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In diesem langen Zeitraum hat es nirgendwo auch nur an einem einzigen Tag eine Gesellschaftsordnung gegeben, die die Bezeichnung »kommunistisch« verdient hätte. Dabei mangelte es wahrlich weder an Massenbewegungen und herausragenden Persönlichkeiten, die für kommunistische Ideale stritten, noch an Gruppierungen, Parteien und Vereinigungen, die das von der Bourgeoisie meistgehaßte Wort im Namen trugen. Was hat es nicht alles gegeben, seitdem sich 1847 die Mitglieder des von Wilhelm Weitling gegründeten Geheimbundes der Gerechten in den Bund der Kommunisten, für den Marx und Engels das Manifest entwarfen, umbenannten: Kommunistische Parteien in nahezu allen Ländern der Erde, die Kommunistische Internationale, das Kommunistische Informationsbüro und vieles mehr. Doch den Kommunismus selbst als »Zustand einer gesellschaftlichen Organisation, in welcher alle menschlichen Kräfte ... in Bewegung gesetzt werden, um jedem Individuum ... die möglichst volle Befriedigung seiner Bedürfnisse, ... den möglichst vollen Genuß seiner persönlichen Freiheit zu sichern« (Weitling), hat es bisher nicht gegeben. Er ist die Vision einer besseren, einer gerechten Zukunft ohne Ausbeutung und Krieg geblieben. Selbst die Wege zu ihr liegen noch immer im Nebel. Den Kommunismus reduzieren seine erbitterten Gegner und auch einige Nachfolger seiner früheren Verfechter auf die despotische Herrschaft Stalins und neuerdings sogar auf das Massenmörderregime der Roten Khmer. Wer jedoch versucht, die schrecklichen Stalinschen Repressionen der 1930er Jahre und die Drangsalierung und Ermordung vieler aufrechter Kommunisten als Wesensinhalt des Kommunismus darzustellen, der kann, um nur ein Beispiel zu nennen, auch das Wüten der Thermidorianer, die Robespierre, Saint Just und ihre zahllosen Anhänger umbrachten, als Wesenszug der Großen Französischen Revolution und ihrer Losung »liberté, égalité, fraternité« hinstellen. Wer gar behauptet, daß das Pol-Pot-Regime etwas mit der Vision des Kommunismus gemein hat, der kann ebenso annehmen, daß die Folterstätten der römisch-katholischen Inquisition im Mittelalter mit ihren Scheiterhaufen, Kettengeiseln und Schädelschrauben ein Vorgriff auf die von der Kirche prophezeiten Freuden im Jenseits gewesen seien. Im Unterschied zum kommunistischen Zukunftstraum ist der Kapitalismus seit Jahrhunderten gesellschaftliche Realität, in der die Macht und der Reichtum einer Minderheit auf dem privaten Eigentum an Produktionsmitteln, auf der brutalen Ausbeutung von Milliarden Menschen auf allen Kontinenten beruht. Immer aufs Neue haben Kapitalismus und Imperialismus die von Marx im »Kapital« und danach millionenfach zitierte wohl bekannte Einschätzung des englischen Ökonomen und Gewerkschafters P. J. Dunning bestätigt: »Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder vor sehr kleinem Profit wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert ...« Welch Grauen und Schrecken hat allein der real existierende deutsche Kapitalismus im zurückliegenden Jahrhundert über Europa und die Welt gebracht. In seinem Streben nach Neuaufteilung der Welt und Vorherrschaft zog er eine Blutspur von Verdun und Sedan bis nach Lenin- und Stalingrad, vom Ersten in den Zweiten Weltkrieg mit mehr als 70 Millionen Toten. Das Industrie- und Finanzkapital war es, das die Hitlerfaschisten in den Sattel hob und ihre Greueltaten ermöglichte, darunter das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte, den Holocaust, die fabrikmäßige Ermordung von über sechs Millionen jüdischer Menschen. Auch außerhalb Europas ging deutsches Kapital über Leichenberge, um Macht und Einfluß, Ressourcen und Profit zu erringen. Wie die Hunnen fielen seine Krieger 1900 in China ein, und vier Jahre später verübten die gleichen Kolonialgeneräle in Südwestafrika am Volk der Hereros einen Massenmord, den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts. Die anderen kapitalistischen Mächte führten ihre eigenen grausamen Kolonialkriege – die Franzosen in Indochina und Algerien, die USA auf Kuba und den Philippinen, die Belgier im Kongo. Wer hat die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen? Wer hat Vietnam in die Steinzeit bombardieren wollen, vergiftet und entlaubt? Wer hat den Irak ins Chaos gebombt, wer Jugoslawien heimtückisch überfallen, wer führt Krieg in Afghanistan? Ein kommunistisches Phantom oder kapitalistische Gewalttäter? Aber die Deutschen werden aufgefordert, den Kapitalismus zu achten und zu schützen. Für wie töricht werden obendrein Linke gehalten, wenn selbst bekennende Sozialisten schon allein vor dem Gebrauch des Wortes »Kommunismus« warnen? Soll das Kommunistische in Demokratisch-Sozialistisches Manifest umbenannt werden? Thomas Mann hat den »Schrecken der bürgerlichen Welt vor dem Wort Kommunismus, von dem der Faschismus so lange gelebt hat, ... die Grundtorheit unserer Epoche« genannt. Sein Bruder Heinrich sah weiter und im Antikommunismus nicht nur eine Torheit, sondern nichts anderes als »die billige Ausrede, um jede Verbesserung der menschlichen Lage in Verruf zu bringen«, »ein Mittel zu dem Zweck, die Demokratien zu unterwühlen und die in Bildung Begriffenen niederzuhalten«. Wie wunderbar, wie freiheitlich-demokratisch ist doch unser Staatswesen, wenn allein schon die Suche nach »Wegen zum Kommunismus« eine unverzeihliche Freveltat ist.
Erschienen in Ossietzky 4/2011 |
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