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Wer mehr einer wissenschaftlichen Weltanschauung zuneigt, weiß, daß Polarwinde über Eis nicht so viel Feuchtigkeit aufnehmen konnten wie über dem relativ wärmeren Meer. Der dort aufgestiegene Dunst wird dann von den Nordwinden zu uns transportiert und fällt als Schnee nieder. Eigentlich ganz logisch. Wer also weiße Weihnachten will, muß weiter für das Abschmelzen der Polkappen durch Erderwärmung sorgen. Wie man das macht, ist ja bekannt. Wenn euch das aber zuviel wird, weil es zu Schneechaos und Todesfällen führt, sagt bitte nicht schon wieder: »Wie konnte Gott das zulassen?« Da muß man ihn auch mal vor seinen Gläubigen in Schutz nehmen. Klaus Mücke Das Würstchen-GeheimnisFalls man für das kommende Jahr an gutem Geld interessiert sei, solle man am Neujahrstag Würstchen mit Sauerkohl essen, wußte die Mutter meiner Frau, die sich in solchen Sachen auskannte. Selbstverständlich trat die verheißene Wirkung bei ihr selbst nie ein, dennoch hielt sie mit Ernst und Sorgfalt an dem Brauch fest und begründete das damit, daß er schließlich aus der Kurischen Nehrung stamme, wo sie geboren sei. Wieso heiße Würstchen, gegessen am Neujahrstag, gutes Geld bringen sollen, habe ich nie erfahren, aber die Oma bestand darauf, und so aßen wir auch am 1.1.2011, obwohl die Oma schon lange nicht mehr unter uns ist, wieder heiße Würstchen mit Sauerkohl, setzend auf das Geheimnis ihrer glücksfördernden Wirkung. Und wir wurden noch von anderer Seite darin bestärkt, denn wir hatten im Radio gerade die Neujahrsbotschaft der Bundeskanzlerin gehört. Es war schon beinahe der letzte Happen, der uns im Halse stecken blieb, als die nette Nachrichtensprecherin, die eben noch charmant den Absturz der deutschen Skispringer-Mannschaft auf die hinteren Plätze verkündet hatte, ebenso charmant darüber informierte, daß für Berlin die Wetterlage sich entspannt habe, mit Schnee in den nächsten Tagen nicht mehr zu rechnen sei, die Verkehrssituation zur Normalität zurückkehre, die S-Bahn fast alle Züge nunmehr auf vier Wagen verkürze und, wenn überhaupt, dann nur noch im 20-Minuten-Takt fahre, den Ring ausgenommen. Auf einigen Strecken stelle sie den Verkehr überhaupt ein. Dafür habe sie eine Info-Leitung geschaltet, damit sich jeder selbst für Alternativen wie Bus oder U-Bahn entscheiden könne, um mit dem zu erwartenden Verkehrschaos fertig zu werden. Es war, wie die Bundeskanzlerin soeben gesagt hatte: Heute komme es auf Fleiß und Eigeninitiative jedes einzelnen an, mit den unvermeidlichen Problemen fertig zu werden, statt sich nur auf den Staat zu verlassen, der allerdings mindestens in Deutschland gerade eine besonders glückliche Zeit durchlebe, ja, man könne, wie der Wirtschaftsminister verkünde, eine Vollbeschäftigung nicht mehr aus schließen. Und wie die Würstchen versprach auch sie für 2011 gutes Geld. Als wir uns – verständlicherweise mit etwas Zweifel an ihrer geldfördernden Wirkung – wieder den Würstchen zuwandten, geschah dann doch das Wunder: Die heißen Würstchen mit Sauerkraut bringen tatsächlich gutes Geld. In dem Geheimnis aus der Kurischen Nehrung ist ja nichts darüber gesagt, wem sie das gute Geld bringen. Die charmante Nachrichtensprecherin übermittelte die Glücksbotschaft in ihrem freundlichen, verständnisvollen Ton, und die lautete kurz und knapp: »Angesichts der besonderen Situation erhöht die S-Bahn den Preis für einen Einzelfahrschein ab sofort von 2,10 auf 2,30 Euro. Manfred Wekwerth Kalter Tod Die Arbeitsstelle hatte er verloren. Die Zeitung meldet: Jetzt ist er erfroren Mal wieder ging ein Mensch so vor die Er war gesund. Ihm fehlte nur das Geld. den kalte Not in ihren Klauen hält. aus solchem Grund. Und alle sind Der Tote kann nun nicht mehr wenn China wieder mal das Günter Krone Tycoon an der ArmutsgrenzeDen besten Witz hat kurz vor Silvester die Business-Zeitung Wedomosti ihren Lesern beschert. In einem Interview behauptete der russische Oligarch Michail Prochorow, sein Einkommen betrage das Anderthalbfache des gesetzlichen Mindestlohns. Und keine Kopeke mehr. Damit liege er knapp über der Armutsgrenze. Aber die Frage nach der genauen Höhe seiner Bezüge konnte der Tycoon nicht beantworten. Stattdessen beschwerte sich der Notleidende, er besitze nicht einmal ein Handy. Und dann lamentierte der Geldsack, wie schwer es ihm falle, in einem armen Land reich zu sein: »Das ist eine Bürde.