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Heute ist Fink Präsident der Vereinigungen der Verfolgten des Nazi-Regimes/Bund der Antifaschisten. Wir haben ihn gebeten, »Wende«-Erfahrungen aufzuschreiben. Red. Das öffentliche Gedächtnis weist große Lücken auf. Wer erinnerte zum Beispiel bei den offiziellen Feierlichkeiten zum 200jährigen Bestehen der Berliner Humboldt-Universität an die HU-Studenten, die sich in der Wende sachkundig, voller Elan und mit unermüdlicher Phantasie für die demokratische Erneuerung ihrer Universität »aus eigener Kraft und mit den vorhandenen Menschen« (wie ich damals unsere gemeinsame Aufgabe benannte) eingesetzt haben? 1992 wurde – so habe ich es erlebt – nach gezielter Täuschung durch Vertreter des Berliner Senats und aufgrund bröckelnder Solidarität, vor allem im Lehrkörper, auch dem studentischen Aufbruch der Lebensfaden »abgewickelt«. Ihr basisdemokratisches Bemühen scheiterte an der politisch längst vorbedachten und vorbereiteten Übernahme in die westdeutsche konservative Struktur der Professoren-Universität. Zumal auch der letzte Wissenschaftsminister der DDR, Hans-Joachim Meyer (CDU), »ultimativ« überzeugt war, daß man selbstverständlich ein ausgereiftes, erprobtes gesellschaftliches System wie das der Bundesrepublik übernehmen müsse. »Wenn Sie das anders sehen, läßt sich das nur aus Sympathie mit dem System, das gerade gescheitert ist, erklären« (Meyer). Folgendes möge zur Auffrischung des Gedächtnisses dienen. Vom November 1989 bis 3. Oktober 1990 saßen Studenten, Mitarbeiter und Professoren am Runden Tisch und bereiteten für den Neuanfang der Humboldt-Universität gemeinsam mit dem akademischen Senat ein neues Statut vor. In der vorgeschlagenen Präambel heißt: »Von dem Wunsch erfüllt, die Freiheit von Lehre, Forschung und Studium als unveräußerliches Grundrecht zu sichern, die Zusammenarbeit und Solidargemeinschaft aller Forschenden, Lehrenden und Studierenden zu ermöglichen und alle Angehörigen der Universität in sachdienlicher Weise in die Gestaltung der gemeinsamen Arbeit einzubeziehen, haben die frei gewählten Mitglieder des Konzils der HU zu Berlin ein Statut beschlossen: In ihm sind die Aufgaben der Universität, Rechte und Pflichten der Mitglieder und Angehörigen der Universität festgelegt.« Dieses Statut wurde dann vom Konzil mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit von 70 Hochschullehrern, 60 immatrikulierten Studenten, 50 akademischen Mitarbeitern und 20 technischen Mitarbeitern beschlossen. Mit der gewählten Zusammensetzung aller Gremien, auch in den Fachbereichen, begann die Veränderung an der Universität schon im letzten Jahr der Noch-DDR bis zum 2. Oktober 1990 ohne Einmischung von »außen« und »oben«. Anfang Dezember 1990 äußerte die damalige Wissenschaftssenatorin Barbara Riedmüller-Seel (SPD) in den Medien: Die Erneuerung gehe nicht zügig voran, weil die staatstragenden Fachbereiche Rechtswissenschaft, Erziehungswissenschaft, Geschichte, Philosophie und Wirtschaftswissenschaft nach wie vor von SED-belasteten Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeitern besetzt seien. Diese müßten »abgewickelt« werden! Wie ein Gespenst ging dieser Terminus durch die Universität. Was sollte Abwicklung bewirken? Margarita von Brentano, Philosophie-Professorin an der Freien Universität (FU) Berlin, nannte in einer öffentlichen Diskussion im Senatssaal der Humboldt-Universität diesen Begriff »verräterisch«: Mit dem Wort »Abwicklung« hätten die Nazis 1937 in ihrem neuen Aktiengesetz das Fremdwort »Liquidation« eingedeutscht. Diesem richtigen Hinweis ist hinzuzufügen, daß in der juristischen Praxis der Begriff »Abwicklung« zuerst beim »Arisieren« jüdischen Eigentums angewendet wurde. Gesetzliche Grundlage dafür war die »Verordnung zur Durchführung der Verordnung zur Ausschaltung von Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben« vom 23. November 1938. Große Unruhe verbreitete sich in der Universität. In einem Telefongespräch beruhigte mich die Senatorin und äußerte sogar gegenüber der Zeitung Neues Deutschland, es gebe keine Pläne für Abwicklung an der HU. Aber durch die Abgeordnete der Alternativen Liste, Hilde Schramm, erfuhren wir, daß es dazu schon eine Senatsvorlage gebe. Prompt rief der Studentenrat zum Protest gegen diese Pläne auf. Die Studenten beschlossen sofort einen Aktionstag, während die Senatorin nach wie vor von »Abwicklungsgerüchten« und »Spekulationen« sprach. Die Studenten beriefen eine Vollversammlung ein. Am 11.12.1990 freute sich die taz: »Studenten in der Ex-DDR sind aufgewacht!« Die studentische Vollversammlung nahm als Motto einen Liedtext der Band »Ton Steine Scherben«: »Das ist unser Haus« und stellte ein erstes vom Studentenrat erarbeitetes Konzept zur »Selbsterneuerung der Universität« vor. Die Senatorin ließ daraufhin durch die Presse mitteilen, die Aufregung der Studenten sei völlig grundlos. Das war allerdings ein übles Schattenspiel der Senatorin. Sie befand sich im Wahlkampf und kämpfte um ihre eigene Wiederwahl. Die Studenten beschlossen, durch eine Mahnwache vor der Universität den Betrug öffentlich zu machen. Die Aktivitäten der Studenten wurden nun auch von der Berliner Öffentlichkeit zunehmend wahrgenommen. Sie besetzten zum Beispiel mit Spruchbändern eine Viertelstunde lang die Kreuzung Friedrichstraße/Unter den Linden, was erfreulich friedlich verlief. 