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Zugleich erleichtert der doppelte Wohnort – durch regelmäßige Zugreisen hin und her – ein Urteil über den verkorksten, unprofessionellen und lebensgefährlichen Alltagsbetrieb der Deutsche Bahn Aktiengesellschaft, der Haupt-Missetäterin nicht nur in Sachen »Stuttgart 21«. Was bietet die eine, was die andre Stadt denen, für die sie allererst da sind: für ihre Einwohner? Wie kommen, falls überhaupt, die gewählten Stadtregenten den vitalen Bedürfnissen der Bevölkerung entgegen? Welchen Bewegungs- und Atemspielraum ermöglichen sie ihr? Wer heutzutage mit wachen Sinnen Wien durchquert, ob zufuß oder mit einer der vielen Trambahnen und Busse, die ihren Fahrgästen ein reiches Blickfeld erlauben, erlebt ein vielfältiges Ensemble von unverwechselbaren, jeweils baulich homogenen Bezirken, gruppiert um ein architektonisch prägnantes Stadtzentrum. Kaum ein Wiener Bezirk ohne mehrere baumreiche Parks. Privater Autoverkehr ist im Stadtkern verwehrt – hier fahren nur kleine. wendige City-Busse –, in andren Vierteln ist er sinnvoll kanalisiert. Heftig läuft er ab über drei bogenförmige Chausseen, die den Gesamtorganismus der Stadt nicht zerschneiden, sondern gliedern, flankiert von Fahrrad- und Gehwegen. Zahlreiche Ampeln lassen die Fußgänger jene stark frequentierten Autostraßen überqueren, ohne sie in Unterführungen hinabzunötigen. Wer es eilig hat im Berufsverkehr, wählt eine der weit verzweigten U-Bahnen, die neuerdings auch nachts fahren. »Wiener Linien« heißt der wohldurchdachte Verkehrsverbund, der fehlerlos funktioniert zur Winter- wie zur Sommerzeit, und das gilt nicht nur für die Fahrzeuge, sondern auch für die Rolltreppen und Aufzüge. Er gehört den Wiener Stadtwerken, ist Gemeindebesitz. Die Sozialdemokraten, die in dieser Metropole seit Kriegsende mehrheitlich regieren – wie schon in der ersten Republik, bis zur blutigen Machtergreifung der Austrofaschisten Anno 1934 –, sie haben sich hier ausnahmsweise noch nicht ganz ihrer bevölkerungsnahen Herkunft entledigt, jener aus dem ehemals »Roten Wien«. Sie haben sich sogar erfolgreich, wenn auch inkonsequent, immunisiert gegen die Privatisierungsseuche ringsum. Rechtens sind sie nach wie vor stolz auf den einzigartigen herkulischen Ruck, städtebaulich und sozial: die damals auch architektonisch avantgardistischen Gemeindebauten seit 1920 aus dem Boden gestampft zu haben. Höfe nennt man diese geräumigen Wohnkomplexe, die einst die Arbeiterfamilien aus dem Elendsmilieu der dumpfen Mietskasernen hervorholten ans gesunde Tageslicht, denn jeder umschließt einen großzügig bemessenen Innenhof, luftig mit parkartigem Baumbewuchs. Und man kann auch jetzt noch so etwas verspüren wie ein ausgeprägtes Wir-Bewußtsein vieler Wiener beim öffentlichen Gemeindebesitz »unserer« Freibäder und Sportanlagen, Volkshochschulen und Bezirksbibliotheken. Daß es in jedem Bezirk hinreichend öffentliche Toiletten gibt, auch zahlreiche stabile Abfallkörbe, die oft geleert werden, daß die Straßenreinigung mindestens doppelt so häufig und gründlich erfolgt wie in Let’s-Putzingen und daß sie im Winter allenthalben mit rutschfesten Gehwegen aufwartet, versteht sich von selbst bei einer Stadtverwaltung, die weiß, wozu sie da ist: fürs Wohlergehen aller Einwohner. Paradiesische Verhältnisse? Nein, irdische, nicht mehr als recht und billig