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Im Saal waren auch ein paar Veteranen des Friedenslagers, aber die große Mehrheit der Anwesenden waren Jugendliche in den Zwanzigern, junge Männer und Frauen, die ihren Militärdienst abgeschlossen hatten. »Die Besatzung der Gebiete« ist ein Buch mit 344 Seiten, das aus Zeugnissen von Soldaten über das tägliche und nächtliche Leben der Besatzung besteht. Die Soldaten lieferten die Augenzeugenberichte, und die Organisation, die aus Ex-Soldaten besteht, überprüfte, verglich und wählte aus. Am Ende wurden 183 von etwa 700 Zeugnissen für die Veröffentlichung ausgewählt. Nicht ein einziges dieser Zeugnisse wurde vom Armeesprecher abgestritten, der sich sonst beeilt, ehrlichen Berichten über das, was in den besetzten Gebieten geschieht, zu widersprechen. Da die Herausgeber des Buches selbst Soldaten waren, die an diesen Orten ihren Militärdienst geleistet haben, war es für sie leicht, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Das Buch ist deprimierend – nicht weil es detailliert über Grausamkeiten berichtet. Im Gegenteil, die Herausgeber bemühten sich, nicht Vorfälle von außergewöhnlicher Brutalität – von Sadisten begangen, die man Armee-Einheiten in Israel wie in aller Welt findet – mit hineinzunehmen. Sie wollten eher ein Licht auf die graue Routine der Besatzung werfen. Es gibt Berichte von nächtlichen Überfällen auf ruhige palästinensische Dörfer zu Übungszwecken: Soldaten brechen in beliebige Häuser ein, in denen es keine »Verdächtigen« gibt. Sie terrorisieren Kinder, Frauen und Männer, richten Chaos im Dorf an – und all dies nur, um die Soldaten zu trainieren. Es gibt Geschichten über das Demütigen von Passanten an den Checkpoints (»Mach den Checkpoint sauber, dann bekommst du deine Schlüssel wieder!«) und über gelegentliche Schikanen (»Er begann zu meckern, also schlug ich ihm mit dem Gewehrkolben ins Gesicht!«). Jedes Zeugnis ist sorgfältig dokumentiert mit Zeit, Ort, Truppeneinheit. Bei der Vorstellung des Buches wurden einige der Zeugenaussagen sogar im Film vorgeführt. Zeugen wagten es, ihr Gesicht zu zeigen und ihre Identität mit vollem Namen preiszugeben. Sie waren keine ungewöhnlichen Leute, keine Fanatiker oder »blutende Herzen«. Keine Weichlinge aus der »Wir-schießen-und-weinen«-Schule. Sondern ganz gewöhnliche junge Leute, die Zeit hatten, sich mit ihren persönlichen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Die Titel der Zeugnisse sprechen für sich: »Um Schlaflosigkeit im Dorf zu schaffen«, »Der Bataillonskommandeur befahl, jeden zu erschießen, der versuchte, die Toten zu beseitigen«, »Der Marinekommandeur der Flotte steckte die Mündung seines Gewehrs in den Mund des Mannes«, »Sie sagten, wir sollten auf jeden schießen, der sich auf der Straße bewegt«, »Du kannst alles machen, was dir gefällt, keiner wird dich später fragen«, »Du schießt aus Spaß auf das TV«, »Ich wußte nicht, daß es Straßen nur für Juden gibt«, »Eine Art totaler Willkür«, »Die Jungs (der Hebron-Siedler) schlugen die alte Frau zusammen«, »Siedler arrestieren? Das kann die Armee nicht tun«. Und so fort. Nur Routine. Die Absicht des Buches ist nicht, Brutalitäten aufzudecken und die Soldaten als Monster zu zeigen. Es will eine Situation darstellen: die Herrschaft über ein anderes Volk mit all der überheblichen Willkür, die notwendigerweise damit verbunden ist, Demütigung der Besetzten, Degeneration des Besatzers. Nach Ansicht der Herausgeber ist es für den einzelnen Soldaten unmöglich, die Situation zu verbessern. Er wird zu einer Schraube