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Denn gerade auch die Fehler hätten zum Beispiel Marx zu seiner großartigen Analyse der Commune veranlaßt, hätten also für zukünftige Generationen die »Wirkung« der ersten echten Volksherrschaft »wachsen« lassen, weil das Verstehen von Fehlern helfe, sie künftig zu vermeiden. Ähnliches könnte man über die »Fehler« sagen, die in der DDR gemacht wurden und die zu leugnen es für uns keinen Grund geben darf. Aber warum sage ich das? Dies soll doch eigentlich eine Laudatio für Wolfgang Fritz Haug werden – und nicht nur weil er 75 wird. Ich überlegte, wie man WFH, der schon viele Laudationes über sich hat ergehen lassen müssen, loben kann, ohne ihn mit Üblichkeiten zu behelligen. Da entsann ich mich eben jenes Gesprächs, bei dem es ums »Fehlermachen« ging. Und mir fiel noch ein anderer Satz ein, der mir auch bis heute gefällt. Und so möchte ich im Folgenden den Versuch unternehmen, einen »Fehler« von WFH zu loben. Denn jener andere Satz von Brecht, der seither zu meinem Repertoire gehört, lautet: »Die Irrtümer der Klugen enthalten oft mehr an Wahrheit als die Wahrheiten der weniger Klugen.« Ursprünglich stammt der Satz allerdings nicht von Brecht, sondern vermutlich von Jürgen Kuczynski, einem Ökonomen von seltenem Witz und Geist, dem auch eine Formulierung zugeschrieben wird, die in der späten DDR die Runde machte: »Wir haben die Welt lange genug verändert, es kommt darauf an, sie wieder einmal zu interpretieren.« Wenn ich also im Folgenden von einem Irrtum des WFH spreche, geht es eigentlich um Wahrheitsfindung. In seinem Buch »Philosophieren mit Brecht und Gramsci«, einem der wichtigsten Bücher über Brecht, in dem auch ausführlich über die vieldiskutierte »Einfachheit« Brechts nachgedacht wird, lese ich: »Brecht macht Kunst, indem er sie philosophisch nutzt … Brecht spricht seine Einsichten überraschend einfach aus, seine Kunst in diese Einfachheit steckend oder versteckend.« Fern von Dialektik betrachtet, ist das einfach falsch. Es gleicht ein wenig dem verunglückten Versuch der deutschen Aufklärung, Moral in der Einfachheit von Erzählungen, Geschichten, Fabeln zu »verstecken«, um sie auch für »einfache Leute« verständlich zu machen. So formuliert zum Beispiel Johann Christoph Gottsched: »Fabeln sind dazu da, daß auch der Analphabet die Moral versteht.« Hier wird die Ästhetik in die Rolle einer Magd der Philosophie verwiesen, die hauptsächlich dazu taugt, Moral zu transportieren. Und deren Wirkung hauptsächlich an der »Erziehung des Menschengeschlechts« gemessen wird. Auch WFH sieht die »Einsichten« Brechts in der »Einfachheit« Brechts »versteckt« und ist hier Gottsched näher als Brecht. Dagegen stelle ich meine »einfache« Behauptung: Für Brecht ist Einfachheit die Einsicht. Es gelingt ihm – und das ist seine Genialität –, höchste Intellektualität in die künstlerische Naivität zurückzuführen, ohne sie zu verlieren, im Gegenteil: sie durch einfache – »naive« – Reaktionen (Wundern, Empörung, Einverständnis, Spaß, Neugier und so weiter) erst richtig zur Wirkung zu bringen oder zu dem, was man »Genuß« nennt. So ist »Genuß« eine zentrale Kategorie des Brechtschen Werkes. Eigentlich der Schlüssel zu Brecht. Jener »Genuß« allerdings, den Marx in den »Grundrissen« als die höchste Form der »bewußten menschlichen Lebenstätigkeit«, als produktive »Menschwerdung« beschreibt. So wird auch Brechts Politik nicht in der Ästhetik »versteckt«. Brechts Ästhetik ist Politik. Und zu Recht spricht David Salomon in seiner eben erschienenen Dissertation über Brechts frühe Stücke, in deren wilder Ästhetik mancher vergeblich nach »Politik« des späten Brecht sucht, von »politischer Ästhetik«. WFHs Irrtum, Brecht verstecke seine »Einsichten« in seiner »Einfachheit«, erweist sich, genau besehen, eben nicht nur als »alter Fehler« Gottscheds, sondern enthält eine große Entdeckung: die Einfachheit als Problem. Brechts Einfachheit versteht sich nicht »einfach« von selbst, sie ist eine konstituierende Kategorie seines Werkes. Die Form selbst ist hier bereits Inhalt. Eben politische Ästhetik. Die unermüdliche Suche mancher Brecht-Forscher nach »Politik« in Brechts frühen Werken kommt mir übrigens vor wie die Suche jener Anthropologen nach dem Zwischenglied zwischen den Primaten und dem Menschen, denen Konrad Lorenz antwortete: »Das könnt ihr gar nicht finden, das seid ihr selbst.« WFHs Entdeckung, daß Brechts »Einfachheit« nicht einfach eine Selbstverständlichkeit ist und theoretische Überlegungen nicht erst bei den »intellektuellen Leistungen« oder gesellschaftlichen Einsichten des Mannes aus Augsburg einsetzen sollten, sondern daß seine »Einfachheit« selbst eine der großen intellektuellen Leistungen Brechts ist, provoziert den nächsten Schritt, daß hier keine »Einsichten« versteckt werden, sondern daß »Einfachheit« die große Einsicht ist. Brecht selbst forderte in einem seiner letzten Gespräche, Naivität als eine konstituierende Kategorie seines gesamten Werkes zu betrachten. Auch die Ästhetik der frühen Gedichte Brechts schwebt nicht als »geniale Form von Literatur« (Reich-Ranicki) über der Realität. Sie ist Inhalt. Sie greift provozierend ein und widerlegt allein schon durch ihre Form den damaligen Mainstream der »Oh Mensch«-Hymnen mit ihren Salti mortale der Verkomplizierung der Welt, in der tatsächlich »einfache« Wahrheiten in Kompliziertheit versteckt werden. Brechts frühe rebellischen Texte, die das Bürgertum aufschreckten, wurden nicht durch revolutionäre Haltung der späteren Brecht abgelöst, sie waren bereits Revolution. WFHs Entdeckung der Einfachheit Brechts als Problem provoziert in erstaunlicher Weise solche Überlegungen. Brechts Gefallen an dem Satz »Die Irrtümer der Klugen enthalten oft mehr Wahrheit als die Wahrheiten der weniger Klugen« erweist sich wieder einmal als Wahrheit.
Erschienen in Ossietzky 6/2011 |
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