« Was ihn aber hindert, diese Last loszuwerden, verriet er nicht. Wenn die Redaktion gedacht hatte, damit werde sie die Leser zum Schmunzeln bringen, verfehlte sie das Ziel. In einem Land, in dem Dutzende Millionen Menschen wirklich unter der Armutsgrenze vegetieren, klingt solche Heuchelei zynisch. Sergej Guk RechtsstaatlichkeitDie Leipziger Volkszeitung berichtet über den Ausgang des Prozesses gegen den russischen Großbetrüger Michail Chodorkowski: »Die USA kritisieren die Verurteilung als »Mißbrauch des Rechtssystems«. Die Russen sollten sich das zu Herzen nehmen und die Rechtsstaatlichkeit dadurch wiederherstellen, daß sie Chodorkowski nach Guantanamo überstellen. G. K. Noch mal davongekommen»Ich hätte eine Staatskrise auslösen können«, titelte Deutschlands erfolgreichster Sachbuchautor in seiner Botschaft zum Jahreswechsel. Wir dürfen ihm also dankbar sein, daß er diesmal noch gnädigerweise darauf verzichtete. »Tiefsitzende Verachtung«, schrieb er, empfinde er gegenüber seinen Verfolgern in Politik und Medien, aber »die emotionale Zustimmung des überwiegenden Teils der Bürger«, »Begeisterung« gar seien ihm gewiß. Und er bringt Beispiele für den »rührenden Dank« aus dem Volke, der ihn zufrieden stimmte; so dieses: Ein deutscher Taxifahrer bestätigt die Sorge, daß Deutschland sich abschaffe, durch eigenes Erleben: »In unserem Taxifunk wünscht man den Taxifahrern mittlerweile alles Gute zum Opferfest anstatt zu den Weihnachtstagen.« In Duisburg geschah das, als hätte die Stadt nicht ohnedies Sorgen genug. Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch: 1,2 Millionen Käufer hat der Seelenführer mit seinem Buch schon erreicht, 99 Prozent aller für ihn wahrnehmbaren Reaktionen auf das Werk seien »positiv«, schrieb er stolz. Und so mußte er nicht zum Äußersten greifen, der Umsturz blieb uns erspart. Gedruckt hat Sarrazins eitlen Unsinn die deutsche Tageszeitung, hinter der lauter kluge Köpfe stecken. M. W. Tour d’Europe»Und da sitzt man eines Abends in Russe, ißt und diskutiert mit gastfreundlichen Menschen, die man nie zuvor gesehen hat, und erlebt, was man – abstrakt und theoretisch – wohl wußte, aber so sonst selten spürt: daß die Ähnlichkeiten in Europa viel größer sind als die Unterschiede. Daß Freundschaften möglich und nötig sind.« (Seite 211) Fünf Jahre nach der großen Ost-Erweiterung der Europäischen Union absolvierte Roland Siegloff in drei Monaten eine Reise durch alle 27 EU-Mitgliedsstaaten zu den letzten Grenzen Europas. Was er aufgeschrieben hat, verdient aufmerksame Lektüre. Er führt die Leserin von Brüssel, wo er zehn Jahre lang als dpa-Korrespondent tätig war, unter anderem nach Calais, zu den Spuren der Hadriansmauer, nach Irland, zum Zaun von Ceuta, nach Zypern, Malta, Triest, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Tschechien, in die Slowakei, zu den Resten der Berliner Mauer, ins Warschauer Büro der Flüchtlingsabwehrorganisation Frontex, auf baltische Äcker, nach Litauen, Lettland, Estland, übers finnische Tampere nach Schweden, über Frankfurt am Main und Schengen zurück nach Brüssel und streift dabei alle Absurditäten europäischer Grenzziehungen nicht nur der letzten Jahre. Da, wo die Grenzen abgeschafft wurden, sei es in Irland, zwischen Spanien und Portugal oder zwischen Rumänien und Bulgarien, will sie niemand wiederhaben. Die schöne neue Schengen-Welt nützt allerdings den in Calais, Patras oder aktuell in der griechischen Evros-Region gestrandeten Flüchtlingen wenig, und so bleibt als Fazit der empfehlenswerten Lektüre mit Roland Siegloff zu fragen: »Mit welchem Recht kann Europa einem Afghanen oder Sudanesen jene Freiheit verweigern, die es den Ungarn und DDR-Bürgern und vielen anderen Ende der 1980er Jahre gewährte?