Impressum Plattform SoPos |
Schockschwerenot! Der von Ihnen benutzte Internetbrowser stellt Cascading Style Sheets nicht oder - wie Netscape 4 - falsch dar. Unsere Seiten werden somit weder in dem von uns beabsichtigten Layout dargestellt, noch werden Sie diese zufriedenstellend lesen oder navigieren können. Wir empfehlen Ihnen nicht nur für unsere Internet-Seiten, auf einen anderen Browser umzusteigen - z.B. Netscape 6/Mozilla, Opera, konqueror. Was ist ein »Unrechtsstaat«?Karl A. Otto Im Gegensatz der politischen Bedeutung, die der Begriff »Unrechtssaat« in der Diskussion um die Bewertung der DDR gewonnen hat, ist sein wissenschaftlicher Gebrauchswert noch immer minimal. Als die Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags wissen wollte, wie denn das Schlagwort eigentlich definiert sei, antwortete dieser in einem Gutachten: »Eine wissenschaftlich haltbare Definition des Begriffs ›Unrechtsstaat‹ gibt es weder in der Rechtswissenschaft noch in den Sozial- und Geisteswissenschaften.« Auf eine parlamentarische Anfrage, welche Staaten aus der Sicht der Bundesregierung »Unrechtsstaaten« seien, erhielt die Abgeordnete die Antwort: »Den Begriff ›Unrechtsstaat‹ gibt es im Völkerrecht nicht.« Gleichwohl wird quasi regierungsamtlich konstatiert, daß die DDR ein Unrechtsstaat war, werden in der Rechtsprechung deutscher Gerichte DDR und »Drittes Reich« unterschiedslos als Unrechtsstaaten bezeichnet und konnte Welt online gelegentlich vermelden: »Kanzlerin Merkel rechnet mit DDR als ›Unrechtsstaat‹ ab«. Über das Motiv dieses Verdikts gibt das zitierte Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes in bemerkenswerter Offenheit Auskunft. Demnach geht es bei der Verwendung des Begriffs »zumeist darum, die politische Ordnung eines Staates, der als Unrechtsstaat gebrandmarkt wird, von einem rechtsstaatlich strukturierten System abzugrenzen und moralisch zu diskreditieren«. Nun ist »Rechtsstaat« – anders als »Unrechtsstaat« – eine politikwissenschaftliche Kategorie mit eindeutig konsensfähig definierten Merkmalen. Als wichtige Elemente von Rechtsstaatlichkeit gelten neben Gewaltenteilung und Bindung der Verwaltung und Rechtsprechung an die Gesetze die Gewährung individueller Freiheitsrechte, Gleichheit vor dem Gesetz, Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt, das Verbot rückwirkender Strafe, Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit des staatlichen Handelns und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit staatlicher Zwangsmittel. Gemessen an diesen Kriterien fehlten der DDR nicht alle, aber doch wesentliche Merkmale des Rechtsstaates wie Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Gerichte. Da sie zudem ihr politisches System selber als institutionalisierte »Diktatur des Proletariats« beschrieb, ist die Feststellung wohl hinreichend begründet, daß die DDR eine Diktatur-Variante mit erheblichen rechtsstaatlichen Defiziten war. Aber war sie damit auch »Unrechtsstaat«? Der Rechtsstaat im definierten Sinne ist eine Errungenschaft der bürgerlichen, genauer: der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft. Vorgängige Gesellschaftsformationen, seien es Stammesgesellschaften, demokratische Stadtstaaten der Antike oder feudalstaatliche Monarchien, kannten diese Rechtsstaatlichkeit nicht. Gemäß dem gängigen Verständnis von »Unrechtsstaat« als Abgrenzungsbegriff zum Rechtsstaat müßte es sich folglich bei all diesen Staatsformen um Unrechtssaaten gehandelt haben. Eine solche pauschale Behauptung durchzuhalten wäre aber selbst dann schwierig, wenn sie sich fallweise mit Beispielen krassen Unrechts belegen ließe. Ein Gespräch, das der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein 1966 mit dem Philosophen Karl Jaspers zu der Frage führte, ob das NS-Regime ein Verbrecherstaat war, kann das verdeutlichen. Augstein: »Napoleon hatte bei der Eroberung von Jaffa 2000 Gefangene gemacht, das heißt, sie hatten sich ihm ergeben, weil er ihnen freien Abzug versprochen hatte. Er hat ihnen dann aber keinen freien Abzug gegeben, er hat sie auch nicht erschießen lassen, sondern hat sie, um Pulver und Blei zu sparen, mit Bajonetten niedermachen lassen. Und diese Leute hatten zum großen Teil ihre Familien bei sich. Auch diese Familien, Frauen und Kinder, wurden mit Bajonetten niedergemacht.« Jaspers: »Die Napoleon-Geschichte entspricht vielen anderen der Vergangenheit. Hier wird von einem damals von Napoleon repräsentierten Staatswesen ein Verbrechen begangen. Aber das Staatswesen ist als Ganzes kein verbrecherisches Staatswesen. Der entscheidende Punkt ist, ob man anerkennt, der Nazistaat war ein Verbrecherstaat, nicht ein Staat, der auch Verbrechen begeht. Ein Verbrecherstaat ist ein solcher, der im Prinzip keine Rechtsordnung stiftet und anerkennt.« (Jaspers: »Wohin treibt die Bundesrepublik?