für eine kultivierte mitteleuropäische Großstadt. Der Vergleich der beiden Städte erbringt einen krassen Kontrast. In Stuttgart quellen die gebrechlichen Abfallkörbe über, wettstreitend periodisch mit den Bergen aufplatzender Gelber Säcke. Wochenlang ragen kaputte Fahrradtrümmer und andrer Unrat aus dem idyllischen Feuersee, auf dem immer mal wieder tote Fische treiben, unbeachtet vom städtischen Gartenamt. Eine sinnvolle innerstädtische Neuregulierung des Nesenbachs wird schon jahrelang ergebnislos begrübelt. Und zartfühlend schaut die Polizei darüber hinweg, wenn mehr und mehr Radfahrer – auch ich – die Bürgersteige für sich erobern. Denn wo Fahrradwege fehlen, flüchten sie vor der gefährlichen Meute kaum je tempo-kontrollierter Autofahrer auf die Gehsteige, wo sie nun ihrerseits die Fußgänger gefährden. Inmitten dieses allzu vertrauten Verkehrschaos, im unwohnlichen Zentrum der Stadt, wo sich interne zweibahnige Autobahnen verknoten, würden durch »Stuttgart 21« für mindestens 15 Jahre gigantische Baugruben entstehen. Ebenda würden sich schier endlose Ketten von Lastwagen stauen, Schutt hinweg- und Baumaterial herbeischleppend. Diese Schauervision wird zur staubwolkigen, auspuffstinkenden, tagauf nachtab lärmtosenden Wirklichkeit, falls »Stuttgart 21« gewaltsam durchgesetzt wird. Damit nähere ich mich dem Erb-Übel dieser planvoll deformierten Stadt: Sie räumt ihrer Bevölkerung so gut wie keine wohnviertelnahen öffentlichen Plätze ein. Was seit der Antike in allen Metropolen unentbehrlich war, das Forum, und was heute noch als italienische Piazza oder als spanische Plaza mayor die Leute anzieht, um einander zu treffen, um zu debattieren, um Ball zu spielen oder gar – behördenbedenklich – sich zusammenzurotten, das wurde durch Stuttgarts Nachkriegs-Umbau systematisch getilgt. Aus vormaligen Plätzen hat man Autokreuzungen gemacht, ohne Auslauf für die Fußgänger, denen nur der Untergrund vergönnt ist. Charlottenplatz, Österreichischer Platz, Rotebühlplatz und neugetaufter Arnulf-Klett-Platz: als Forum oder Piazza sind sie nur noch ein hochstapelndes On dit. Es empfiehlt sich, dann und wann Berichte zu lesen und alte Fotobände zu betrachten, aber auch die verbliebenen urbanen Restbestände im Osten, Süden und Westen Stuttgarts von vor dem Zweiten Weltkrieg zu durchstreifen. Eine quicklebendige, reiz- und charaktervolle Stadt lernt man da kennen, einzigartig in Europa, die, wie ein kleineres Rom, die Hänge ihrer diversen wald- und weinbewachsenen Hügel empor gebaut ist, eigensinnig und kühn. Solche gelegentliche Rückschau ist ebenso vergnüglich wie erschreckend, angesichts der heutigen Zustände. Zerstückelt wurde jene gewesene Stadt weniger durch die verheerenden Kriegszerstörungen – die hatte auch Wien zu verkraften. Zerstückelt wurde sie hernach erst durch das Programm einer autogerechten, vermeintlich zukunftsweisenden Metropole, die ihre Fußgänger zurück jagt ins Zeitalter der Höhlenbewohner. Retour und hinab mit ihnen in die Unterführungen. Schließlich waren sie lange schon eingeübt in die anheimelnden Luftschutzkeller. Also reif für ein angemessen monumentales kollektives Bußopfer. Und siehe: Was dem annektierten Namenspatron der unerschütterlich regierenden Christlich Demokratischen Union dermaleinst widerfuhr, als man ihn ans hochragende Kreuz schlug, das hat sich prompt flächendeckend ins