« Was wäre geschehen, wenn die damals 15 EU-Staaten gesagt hätten: »Wir müssen das Erreichte verteidigen?« Bestimmt allein der Zufall des Geburtsorts über ein Leben in Freiheit oder Unterdrückung?« (Seite 227). Beate Ziegler Roland Siegloff: »Reise an die letzten Grenzen Europas. 100 Tage freie Fahrt durch die Festung Europa«, Grenz-Echo-Verlag, 416 Seiten, 19.95 € Eine Aktion für den FriedenNeulich lernte ich zwei Amerikanerinnen kennen, eine war 82, die andere über 90, und beide noch aktiv. Eine ihrer Gruppen heißt »Grannies for Peace«. Sie schilderten eine Aktion, die mir dermaßen gefiel, daß ich überlegt habe, ob sie nicht nachzuahmen wäre. Sie ist sehr einfach. Nach geschickter Pressevorbereitung trifft sich eine Gruppe älterer Frauen, je älter desto besser, mit Schildern und Faltblättern bewaffnet vor einem Rekrutierungsbüro der Bundeswehr. Sie blockieren den Zugang und verlangen, selbst eingezogen zu werden. Gegenüber der Presse nennen sie etwa folgende Gründe: Erstens: Wenn wir in die Bundeswehr eintreten, kann man junge Männer und Frauen davor verschonen, in Afghanistan oder sonstwo zu sterben und zu töten. Ihr jüngeres Leben soll nicht riskiert werden. Zweitens: Wenn wir gehen, brauchen Offiziere nicht an Schulen und Hochschulen Kinder und Jugendliche für das Töten zu begeistern. Statt zu lernen, wie man Panzer und Jagdflieger bedient, sollen sie besser lernen, wie man Staubsauger, Gartenhacken und Solarheizer bedient. Drittens: Wir brauchen keine Körperrüstung, keine teuren Panzerwagen. Das eingesparte Geld soll Schulen, dem Gesundheitswesen, bezahlbaren Wohnungen und Umweltprojekten zugute kommen. Das bringt es mehr Jobs als in der Militärindustrie. Viertens: Wir würden uns gut mit den Omas und anderen afghanischen Frauen verständigen. Auch sie wollen ihre Söhne und Enkel vor dem Sterben retten, den Krieg also beenden. Wie wir wollen sie gleiche Rechte für Frauen. Mit uns würden sie am ehesten reden. Unter uns sind einige Türkinnen, Araberinnen und andere, auch wir Deutschstämmige wären dort bereit, mal eine Kopfbedeckung zu tragen. Tun viele von uns sowieso. Fünftens: Wir sind bereit, auf diese Art unserem Lande zu dienen, und glauben, das wäre eine gute Art. Der Nutzeffekt einer solchen Aktion ist klar: Die Menschen müßten über die Unmöglichkeit, ja Frechheit unserer Idee lachen (was die Menschen gern tun), aber sie würden auch ins Nachdenken kommen, ob darin nicht manche Wahrheit liegt. Man könnte eine beliebige Zahl von Rekrutierungsstellen an verschiedenen Orten aussuchen, am besten wohl ohne die Aktion anzukündigen, man könnte sich aber auch auf Berlin konzentrieren. Man dürfte die Auslandspresse nicht vergessen – und man könnte ruhig sagen, daß die Idee aus New York stammt. Übrigens blockierten die »Grannies for Peace« direkt am Times Square ganz stur den Weg zum Rekrutierungsamt, sie wurden deswegen verhaftet und verbrachten mehrere Stunden im Gefängnis, was sich günstig auf die Publicity auswirkte. Es dauerte ein Jahr, bis sie in letzter Instanz als »unschuldig« freigesprochen wurden. Es wäre nicht falsch, wenn die Großmütter von Kindern und Enkelchen begleitet würden, doch nur sie selber sollten blockieren (und eventuell verhaftet werden). Ältere Modeartikel (Hüte!) würden den Kameraleuten besonders gefallen. Victor Grossman FrontkämpferAngeführt vom Vorsitzenden der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) hat eine Delegation rechtspopulistischer Parteien aus europäischen Ländern Besuch in Israel gemacht, dort mit Politikern Gespräche geführt und eine Siedlung im Westjordanland