in einer Maschine, die von Natur aus unmenschlich ist. Gruppen junger Leute, denen es einfach zu übel wird, tauchen im Lande auf. Sie sind Zeichen eines Erwachens, das seinen Ausdruck im täglichen Kampf von Hunderten von Gruppen findet, die sich für verschiedene Dinge engagieren. Nur scheinbar verschieden – weil diese Dinge miteinander verbunden sind. Der Kampf gegen die Besatzung, für die Schutz suchenden Flüchtlinge, gegen die Zerstörung der Beduinenhütten im Negev, gegen dir Invasion der Siedler in arabische Stadtteile Ostjerusalems, für gleiche Rechte der arabischen Bürger in Israel, gegen soziale Ungerechtigkeiten, für die Erhaltung der Umwelt, gegen die Korruption der Regierung, gegen religiösen Zwang und so weiter. Sie haben einen gemeinsamen Nenner: Kampf für ein anderes Israel. Junge Freiwillige für jeden dieser Kämpfe – und für alle zusammen – sind heute nötiger denn je angesichts des Rassismus, der in ganz Israel sein häßliches Haupt erhebt – ein offener Rassismus, schamlos und tatsächlich stolz auf sich selbst. Das Phänomen als solches ist nicht neu. Was neu ist, ist der Verlust jeder Spur von Scham. Die Rassisten schreien ihre Botschaft an jeder Straßenecke heraus und ernten Applaus von Politikern und Rabbinern. Es begann mit der Flut rassistischer Gesetzesentwürfe, die dazu bestimmt waren, die arabischen Bürger zu delegitimieren und zu vertreiben: »Zulassungskomitees«, »Treueeid« und vieles mehr. Dann kam das religiöse Edikt des Chef-Rabbiners von Safed, das Juden verbot, Arabern Wohnungen zu vermieten; es rief Entsetzen und Beschämung hervor. Seitdem sind alle Dämme gebrochen. Eine Bande 14-Jähriger überfiel Araber mitten in Jerusalem, benützte ein 14-jähriges Mädchen als Köder und schlug es bewußtlos. Hunderte von Rabbinern im ganzen Lande verfaßten dann gemeinsam ein Manifest, das verbietet, Wohnungen an »Ausländer« (gemeint sind Araber, die seit Jahrhunderten im Lande lebten) zu vermieten. In Bat Yam, das an Tel Aviv grenzt, verlangten Demonstranten, alle Araber aus der Stadt zu vertreiben. Am nächsten Tag verlangten Demonstranten in Tel Avivs ärmstem Stadtviertel die Vertreibung der Flüchtlinge und Fremdarbeiter aus dem Viertel. Offensichtlich hatten die Demonstrationen in Bat Yam und Tel Aviv verschiedene Ziele: Die erste richtete sich gegen die Araber, die zweite gegen Fremdarbeiter. Aber dieselben wohlbekannten faschistischen Aktivisten erschienen und sprachen bei beiden, sie trugen dieselben Poster und schrien dieselben Slogans. Am auffälligsten war die Behauptung, daß die Araber und die Ausländer jüdische Frauen gefährden – die Araber heiraten sie und nehmen sie mit in ihre Dörfer, die Fremdarbeiter flirten mit ihnen. »Jüdische Frauen für das jüdische Volk!« schrien die Poster – als ob die Frauen ein Besitz wären. Die Verbindung zwischen Rassismus und Sex hat Sozialforscher schon immer interessiert. Die weißen Rassisten in den USA verbreiteten das Gerücht, daß die »Nigger« einen dickeren Penis hätten. Unter den deutschen Nazizeitungen war die sensationellste Der Stürmer, ein pornographisches Blatt, voll mit Geschichten über unschuldige blonde Mädchen, die von krummnasigen häßlichen Juden mit Geld verführt wurden. Sein Herausgeber Julius Streicher wurde in Nürnberg gehenkt. Einige glauben, eine der Wurzeln des Rassismus sei ein Gefühl von sexueller Unzulänglichkeit, Mangel an Selbstvertrauen von Männern, die fürchten, sexuell impotent zu sein – das ganze Gegenteil des Macho-Rassisten. Es genügt, sich die rassistischen Demonstranten anzusehen, um solche Schlüsse zu ziehen. Jean-Paul Sartre sagte, jeder Mensch sei ein Rassist – es gebe nur den Unterschied zwischen denen, die es zugeben und versuchen, dagegen anzukämpfen, und jenen, die das nicht tun. Das stimmt zweifellos. Ich habe einen einfachen Test für die Macht des Rassismus: Man fährt mit dem Wagen, jemand schneidet einem den Weg ab. Wenn es ein schwarzer Fahrer ist, sagt man: »Verdammter Nigger!