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Lernende und Lehrende loteten ungewohnt kontrovers, aber immer konstruktiv demokratische Mitverantwortung aus und erprobten sie umgehend. So entstand auch in harten Auseinandersetzungen eine schöpferische Atmosphäre. Karl Marx’ Imperativ an der Stirnwand des Foyers der Humboldt-Universität Unter den Linden wurde zur Devise des studentischen Aufbruchs: Sie wollten nicht nur neu interpretieren, sondern verändern! Und alle erlebten auf sehr persönliche Weise, wie erfreulich veränderbar sich auch jahrzehntealte patriarchalische Parteistrukturen erwiesen. Für die HU gilt als Datum des studentischen Aufbruchs der 17. Oktober 1989. Etwa 5000 StudentInnen im überfüllten Audimax und im Uni-Gelände forderten aktive Beteiligung in den Entscheidungsgremien und präsentierten dem Rektor einen Problemkatalog: Anwesenheitslisten bei Pflichtvorlesungen sollten sofort abgeschafft werden, ebenso Pflichtvorlesungen in Russisch und Marxismus/Leninismus, der obligatorische Sportunterricht und vor allem die militärische Ausbildung im Studium sollten entfallen. Das hieß für die Oberen, heilige Kühe schlachten. In einer Urabstimmung wurde die Konzeption einer unabhängigen Studentenvertretung akzeptiert. Aus spontaner Einmischung wurde binnen Wochen verantwortungsvolle Mitbestimmung. Bei fortlaufendem Vorlesungsbetrieb diskutierten die gewählten HU-Studentenvertreter die Paradigmen eines neuen demokratischen Statuts einer Gremienuniversität, in der erstmals Studenten auf allen Entscheidungsebenen gleichberechtigt beteiligt werden sollten. Das war auch Hauptthema am Runden Tisch. In Tag-und-Nacht-Marathonsitzungen wurde diskutiert, formuliert, kritisiert, juristisch abgewogen und abgesichert. Der Entwurf wurde alsbald auch öffentlich bekannt, und Studenten der Sorbonne in Paris, der Freien Universität und der Technischen Universität in Westberlin bekundeten ihre Sympathie. Am 3. April 1990 wurde ich zum neuen Rektor der HU gewählt. Am Runden Tisch hatte ich schon ein ausführliches Praktikum gemacht zu dem gemeinsamen Ziel: Erneuerung unserer Universität aus »eigener Kraft und mit den vorhandenen Menschen«. In den nächsten Monaten erntete unser Statut bissige Kritik bei den Verantwortlichen des Westberliner Senats. Für mich war die ironische – oder fatalistische? – Reaktion der Senatorin für Wissenschaft und Forschung, Barbara Riedmüller, ein desillusionierender Schock. Die ehemals leidenschaftlich engagierte 68erin erklärte mir: »Sie werden sich doch nicht einbilden, daß sich ausgerechnet an der Humboldt-Universität eine radikale Demokratisierung durchsetzt, was wir damals als 68er in einem demokratischen Deutschland nicht geschafft haben …« Und bei einer anderen Gelegenheit sagte mir Gesine Schwan, Professorin für Politikwissenschaften an der FU, wohlwollend tröstend, daß dieses neue Hochschulstatut vor dem bundesdeutschen Verfassungsgericht sowieso keinen Bestand habe. Mir sei doch klar, daß mit der bevorstehenden Einheit Deutschland selbstverständlich im Osten das westdeutsche Hochschulrahmengesetz in Kraft trete. Der Jubel der Einheitsfeier vom 3. Oktober 1990 lag noch in der Luft, als wir die Immatrikulationsfeier bewußt auf den 17. Oktober legten, damit am Jahrestag des Studentenprotestes an der Humboldt-Uni noch einmal den längst enttäuschten Hoffnungen zumindest eine öffentliche Abschiedsvorstellung gewährt würde. Wir konnten für diesen Festakt die Deutsche Staatsoper Unter den Linden nutzen. Mit dem besiegelten Beitritt war unser leidenschaftlich erkämpftes Statut am 3. Oktober Makulatur geworden. Sorgfältig arrangierten wir den »Schlußakkord« in der Grenzsituation »nicht mehr und noch nicht«. Die Neu-Immatrikulierten hörten viel über die selbstverantwortliche Studentenschaft an dieser Universität der gleichberechtigten Gremien. Ob die Abiturienten verstehen konnten, was die Sprecherin des Studentenrates, die Theologiestudentin Carola Ritter, anmahnte: »Habt Acht auf die Wissenschaft, daß sie nicht mehr die Magd der Macht ist, sie darf auch nicht die Magd des reinen Marktes werden. Laßt Euch nicht mit wissenschaftlichem Fastfood abspeisen, sondern nehmt Einfluß auf Inhalte und Methoden.