besichtigt. Aus Deutschland nahmen Patrik Brinkmann von Pro NRW und René Stadtkewitz von »Die Freiheit« teil. Eine »Jerusalemer Erklärung« kam dabei heraus, in der ein Schulterschluß mit dem Staat Israel gegen »islamischen Terror« beschworen und behauptet wird, FPÖ und Co. stünden »an vorderster Front des Kampfes für die westlich-demokratische Werteordnung«. Wer die ideologische Tätigkeit der österreichischen »Freiheitlichen« kennt, kann keinen Zweifel haben, aus welchen Motiven sie sich auf diese Reise nach Jerusalem begeben haben: Wien, so agitieren sie, sei wieder einmal von »Überfremdung« bedroht. Diesmal nicht von jüdischer, sondern islamischer; die »Judenfrage« ist großdeutsch gelöst. Da macht es sich gut, proisraelisch aufzutreten und darauf zu setzen, daß eine militante Politik Israels den Nahostkonflikt noch stärker zuspitzen wird. Im »Weltkampf« mit dem Islam ist dann Frontgeist willkommen, auch rassistischer. Peter Söhren Starke Fakten, trübe HoffnungenVon 1991 bis 2009 war Jörg Bremer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Israel. Er ist ein überzeugter Christ, ein engagierter Freund Israels und ein intimer Kenner des Nahostkonflikts. Er verließ das Land ohne Illusionen über dessen Zukunft – mit einem vernichtenden Urteil über die sterile Regierungspolitik, der jegliche Perspektiven für eine friedliche Lösung fehlen. Heute berichtet er aus Rom. Im Rückblick auf seine Jahre in Jerusalem und seine Begegnungen mit Akteuren wie Rabin, Scharon, Netanjahu, Arafat, Abbas und vielen anderen weist er auf historische Zusammenhänge hin, auf Hintergründe, Enttäuschungen und aktuelle Entwicklungen, beschreibt ein »Leben zwischen Verzweiflung und Hoffnung« und verurteilt die Gewaltanwendung auf beiden Seiten. Dabei scheut er sich nicht, israelische Kriegsverbrechen beim Namen zu benennen. Er beklagt die Verletzung des Völkerrechts durch Israel, einen Staat, der seit seiner Gründung 1948 keine völkerrechtlichen Grenzen und offenbar auch kein Interesse an deren vertraglicher Festlegung hat. Auch eine demokratische Verfassung sucht man vergebens. In den vergangenen Jahren hat sich die Innenpolitik erheblich verschärft, vor allem durch die Militanz der Siedler. Mit dem fortgesetzten Siedlungsbau werden ständig kaum umkehrbare Fakten geschaffen. Im Falle eines Abkommens diese illegalen Siedlungen mit Hilfe der Armee zu räumen, wäre nach Bremers Darstellung sehr schwierig, da die Armee zunehmend rechtsextremistisch-religiös motiviert sei, wie auch die Zahl der Kippa tragenden Soldaten zeige. Im Ernstfall könne aus einer Räumung der Siedlungen ein Bürgerkrieg erwachsen. Israel versuche auch ständig, den Status Jerusalems zu verändern. Etliche seiner Einschätzungen kann ich nicht teilen, und ich vermisse zum Beispiel die israelische Friedensbewegung, die ihm nicht mehr als einen Nebensatz wert war. Gleichwohl empfehle ich das Buch als einen nützlichen persönlichen Erfahrungsbericht. Rudolf Turber Jörg Bremer: »Unheiliger Krieg im heiligen Land. Meine Jahre in Jerusalem«, Nicolaische Verlagsbuchhandlung, 256 Seiten, 24,95 € Henryk M. BroderEigentlich kann man die Desertion Henryk M. Broders vom Spiegel zur Welt nur begrüßen. Er hat damit, mehr als mit seinen Artikeln, für ein Stück Klarheit gesorgt. Gelegentlich konnte man ja der Meinung sein, Die Welt habe sich gewandelt seit jenen Jahren, da, wer Anstand beweisen wollte, nicht für Springer schrieb. Diese Schamschwelle ist längst überwunden, gar mancher, der sich für links hielt und vielleicht immer noch hält, liefert Springer jenes Feigenblatt, das der Konzern benötigt, um sich als liberal und pluralistisch darzustellen. Schaut man freilich genauer hin, erkennt man schnell, daß Die Welt, werktags wie am Sonntag, in allen entscheidenden Fragen zuverlässig die reaktionäre Position einnimmt, mit der sie schon um 1968 zu provozieren vermochte. Nun hat der Beitritt Broders in den Klub