8.000 bis 10.000 Studenten zogen vor das Schöneberger Rathaus und übergaben dort eine Petition an die Abgeordnetenversammlung. Dort erfuhren sie vom aktuellen Senatsbeschluß, daß fünf Fachbereiche der Humboldt-Universität umgehend »abgewickelt« werden sollen. Viele Berliner Bürger unterstützten die Studenten mit viel Sympathie und sogar mit materieller und finanzieller Zuwendung. Am 20.12. belagerten Hunderte Studenten die Marienkirche, in der die gerade gewählten Bundestagsabgeordneten sich vor ihrer ersten Sitzung Gottes Segen holen wollten. Dort kam es erstmalig zu heftigen Auseinandersetzungen, denn nur wenige Politiker hatten ein Ohr für das Anliegen der Demonstrierenden. Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) beschwerte sich in einem Brief an Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) über die miserablen Sicherheitsbedingungen. Ihn habe nur ein Busfahrer vor dem »Mob« gerettet. Am Abend fand in der HU ein Solidaritätskonzert mit populären Künstlern wie Gerhard Schöne, Hans-Eckardt Wenzel und Steffen Mensching statt, zu dem die Studentenaktivisten gegen die Abwicklung einluden. Am 21.12. war in der taz zu lesen: »Der Rektor war früh ins Rathaus bestellt worden, um die Senatsentscheidung entgegenzunehmen. Aber erst nach 13 Uhr erfuhr er diese Entscheidung auf einer Pressekonferenz. Nach der nun schon üblichen Demagogie verläßt er unter Protest die Versammlung. Der Rektor gab bekannt, gegen die Abwicklung eine Verwaltungsklage einzureichen.« Der 24.12.1990 war für mich ein ungewöhnlicher Heiligabend. Eine große Menge von Studenten und auch Kollegen aus dem Lehrkörper versammelten sich im Foyer zu einer Weihnachtsfeier, in der unerwartet der Chor der Friedenskirche von Niederschönhausen auftrat und Teile des Weihnachtsoratoriums von Bach sang. Am 27.12. bekamen wir dann den offiziellen Beschluß des Senats bezüglich der Abwicklung an der HU zugestellt. Am 28.12. berief auf meine Bitte der akademische Senat eine Vollversammlung ein, an der mehr als 2.000 Universitätsangehörige teilnahmen. Auf ihr wurde der Vorschlag des Studentenrates, zu einem Warnstreik gegen die drohende Abwicklung ganzer Fakultäten aufzurufen, nahezu einstimmig angenommen. Außerdem legte der Studentenrat allen Angehörigen der Universität nahe, die neu angebotenen befristeten Arbeitsverträge nicht zu unterschreiben. Der Präsident der Technischen Universität (TU) gab mir wertvolle Rückenstärkung, indem er den Juristen Karl Schwarz freistellte, um mir zu helfen. Ich setzte ihn als kommissarischen Kanzler ein. In kluger Vorarbeit konnte er noch am 31.12. bis 12 Uhr eine Klage gegen die Abwicklung fertigstellen und bei Gericht abgeben, die vorerst eine aufschiebende Wirkung der Abwicklung bewirkte. Auch Silvester feierten wir mit vielen Studenten und Professoren gemeinsam in der Universität, wo an der Wand geschrieben steht: »Die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern …« Die Studenten variierten den Marx’schen Text: »Wessis und Ossis haben die Welt verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie demokratisch zu verändern.« Am 1. Januar 1991 starteten viele Studenten zu einem Protestmarsch nach Leipzig. Vor der Universität wurden sie von Professoren wie Kurt Pätzold, Moritz Mebel, Dieter Klein, Frank Hörnigk, Rita Schober, Waltraud Falk und auch von Rudolf Bahro mit guten Wünschen auf den Protestweg geschickt. Ich begleitete sie. An den Abenden wurden wir als politische Pilger von namhaften ostdeutschen Künstlerinnen und Künstlern mit Worten und Musik ermutigt, zum Beispiel von Gisela Kraft, Stefan Körbel, Barbara Thalheim und Käthe Reichel. Unterwegs hörten wir, daß sich auch Studenten anderer Universitäten unserem Protest anschlossen. In Erfurt hatten Studenten den Landtag für Stunden besetzt. Der Rundfunk berichtete von Mahnwachen in Halle und Greifswald. Auf dem Weg nach Leipzig strömte den Studenten viel Sympathie entgegen. In Dörfern und Städten bekamen wir Blumen und wurden mit Verpflegung versorgt. In Leipzig empfingen uns Studenten, Universitätsangehörige und viel Volks. Die Universitätsleitung dagegen schwieg sich aus. Unangemeldet ging ich in das Büro des amtierenden Rektor-Kollegen. Die Sekretärin empfing mich distanziert und der Rektor begrüßte mich ebenso unmißverständlich kühl. Aber auf dem Universitätshof nahmen rund 1.000 Leipziger Studenten den Protest auf und richteten ihn gegen die auch dort drohende »Abwicklung«; sie forderten die sächsische Landesregierung auf, ihre Entscheidung erneut zu diskutieren. Diese Studentenaktion war der erste demokratische Protest gegen eigentlich verbindliche Regierungsentscheidungen. Wer hat das bei den Feiern anläßlich des 20. Jahrestages der Vereinigung Deutschlands auch nur erwähnt?
Erschienen in Ossietzky 2/2011 |
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