«, München 1966) Jaspers konkretisierte, daß mit »Rechtsordnung« Recht gemeint ist, das Gerechtigkeit intendiert. Folgt man Jaspers’ Argumentation, dann ist festzuhalten, daß der alleinige Verweis auf staatliche Unrechtstaten, wie er in der aktuellen DDR-Aufarbeitung üblich ist, wenig zur Klärung der Frage beiträgt, was ein Unrechtsstaat ist und ob die DDR einer war. Wäre es anders, würde also die Auflistung von Gewalttaten an der Grenze, Rechtsbeugung, Wahlfälschung, Stasi-Straftaten, Amtsmißbrauch et cetera reichen, dann könnten ja auch die geheimen Gefängnisse und Folterzentren, das geheimdienstliche Töten im Regierungsauftrag, die Mißachtung von Menschenrechten und die Vielzahl völkerrechtswidriger Kriege der USA als Beweis dafür gelten, daß die USA ein Unrechtsstaat sind. Es hilft auch nicht weiter, sich mit quantitativen Vergleichen zu behelfen. Es bliebe dann immer noch die kaum zu beantwortende Frage: Ab wie viel Rechtsbrüchen wäre ein Staat ein Unrechtsstaat? Offensichtlich muß dem Begriff, wenn er nicht als reiner Kampfbegriff zu denunziatorischen Zwecken gebraucht werden soll, zumindest ein weiteres wesentliches Merkmal hinzugefügt werden. Jaspers zufolge ist es das Fehlen eines für die Staatsbildung konstitutiven politischen Willens, eine »Rechtsordnung zu stiften und anzuerkennen, die – das ist wichtig – eine Idee von Gerechtigkeit (vielleicht sollte man heute sagen: die Menschenrechte) impliziert. Wie spannungsreich und widerspruchsvoll dabei das Verhältnis von Anspruch (Recht und Gerechtigkeit) und Wirklichkeit innerhalb von Staaten sein kann, zeigt exemplarisch das Beispiel der ersten französischen Republik, wie sie aus der Revolution von 1889/93 hervorgegangen ist. Diese Republik wandelte sich zu einem Terrorregime, dem 16.000 Menschen unter dem Fallbeil oder durch staatlich tolerierte Massaker zum Opfer gefallen sind. Zugleich verdanken wir dieser Republik die Etablierung eines Staatswesens, das auf der Grundlage der »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« zum Grundmuster aller nachfolgenden rechtsstaatlichen Demokratien geworden ist. So gesehen wäre die DDR ein Unrechtsstaat gewesen, wenn ihr neben Unrechtshandlungen, die sie begangen hat, auch der Wille zur Schaffung einer gerechten Staats- und Rechtsordnung abzusprechen wäre. Ein kritischer Blick auf ihre Geschichte, ihre Gründungsdokumente, Verfassungen et cetera zeigt aber, daß sie in der Tradition der revolutionären Arbeiterbewegung durchaus eine Idee von gerechter Gesellschaftsordnung verwirklichen wollte, die dem Anspruch nach auch den Menschenrechten verpflichtet war. Daß die Wirklichkeit der DDR dem oft kraß widersprach, zeugt sicher nicht von Unwilligkeit, wohl aber (oft bedingt durch die Zwangslagen des Kalten Krieges) von Unfähigkeit, ihre Gerechtigkeitsideale zu verwirklichen. So sehr die politischen Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechte in der DDR auch beschnitten waren, in der Realisierung der sozialen Menschenrechte (Recht auf Arbeit, Bildung und so weiter) war sie der Bundesrepublik sogar teilweise voraus. Daniela Dahn spricht im Hinblick auf Frauenemanzipation und Kinderrechte sogar von »Freiheitsvorsprüngen« in der DDR, womit sie unter anderem meint: »Obwohl die Benachteiligung [unehelicher Kinder] dem Grundgesetz widersprach, konnte die volle Gleichberechtigung erst 33 Jahre später als in der DDR, nämlich mit der Reform des Kindschaftsrechts von 1998, durchgesetzt werden.« Im Unterschied zu den im Familiengesetzbuch der DDR 1965 kodifizierten Freiräumen für Frauen bestimmte in der Bundesrepublik bis 1976 »der Ehemann den Wohnsitz, ihm war auch das gesamte vorhandene Vermögen unterworfen. Dafür war die Ehefrau nach § 1356 verpflichtet, den Haushalt zu führen. Tat sie dies nicht gut genug, galt dies als Scheidungsgrund. Eine eigene Berufstätigkeit kam nur in Betracht, wenn sie mit den häuslichen Pflichten vereinbar war. Der Mann durfte die Arbeit der Ehefrau sogar kündigen! Die Schlüsselgewalt, also die Befugnis der Ehefrau, häusliche Geschäfte ohne Genehmigung des Mannes vorzunehmen, wurde erst 1977 auf die Frauen übertragen. Im DDR-Recht galt es hingegen als Verfehlung, wenn der Mann die Frau in ihrer beruflichen Laufbahn gehindert hat.« (Daniela Dahn: »Wehe dem Sieger«, Reinbek 2009) Insofern ist wohl auch Dahns Schlußfolgerung zutreffend: »Der Realsozialismus hätte sich allein durch Repression nicht siebzig oder auch nur vierzig Jahre halten können, wenn nicht wenigstens einige klassische antikapitalistische Gerechtigkeitsziele der Arbeiterbewegung tatsächlich in Angriff genommen worden wären.« Für einen historischen Freispruch der DDR reicht das gewiß nicht aus. Die DDR war eine Diktatur. Ein Rechtsstaat war sie nur ansatzweise. Aber ein Unrechtsstaat war sie nicht.
Erschienen in Ossietzky 4/2011 |
This page is hosted by SoPos.org website
<http://www.sopos.org> Contents copyright © 2000-2004; all rights reserved. Impressum: Ossietzky Maintained by webmaster@sopos.org |