die letzten Zweifel zerstreut, denn was immer man Broder nachsagen mag: Keiner hat gründlicher als er mit seiner linken Vergangenheit aufgeräumt. Er ist jetzt genau dort angekommen, wo er hingehört. Seine Achse des Guten erübrigt sich fürderhin, denn sie ist mit der Übersiedlung ihres Chefs nahezu komplett in der Welt versammelt. Eine Vereinigung von NPD und DVU jedenfalls hat größere Differenzen zu überwinden als die Symbiose der Achse des Guten mit der Springer-Presse. Da haben sich Gleichgesinnte gefunden, und nur ein Narr kann noch so tun, als wäre dies eine Farbe im bunten Spektrum einer überregionalen Zeitung. Es darf daher nicht verwundern, daß Broder enthusiastisch begrüßt wurde. Ein Satz im Editorial freilich gibt zu denken. Da steht über den neuen Welt-Bürger: »Er schreibt unerschrocken und leidenschaftlich über alle Themen, bei denen man sich leicht die Finger verbrennen kann, über Antisemiten und Terroristen, über Juden und Nazis und zuletzt viel über die Gefahren eines fanatischen Islamismus.« Diese Nachbarschaft, in die da die Juden gestellt werden, hätte Broder keinem seiner Widersacher ohne Hohn durchgehen lassen. Oder nimmt er tatsächlich gegenüber den Juden die gleiche unerschrockene und leidenschaftliche Haltung ein wie gegenüber Antisemiten, Terroristen, Nazis und den Gefahren eines fanatischen Islamismus? Will er sie tatsächlich mit diesen in eine Reihe stellen? Fühlt er sich admit korrekt charakterisiert? Wenn das ein Mißverständnis sein sollte, werden wir demnächst von ihm eine seiner beliebten satirischen Glossen lesen. Exklusiv in der Welt. Thomas Rothschild Walter Kaufmanns LektüreEs ist der Romanerstling eines Siebzig-jährigen, ein reifes, bewundernswert gründlich recherchiertes Buch, klug aufgebaut und sprachlich so geschliffen, daß es ein Lesegenuß ist. Der Titel »Exil der frechen Frauen« läßt zwar nicht auf die Tiefe und Ernsthaftigkeit des Werkes schließen, erweist sich aber als treffend, weil Olga Benario, Maria Osten und Ruth Rewald, deren Leben der in New York tätige Schweizer Germanist Robert Cohen darstellt, sich selbst oft genug so sahen. Alle drei waren sie deutsche Kommunistinnen, schöne wie auch in jeder anderen Hinsicht beeindruckende Frauen, die ihren Männern in die Sowjetunion, nach Frankreich und ins vom Krieg zerrissene Spanien gefolgt waren und auch (Olga Benario begleitete Luis Carlos Prestes, den Ritter der Hoffnung, im Auftrag der Partei) ins ferne Brasilien. Sie waren verläßliche Gefährtinnen und hingebungsvolle Geliebte, leisteten Beachtliches als Journalistinnen, Schriftstellerinnen, Organisatorinnen und erwiesen sich als fürsorgliche Mütter der eigenen oder ihrer Pflegekinder – und blieben bei all dem aktive Revolutionärinnen. Ihr Wirken im Exil während der dreißiger und vierziger Jahre wird nacherlebbar gestaltet. Berühmtheiten kreuzen ihre Wege: Wieland Herzfelde, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Tina Modotti, Ernst Busch, Willi Bredel, Louis Aragon und viele mehr. Die Schilderungen all dieser Begegnungen faszinieren – es ist, als wäre der Autor dabeigewesen. In seiner Wirkung ist sein Buch der »Ästhetik des Widerstands« von Peter Weiss an die Seite zu stellen: ein Hohelied auf drei Frauen, die den Widerstand gegen den Faschismus wagten und letztlich unter der eisernen Ferse zertreten wurden. Besonders schändlich, daß Stalin, dem Maria Osten vertraute, an ihrem gewaltsamen Tod beteiligt war. Das Buch über die drei und ihre Zeit legt man nur schwer aus der Hand, und am Ende ist es wie ein schmerzhafter Abschied. W. K. Robert Cohen: »Exil der frechen Frauen«, Roman, Rotbuchverlag, 622 Seiten, 24,95 € Clara ZetkinFast zehn Jahre hatte Clara Zetkin in der französischen Emigration gelebt, als sie 1891 – das Bismarcksche Sozialistengesetz war zu Fall gebracht – nach Deutschland zurückkehren konnte. Sie ließ sich in Stuttgart nieder, wo der Verlag von Johann Heinrich Wilhelm Dietz seinen Sitz hatte. Gemeinsam mit dem rührigen Sozialdemokraten entwickelte sie die Konzeption einer neuen Frauenzeitschrift, die den Namen Die Gleichheit erhielt. Ihr Programm: »Die Gleichheit tritt für die volle gesellschaftliche Befreiung der Frau ein, wie sie einzig und allein in einer im Sinne des Sozialismus umgestalteten Gesellschaft möglich ist.