen können. Ihre Kernaussagen gehen derweil weiter um den Globus: "Eine andere Welt ist möglich", "für eine Welt, in die viele passen" oder "ya basta!" (es reicht!).
Dieser Artikel erschien zuerst in Contraste. Monatszeitschrift für Selbstorganisation Nr. 312.
Torben Ehlers ist Diplom-Sozialwissenschaftler und Doktorand am Institut für Soziologie an der Leibniz-Universität in Hannover. Zuletzt von ihm erschienen: "Der Aufstand der Zapatisten – die 'widerspenstige Schnecke' im Spiegel der Bewegungsforschung", Tectum-Verlag (2009).
https://sopos.org/aufsaetze/4d9c63e1ee3d1/1.phtml
sopos 4/2011