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Ich denke in zwei Hauptmerkmalen: ihrer radikalen Marktorientierung und ihrer restlosen Verleugnung der Wirklichkeit. So scheint es nur noch eine einzige Richtlinie für alle Handlungen zu geben: die Ausrichtung an der Rendite. Und damit ist vorbestimmt, was als Realität in Erscheinung tritt. Wie sonst verfällt ein 23jähriges Mädchen auf den Gedanken, sich freiwillig unters Messer zu begeben, um sich zu einer Sexpuppe zurechtschneiden zu lassen? Der Tod Lollo Ferraris vor elf Jahren, ebenfalls im Gefolge einer Brust-OP, hätte sie warnen können. Ferrari war damals in die Mühle der Körper-Vermarktungsindustrie geraten. Zuvor eine leidlich attraktive junge Frau war sie anschließend ein Sex-Monster. Denn der Umbau ihres Bodys war radikal. Alles an ihr wurde marktgängig korrigiert: Nase, Lippen, Stirn und natürlich die Brüste. Diese wogen zuletzt angeblich 12 Kilo und verfügten über 130 Zentimeter Umfang. Von Natur aus eher zierlich, hatte Ferrari Mühe, diese Massen zu tragen. Von Rückenschmerzen geplagt, Schmerzmittel und Antidepressiva schluckend, gelang es ihr kaum, sich für längere Zeit aufrecht zu halten. Sie fürchtete, beim Schlafen unter der Last ihrer Brüste zu ersticken, und starb schließlich mit 38 Jahren auf ungeklärte Weise. Derart krasse Fälle gibt es viele, besonders im Body-Building. Auch dort wird der Körper als Ware betrachtet, die gnadenlos so lange zugerichtet wird, bis sich der Markterfolg einstellt. Erinnert sei an das Brüderpaar Mike und Ray Mentzer. Mit Ende vierzig starben die beiden Muskelberge im Abstand von 38 Stunden, weil sie sich mit Anabolika und einer Unzahl von Medikamenten regelrecht vollgepumpt hatten. Taten Menschen früher alles für die Nation oder den Führer – heute tun sie es für den Markt. Gegebenenfalls opfern sie auch ihr Leben. Und nichts ist zu absurd, zu kindisch oder zu eklig. Gewiß würden Menschen auch Morde begehen, sofern es medial inszeniert werden dürfte. Der narzißtische Hintergrund ist in allen Fällen ähnlich: Selbsterhöhung durch Teilnahme an der großen Idee – heute freilich lediglich der Idee der ganz großen Show im Sinne glanzvoller Verkäuflichkeit. Denn wo die Märkte das Regiment übernommen haben, verabschiedet sich die Wirklichkeit. Die Gesamtblickrichtung verändert sich. Nicht was nach überprüfbaren Kriterien als wahr und vorhanden angenommen werden kann, sondern was sich verkaufsträchtig darstellen läßt, ist nun Realitätskennzeichen. Der Körper mag zwar nach aller Erfahrung nur begrenzt zur Muskelmaschine oder zum Busenwunder taugen, irgendwann wird er dennoch zum »Body«. Dann ist er identisch mit seinem Marktwert. So bleibt nur der Tod als allerletztes Realitätssignal. Einst gab es Zeiten, in denen solche Botschaften verstanden wurden. Aber auf den Bildschirmen erscheinen keine Totentänze. Selbstverständlich ist hier auch der Tod selbst ein Geschäft. Daß Marktorientierung und Wirklichkeitsverleugnung auch politische Größen sind, zeigt uns Italien. Berlusconis Imperium ist ganz nach dieser Devise aufgebaut: Was sich verkauft, das ist real, wo die Kasse klingelt, da ist Wahrheit. Show und Demokratie, Verblendung und Politik sind dort ein und dasselbe. Im italienischen Fernsehen trat im Januar Rocco Siffredi auf. Siffredi ist Pornograph und ein Star in seiner Branche. Seine Filme frauenfeindlich zu nennen, wäre beschönigend. Es ist Porno der besonders sadistischen Sorte. Er verteidigte Berlusconi mit den folgenden Worten: »Die Wahrheit ist, daß Italiener stolz auf jemanden wie Berlusconi sind, der 74 Jahre alt ist, Sex liebt und ein gutes Liebesleben hat.« Und tatsächlich zeigen Umfragen, daß sich das Wahlverhalten der Italiener trotz aller Skandale kaum ändert. Auch bei Neuwahlen würde Berlusconi wahrscheinlich siegen. Nun soll ein Pornofilm herauskommen: »Bunga-Bunga Presidente«. Bunga-Bunga – so die Internetauskunft – sind sadistische Sexualpraktiken. Dies alles sind eigentlich keine Fragen der Moral, wie der Papst meint, der sich einschaltete. Ich frage nach der Realität. Wo die Finanzmärkte mit ihren fiktiven Werten den Rahmen für eine Massenfiktion schaffen, da verliert tendenziell fast jeder den Boden unter den Füßen. Um was, zum Teufel, geht es eigentlich im Leben? Und in der Politik? Geht es um die Selbstvermarktung für gutes Geld? Geht es um Prostitution aus Prinzip? Und wenn jeder sich prostituiert, ist das dann wahre Demokratie? Die Welt als ein riesiges Dschungelcamp, in dem wir uns zu Tode amüsieren, gerechtfertigt durch die große Dividende, die stabil bei über 20 Prozent liegt? Vielleicht ist dieses Datum das einzige, was noch Halt verspricht, der letzte Kontakt zur Wirklichkeit.
Erschienen in Ossietzky 3/2011 |
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