« Unter Clara Zetkins Redaktion wurde Die Gleichheit ein in Arbeiterkreisen viel gelesenes Journal. Bereits 1904 hatte sie rund 12.000 Abonnenten, bis zum Beginn des ersten Weltkrieges stieg die Zahl auf 125.000. Unter den vielen Beiträgen, die Clara Zetkin selbst schrieb, nehmen die, in denen sie sich mit Problemen von Kunst und Literatur beschäftigte, einen besonderen Platz ein. Diese Aufsätze – unter anderem über Henrik Ibsen, Ferdinand Freiligrath und Fritz Reuter – weisen die revolutionäre Sozialistin als kenntnisreiche Literaturkritikerin aus, die sich intensiv mit Leben und Werk der von ihr behandelten Autoren auseinandersetzte. Grundsätzliche Gedanken faßte sie nach einem Vortrag vor Stuttgarter Sozialdemokraten in dem Artikel »Kunst und Proletariat« zusammen, der im Januar 1911 erschien. Ausgangspunkt der Analyse ist die Problemstellung im ersten Satz: »Es könnte ein Hohn dünken, zugleich von Kunst und Proletariat zu sprechen.« Und es folgt der berühmt gewordene Satz: »Sie irren, die im proletarischen Klassenkampf nur das Begehren nach Füllung des Magens sehen. Dieses weltgeschichtliche Ringen geht um das ganze Kulturerbe der Menschheit, es geht um die Möglichkeit der Entfaltung und Betätigung vollen Menschtums für alle.« Mit drei Fragen setzt sie sich besonders auseinander: der Stellung des Künstlers in der bürgerlichen Gesellschaft, dem Verhältnis des Proletariats zum kulturellen Erbe und der Tendenz im Kunstwerk. Sie lehnt Tendenz nicht ab, im Gegenteil: »Gewaltige, großzügige Kunstwerke aus allen Zeiten sind erfüllt vom Gluthauch der Tendenz. Verderblich wird die Tendenz der Kunst nur dann, wenn sie äußerlich roh aufgepfropft wird, wenn sie mit künstlerisch unzulänglichen Mitteln redet. Wo dagegen die Idee von innen heraus mit künstlerisch reifen Darstellungsmitteln schöpferisch wird, zeugt sie Unsterbliches.« Clara Zetkin war überzeugt, daß mit der kämpfenden Arbeiterklasse neue kulturschöpferische Potenzen entstehen werden – eine Voraussage, die sich in den folgenden 100 Jahren glänzend bestätigt hat, auch wenn die heutige herrschende Meinung nichts davon wissen will. »Kunst und Proletariat«, worin Clara Zetkin einige damalige künstlerische Strömungen wie »Heimatkunst« und »frömmelnden Neumystizismus« scharf ablehnte, ist bis heute ein lesenswerter Aufsatz geblieben. Aus einem Brief an Franz Mehring wissen wir, daß die direkte Anregung zu der kleinen, inhaltsschweren Abhandlung von ihrem zweiten Ehemann, dem Maler Friedrich Zundel (1875–1948), ausging. Direkten persönlichen Umgang mit Künstlern pflegte die Revolutionärin bis an ihr Lebensende. Als sie 1933 in Archangelskoje bei Moskau gestorben war, fertigte Heinrich Vogeler, der sie immer bewundert hatte, drei schlichte Farbstiftzeichnungen der Toten an, die sich heute im Nachlaß Vogelers im Berliner Alten Museum befinden. Dieter Götze Neues von Wekwerth und BrechtAuf knapp 200 Seiten spricht der Filmemacher Joachim Lang mit dem Regisseur Manfred Wekwerth über Brecht. Mir erscheint dieser Interviewband als der bedeutendste seit Hans Bunges Gesprächen mit Hanns Eisler. »Über Brecht ist alles gesagt, so könnte man meinen«, stellt Lang in seinem Vorwort fest und fragt: »Warum also noch zusätzlich ein Buch, das im Titel sogar ›Neues vom alten Brecht‹ verspricht?« Die Antwort, die Lang selbst gibt, ist ebenso einfach wie berechtigt: »Weil es Gespräche mit einem seiner engsten Mitarbeiter gibt, der sagt, so habe er noch nicht über Brecht geredet.