Waagrechte verlagert. Horizontal hat man diese Stadt sogar vielfach gekreuzigt durch die invasorischen internen Autobahnen, die den urbanen Gesamtorganismus zerschneiden. Womöglich noch mehr müßte allerdings befremden, daß seit mehr als einem halben Jahrhundert, ohne so wie jetzt endlich aufzubegehren, die Einwohnerschaft sich offenbar abgefunden hat mit dieser Kreuzigung. Nicht einmal vorläufige Erleichterungen hat sie ihrer selbstherrlichen Obrigkeit abtrotzen können. Vorab den längst fälligen Bau einer Umgehungs-Autobahn, verbunden mit einem strikten Transit-Verbot für alle auswärtigen Kraftfahrzeuge, die noch immer massenweise tagtäglich das Stadtinnere durchdrängen. Technisch und finanziell wäre diese notwendige Linderung ohne weiteres zu bewerkstelligen mit den Mitteln des vollends verkehrserstickenden Projekts »Stuttgart 21«. Spätestens jetzt ist allerhöchste Zeit dafür. Gleichzeitig ließen sich jene Gelder, diesmal gebrauchswertvoll, dazu nutzen, die ärgsten stadtinternen Autobahnen stillzulegen. Vor allem die brutalste, die Adenauerstraße alias B14 einschließlich ihrem unterirdischen Schienen-Gekröse namens Charlottenplatz. Samt ihrer Fortsetzung, der Hauptstätterstraße, könnte man sie allmählich in eine radaulose, feinstaubfreie Allee nivellieren, gesäumt von wohnlichen, mietgünstigen und ästhetisch einwandfreien Gemeindebauten etwa nach Art der besagten Wiener Höfe. Solche Maßnahmen wären Ausdruck einer unverkrampft selbstbewußten, überregional anziehenden Metropole. Einer Stadt Stuttgart, die ihrem prachtvollen Schloßpark ebenso gewachsen wäre wie ihren vergleichsweise unversehrten Restbeständen im Osten, Süden und Westen. Also konträr zu dem abstoßenden, international bespöttelten Alptraum der Deutsche Bahn Aktiengesellschaft und ihrer politischen Helfershelfer. Denn nur lebensmüde Toren können ernsthaft jenes ausposaunte Zukunftsziel für verlockend halten: die fortschreitende Temposteigerung fehlkonstruierter ICE-Züge, die sich jetzt schon gebrechlich daherschleppen. Beängstigen sie doch nun schon seit Jahren ihre teuer zahlenden Kunden durch fast regelmäßige »technische Betriebsstörungen«. Und stehlen ihnen durch mangelhafte Fahrplan-Organisation wertvolle Lebensstunden. Zweifellos, die deutschen Staatsbahnen sowohl der BRD wie der DDR waren sicherer, sie waren zuverlässiger, mithin auch objektiv schneller am gewünschten Zielort. Falls je dieser überforderten Murks-AG das gelänge, was sie lautstark anpreist, es wäre gerade das Gegenteil von gloriosem Fortschritt. Ein schmählich anachronistischer Rückfall wäre es auf den neusten Stand der Technik von 1860. Damals, als die luftdruckgetriebene innerstädtische Rohrpost den Inhalt ihrer fest verschlossenen Hülsen durch unterirdische Röhren schoß. In Höchstgeschwindigkeit also würde man inskünftig die recht und schlecht eingebüchsten menschlichen Lebewesen, durch Tunnelröhren und zwischen Lärmschutzwänden, vom Start zum Ziel schießen. Buchstäblich aussichtslos; denn Fenster wären ja entbehrlich. So wie damals beim leblosen Inhalt der Rohrpostbüchsen. Sollten dann bei den auch jetzt schon allemal erwartbaren Unfällen der Deutsche Bahn AG ihre sogenannten Fahrgäste in den Tunnelröhren verenden, würden sich vielleicht sogar die Beerdigungskosten erübrigen.
Erschienen in Ossietzky 5/2011 |
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