« Der Rektor der Universität Warschau sprach ein Grußwort, und der Dekan der juristischen Fakultät der Universität Athen sagte: »Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, daß Wirtschaft allein nie Fortschritt bringt. Wirtschaft kann Fortschritt bringen, wenn sie mit Kultur, Zivilisation und Wissenschaft vereint wird.« Auf Wunsch der Studenten sprachen von der Bürgerbewegung »Demokratie jetzt« die beiden Bundestagsabgeordneten Wolfgang Ullman und Konrad Weiß. Ullmann sagte zu den Studenten: »Wir sind in einer neuen Situation, von der einer, der an dieser Universität auch einmal gelehrt hat – Dietrich Bonhoeffer – sagen würde: Wir sind zurückgeworfen auf die Anfänge der Universität Berlin, jener Stiftung Humboldts, vollzogen in Gemeinschaft mit Fichte, Schleiermacher und Hegel ... Karl Barth hat gemeint, diese Tradition der öffentlich wirksamen und öffentlich verantworteten Wissenschaft sei 1914 beendet worden. Es ist heute nicht Zeit zu kritisch-historischen Reflektionen, sondern es ist Zeit, sich darüber zu freuen, daß die Universität eine Institution ist, die sich erneuern könnte. Das verdankt sie ihrem Kontakt mit der Jugend.« Am Schluß sprach der greise Genforscher Erwin Chargaff aus New York »über Wandlungen des Begriffs Universität«. Als Jude hatte er 1933 die Universität fluchtartig verlassen müssen. Er sagte, wie Thomas Mann sei er überzeugt, daß der Antikommunismus die Grundtorheit des 20. Jahrhunderts sei. »In meinem Land, den USA, wird zur Zeit das Ende des Kommunismus gefeiert, mit Affentänzen und Feuerwerk und unendlichem Geschrei … Gleichzeitig wird das Ende des Marxismus verkündet und sogar das Ende der Weltgeschichte … Wie dumm mir das alles erscheint! Sind wirklich alle Hoffnungen der Menschheit zu Ende gegangen außer der einen, nämlich viel Geld zu verdienen? In Wirklichkeit ist meiner Meinung nach nichts zu Ende … Wenn die Blüte welkt, ist der Baum noch lange nicht tot … Ideale sollten wenigstens unverkäuflich sein … So schließe ich mit der Aufforderung, die das Motto meiner Jugend gewesen ist: Laßt Euch nicht verblöden!« Ob Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der auch Gast der Veranstaltung war, etwa an Chargaff anknüpfte, als er einer Reporterin sagte: »Wer heute zugehört hat bei den Wünschen, Ansprachen und Mahnungen, die dazu geäußert worden sind, der geht mit Zuversicht aus dem Hause.« Der Jurist Karl Schwarz, den uns damals die Technische Universität Berlin als Kanzler geborgt hat, sagte 20 Jahre später in einem Vortrag: «Die Eliten der DDR haben versucht, sich im Strom der bedingungslosen Kapitulation ihres Systems möglichst unsichtbar zu machen. Die Eliten der Bundesrepublik fühlten sich als Sieger, und am Maßstab des Systemkampfes waren sie es ja auch. Daß die Geschichte weitergeht und einige Grundprobleme der Gesellschaftsordnung nach wie vor nicht gelöst sind, hat jedenfalls als Ahnung gegenwärtig Konjunktur. Vielleicht führt die aktuelle Krise noch dazu, daß in unserem heutigen gemeinsamen Deutschland die Art und Weise der Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik nochmals überdacht wird. Die Erinnerung an den Prozeß der Überführung der Humboldt-Universität in das unveränderte bundesrepublikanische Hochschulsystem gehört dazu.« Heinrich Finks Erinnerungen an die Humboldt-Universität in der Wendezeit begannen mit »Wer denkt noch an die Studenten?« (Ossietzky 2/11) und »Die Abwicklung des Rudolf Bahro« (Ossietzky 3/11).
Erschienen in Ossietzky 4/2011 |
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