« Selbstverständlich ist nicht alles neu, was Wekwerth erzählt. Einiges findet sich bereits in der Autobiographie des Regisseurs »Erinnern ist Leben« aus dem Jahr 2000, vieles auch in den zahlreichen theoretischen und theaterpraktischen Publikationen Wekwerths, von denen hier nur das 2009 erschiene Brecht-Handbuch »Mut zum Genuß« erwähnt sei. Doch nicht nur was erzählt und berichtet wird, sondern auch die Art, wie es geschieht, gibt dem Erzählten seinen Wert: Die Form des Gesprächs ermöglicht mehr als jede andere Textsorte Assoziationen und Querverweise und den Übergang vom Anekdotischen zum Programmatischen. Was sich wie ein nicht abreißender Dialog liest, ist das Ergebnis einer genauen Kompositionsarbeit. Statt einengender Kapitelüberschriften helfen kleine Schlagwörter am rechten oberen Seitenrand, sich im Buch zu orientieren: »Kritik als Genuß«, »Respekt gegenüber Karl Valentin«, »Neigung zu Mumpitz«, »Brecht ist tot«, »Erste Begegnung mit Brecht«, »Ästhetik des Gebrauchtseins«, »Frischgebackener Weltrevolutionär«, »Permanente Revolution«, »Lukullus«, »Formalismusdebatte«, »17. Juni 1953«, »Trial and Error«. >Diese Beispiele mögen eine Ahnung vom Reichtum dieses Buches geben: Es geht um Politik, um Ästhetische Theorie und Praxis, um Spaß und Genuß, Brechtstücke und Regiearbeit, Privates und Öffentliches. Man begegnet den Protagonisten des Berliner Ensembles: nicht nur Brecht, auch Helene Weigel, Ruth Berlau, Hanns Eisler, Paul Dessau, Ernst Busch und ungezählten anderen. Vorurteile werden widerlegt, wie etwa die Legende, Brechts episches Theater sei stets nüchtern und grau gewesen (Wekwerth erinnert in diesem Zusammenhang an die Inszenierung des Kaukasischen Kreidekreises mit ihrer »geradezu wuchernden Farbigkeit und Vitalität«). Komisches ist präsent – wie das Verbot Brechts, ihn von links zu fotografieren, da er fürchtete, man könne ihn aufgrund einer Narbe, die er sich in den zwanziger Jahren bei einem Verkehrsunfall in seinem Steyr zugezogen hatte, verdächtigen, Mitglied einer schlagenden Verbindung gewesen zu sein – und so Tragisches wie das Schicksal Carola Nehers und Sergej Tretjakows, die im Stalinismus umgebracht wurden. »Der Zar« liest man in Anlehnung an ein Brechtgedicht im oberen rechten Seitenrand, wenn Wekwerth von den Gesprächen der Mitarbeiter mit Brecht über Stalin erzählt, in denen auch die Frage aufgeworfen wurde, ob Brecht für seine Freunde nicht mehr hätte tun können. Diese Frage hat Brecht Wekwerth zufolge bis zu seinem Tod sehr beschäftigt, wobei er freilich die Problematik des Exils und die Bedrohung durch Hitlerdeutschland stets mitbedachte. Als vor wenigen Wochen in Helene Weigels »eiserner Villa« in Buckow Manfred Wekwerth, Renate Richter und Hilmar Thate gemeinsam das Buch präsentierten, hatten die Zuhörer den Eindruck, an einer Zeitreise teilzunehmen. Manche erklärten, nie seien sie Brecht so nahe gekommen. Dieser Effekt stellt sich auch bei der Lektüre des Buches ein. »... und es gibt nichts, was verführerischer sein kann als eine Frage.« Das Brecht-Zitat, das dem Buch als Motto vorangestellt ist, wird ergänzt durch einen Satz Jean Pauls: »In den abwegigen Winzigkeiten des Lebtags findet man, wenn man diese nur kenne, den wahren Weg der Weltenwahrheit.« Um nichts geringeres geht es in dem vorliegenden Buch: Mit den Befragten wie den Leser gleichermaßen verführenden Fragen wird der Versuch unternommen, der Weltenwahrheit – zumindest aber den Welträtseln, deren Lösung Brechts Werk seit je verschrieben war – auf die Schliche zu kommen. David Salomon Joachim Lang: »Neues vom alten Brecht. Manfred Wekwerth im Gespräch«, Aurora Verlag, 192 Seiten, 14,95 € Die heile Weltdes Rüstungsfabrikanten Joe Keller bleibt erhalten, obwohl seine Firma im Krieg defektes Material an die US Air Force lieferte, was 21 Piloten das Leben kostete. Dafür hat sein Partner gebüßt, nicht Keller. Unbehelligt erfreut er sich seines Wohlstands, bis die verdrängte Schuld offengelegt wird: Ein Riß