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Hier soll keine Abhandlung zur Erlangung eines wissenschaftlichen Grades folgen, sondern eine schlichte historische Erinnerung. Eine Reminiszenz an die Zeit vor über hundert Jahren, als Berlin eine Reichshauptstadt war, voller Theater, voller Kritiker, also voller Neider, Intrigen und Skandale. Damals begann ein Sechzehnjähriger ein Studium. Mit sechzehn Abitur? Nein, der junge Mann hatte lediglich die Reife für die Unterprima erlangt. Mit diesem Abschluß durfte man immerhin acht Semester studieren. Das tat der junge Mann mit heißem Bemühn, denn er wollte Theaterkritiker werden. Die Welt am Montag des Pazifisten Hellmut von Gerlach ermöglichte es dem gerade Zwanzigjährigen, der zunächst 48 Mark und 43 Pfennige monatlich bekam, später sogar 200 Mark. Kein schlechter Verdienst für einen undiplomierten, unpromovierten professionellen Bewerter von Schauspielen und Schauspielern. Der junge Mann schrieb später darüber: »In vollster Unabhängigkeit und Rücksichtslosigkeit konnte ich meine Meinung sagen. (…) Das mußte sich freilich eines Tages rächen.« Die Rache kam am 12. November 1904. Das Berliner Tageblatt veröffentlichte »Ein psychologisches Rätsel«. Darunter standen Theaterkritiken des Schriftstellers Alfred Gold von 1897 und des jungen Mannes von 1904. Mal sieben, mal zehn, mal drei gleiche Zeilen. »Ein Sensationsstück ersten Ranges, für das es sich lohnte, die berliner Litfaßsäulen mit Riesenplakaten – Jacobsohns Entlarvung, Plagiator Jacobsohn, Siegfrieds Tod – wochenlang vollzukleben.« Das schrieb der junge Mann Siegfried Jacobsohn neun Jahre später und lieferte die Erklärung: »Mein jüngst erschienenes Buch und mein Gedächtnis. Um das ›Theater der Reichshauptstadt‹ zu beschreiben, dessen Entwicklung ich nur in den letzten Jahren miterlebt habe, hatte ich die Aufgabe, mir die Zeit von 1870 bis 1900 teils zum ersten Mal vor die Augen zu führen, teils aufzufrischen … Dazu dienten mir alle erreichbaren Zeitungs- und Zeitschriftenbände aus diesen drei Jahrzehnten, … die ich übergewissenhaft so und so viele Stunden täglich mit überanstrengten Augen und überanstrengten Nerven durcharbeitete. Aber nach und schon während dieser Arbeit zeigten sich üble Folgen. In meinem Gedächtnis schlummerten von fremden Autoren Worte, Bilder, Sätze und ganze Satzfolgen …« Zeitgemäß formuliert: Jacobsohn hatte eine gut ausgestattete Festplatte mit ungeordneter Zugriffsberechtigung. Der Fortgang der Geschichte ist glücklich und bekannt. S. J. flog aus der Redaktion, verließ Berlin – nein, es geht wirklich nicht um das künftige Schicksals eines Freiherrn –, machte eine Italienreise, besuchte Paris, borgte sich überall Geld, bis er 25.000 Mark Gründungskapital besaß, bat Freunde, die er immer noch hatte, um Mitarbeit und gab am 7. September 1905 die erste Nummer Die Schaubühne heraus, eine Wochenschrift, die ab dem 4. April 1918 als Die Weltbühne firmierte. Schon 1913 hatte Jacobsohn die Unterzeile »Wochenschrift für die gesamten Interessen des Theaters« gestrichen, und als eine Schweizer Zeitung in einem Artikel über Die Schaubühne den Begriff »Weltbühne« gebrauchte, war die Richtung klar. Tucholsky, der berühmteste Mitarbeiter, schrieb als Theobald Tiger in der ersten Nummer der Weltbühne: »Mein gutes Blatt! Wie hast du dich verändert! / Den Musentempel schließt du beinah zu; / Mit Politik, Kunst Wirtschaft dich bebändert, / So geht dein Vorhang auf: auch du, mein Kind, auch du?« Was lernen wir daraus? Auch Du, Karl-Theodor, Du Kind der Zeit, mach einfach das, was Dir behagt! Als Freiherr ist man zum Beispiel prädestiniert, ein Weingut zu leiten oder eine oberfränkische Zeitschrift herauszugeben. Man könnte mit den Kindern Schiffe versenken oder Computerspiele erfinden, bei denen man Punkte macht durch möglichst viele liquidierte Gegner. Doch Parallelen zwischen S. J. und KT sind eben nur geringe. So mußte der Freiherr seine Doktorarbeit nicht nur »übergewissenhaft so und so viele Stunden täglich mit überanstrengten Augen und überanstrengten Nerven durcharbeiten«, ihm hingen auch noch mehrere kleine Kinder am Rockzipfel, und die Bundestagsfraktion forderte ihn tagelang in die Sitzungsschranken. Auch war der Jude Jacobsohn durch seine schneidig-scharfen Kritiken äußerst unbeliebt, der adlige Militärminister hingegen ist bei zwei Dritteln des Volkes durch sein schneidig-scharfes Auftreten beliebt, vor allem dank Bild-Zeitung, die ihre zehn Millionen Leser lehrte, ihn zu bewundern. Zwar gibt es ein paar Talk-Show- und Presse-Meckerköppe, die ihm an den Karren fahren möchten, aber das Leitmedium und die Leserbriefverfasser halten zu ihm wie die Wacht am Rhein. Und immer heißt es: Machen wir’s nicht alle wie unser Gutti? Ich zum Beispiel habe in diesem Beitrag nichts selbst erarbeitet, sondern alle Zitate dem famosen Buch der feinsinnigen Ursula Madrasch-Groschopp »Die Weltbühne – Porträt einer Zeitschrift« von 1983 entnommen. Das Buch erschien in einem dahingegangenen Staat, zu einer Zeit, als in Afghanistan lediglich Sowjets und von den USA unterstützte Taliban gegeneinander kämpften und noch niemand daran dachte, daß dort eines Tages unser Militärminister an der Seite seiner Gattin einen schweren Dienst würde tun müssen, um nachher über fehlende Fußnoten zu stürzen. Eines allerdings zieht sich seit der Gründung der Schaubühne durch die Jahrzehnte: Pazifisten mag man nicht. Mal sind sie gegen Kaiser, Gott & Vaterland, mal unpatriotisch, unsozialistisch und derzeit unrealistisch, nicht sachorientiert, wenig zielführend und sehr kleinkrämerisch: hängen sich an Zitaten auf, statt unserer gefallenen Helden zu gedenken.
Erschienen in Ossietzky 5/2011 |
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