geht durch die Familie, und seine heile Welt zerbricht. So viel zum Inhalt eines Stücks, mit dem Arthur Miller 1947 seinen ersten großen Broadway-Erfolg feierte. Roger Vontobels Inszenierung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin wird dem nicht gerecht. Er hat die gesamte Handlung auf eine Spielwiese mit lärmenden Kindern verlegt, die sich um einen Ball raufen, während Fallobst vom Himmel prasselt. Nicht lange, und die Kinder sind erwachsen und treiben, ständig rauchend – gewiß wurde in den vierziger Jahren viel geraucht, aber so viel? –, die Handlung weiter. Je schriller, je heftiger ihre Zwistigkeiten ausgetragen werden, desto weniger berühren sie. Trauer, Seelenqual, Hilflosigkeit oder gar Reue – so gut wie nichts davon. Stattdessen steigern sich Zorn und Wut sehr schnell ins Hysterische. Was die Kellers sich gegenseitig vorwerfen, geht unter in Geschrei. Die Sprache verkommt. Es fehlen die leisen, unterschwelligen Animositäten, die Schlimmes ahnen lassen. Alles wirkt überdreht. Wie die Regie die Schauspieler führt (Jörg Pose als Joe, Daniel Hoevels als Chris, Ulrike Krumbiegel als Kate), nimmt sie der Familie jedwede Normalität: väterliche Zuneigung, frauliche Mütterlichkeit, die selbstverständliche Anhänglichkeit eines Sohnes. Die Eruptionen bahnen sich allzu früh an und erschrecken kaum noch, wenn sie kommen. Und so verliert sich das Wesentliche des Stücks, das eine Gesellschaft voller Gier und Schuld zeigen sollte, die keinem ein Zuhause ist. Walter Kaufmann LeckerEin Wort, das dazu angetan ist, mir nachhaltig die Lust am Zuhören oder Mitreden zu nehmen, ist das knappe Wörtchen »lecker«. Es ruft bei mir sogar Hautpusteln und allergische Reaktionen hervor. Bei der akustischen Wahrnahme dieses Wortes sträubt sich mein nichtvorhandenes Fell, und mein Kopfhaar kräuselt sich knisternd auf der Fontanelle. Wenn mein Gegenüber in einem Restaurant oder meine Gäste bei einer Grillparty beim Kauen mit der Zunge rollen oder mit den Augen schnalzen und verzückt »lecker« rufen, vergeht mir der Appetit, meine Stirn wird schweißnaß, und die Fußnägel heben sich aus dem Nagelbett. Ich weiß nicht warum, aber es ist so. Und was ist nicht alles »lecker«: Steaks, Kuchenstücke, Früchte, Weine, Pralinen undundund. Die Verzückung kann noch gesteigert werden durch »ganz lecker«, »total lecker«, »super lecker« oder »mega lecker«. Das Wort kann nichts dafür, es hat sich nicht selbst erfunden, aber wenn es mir aus einem noch so schönen Munde entgegenschlüpft, möchte ich es am liebsten wieder hineinstopfen. Im Wettbewerb der Stromanbieter wird sogar »Lekker Strom« angepriesen. Daß man das Herumlecken an einem Kabel jedoch ums Verrecken vermeiden sollte, hat jeder längst im Physikunterricht gelernt, und nicht erst in der Abiturstufe. Wer es trotzdem versucht, wird nicht nur gelb wie der »lekkere« Strom, sondern schwarz und verliert jedes weitere Wettbewerbsinteresse. Neulich befuhr ich im Havelland eine Bundesstraße in Richtung Rathenow, verspürte Hunger und hielt Ausschau nach einer Gaststätte. Die kam auch bald an einer Straßenkreuzung in Sicht, ich bremste ab und las das Werbeschild »Lecker futtern wie bei Muttern«. Ich gab sofort wieder Gas und brauste davon, sah aber noch das wenige Meter hinter dem Lokal prangende nächste Ortsschild. Es verkündete die Gemeinde »Kotzen«. Nächstens nehme ich eine Umgehungsstraße. Wolfgang Helfritsch FeststellungenKleider machen Leute, sagen die Leute, die Kleider machen. * Die Unverdorbenen kommen leicht in den Ruf, unverbesserlich zu sein. * Früher hieß es: Die kleinen Diebe hängt man, die großen läßt man laufen; jetzt aber: Die kleinen Diebe hängt man, den großen läuft man nach. * Man verzeiht jedem seine erste kolossale Dummheit, aber niemals die zweite, die erste verteidigen zu wollen. Daniel Spitzer (1835–1893)
Erschienen in Ossietzky 1/2011 |
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