«, wenn es eine Frau ist, schreit man: »Geh in deine Küche!« Wenn er eine Kipa trägt, schreit man: »Blöder Dos« (»Dos« ist ein abfälliger hebräischer Spitzname für religiöse Juden). Wenn es ein Fahrer ohne besondere Kennzeichen ist, schreit man nur »Idiot! Wer gab dir eine Fahrerlaubnis?« Der Fremdenhaß, die Aversion gegen jeden, der anders ist als man selbst, scheint biologische Züge zu haben. Ein Überbleibsel aus Zeiten der Urmenschen, als jeder Fremde eine Bedrohung für die begrenzten Ressourcen des Stammes war. Auch bei vielen anderen Tierarten feststellbar. Nichts, auf das man stolz sein kann. Der zivilisierte Mensch und mehr noch die zivilisierte menschliche Gesellschaft hat die Pflicht, diese Züge zu bekämpfen – nicht nur, weil sie häßlich sind, sondern weil sie die Modernisierung der globalen Welt hindern, in der die Zusammenarbeit zwischen Menschen und zwischen Völkern zwingend geboten ist. Sie führen uns zu den Höhlenmenschen zurück. Die Situation hier bewegt sich in die andere Richtung: Das Land umarmt den rassistischen Dämon. Nach Jahrtausenden als Opfer des Rassismus sind Juden hier anscheinend glücklich, anderen etwas anzutun, was ihnen angetan wurde. In diesem widerlichen Durcheinander spielen Rabbiner eine zentrale Rolle. Sie reiten oben auf der Welle und behaupten, dies sei der Geist des Judentums. Zum Beleg zitieren sie ausführlich heilige Texte. Die Wahrheit ist, daß das Judentum rassistische und antirassistische, humanistische und barbarische Elemente enthält – wie fast jede andere Religion, Die Kreuzfahrer, die auf dem Weg ins Heilige Land die Juden im Rheinland schlachteten und bei der Eroberung Jerusalems die Bewohner der Stadt mordeten – Muslime genau so wie Juden – schrien: »Gott will es!« Im Neuen Testament kann man großartige Passagen finden, die Liebe predigen, und auch ganz andere Passagen. Ebenso stehen im Koran Suren voller Liebe für die Menschheit und Aufrufe zu Gerechtigkeit und Gleichheit, aber es gibt auch ganz andere voller Intoleranz und Haß. So ist es auch mit der hebräischen Bibel. Die Rassisten zitieren Rabbi Maimonides, der zwei biblische Worte als ein Gebot interpretiert, Nichtjuden keine Wohn- und Lebensmöglichkeit im Lande zu geben. Das ganze Buch Josua ist ein Aufruf zum Genozid. Die Bibel befiehlt den Israeliten, den ganzen Stamm der Amalekiter umzubringen (»Männer, Frauen, Kinder und Säuglinge«). Und der Prophet Samuel entthronte König Saul, weil der das Leben von amalekitischen Gefangenen schonte (1. Sam.15). Aber die hebräische Bibel ist auch ein Buch von unvergleichlicher Menschlichkeit. Es fängt mit der Beschreibung der Erschaffung von Mann und Frau an, in der betont wird, daß alle Menschen nach dem Bilde Gottes geschaffen – und deshalb gleich sind. »Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn, Mann und Frau.« Die Bibel verlangt viele Male, den »Gerim« (den Fremden, der unter den Israeliten lebt) als Israeliten zu behandeln, »weil ihr Fremde im Lande Ägyptens wart«. Wie Gershom Schocken, Besitzer und lange Zeit Chefredakteur der liberalen Zeitung Haaretz, in einem zu seinem 20. Todestag wieder veröffentlichten Artikel bemerkte: Esra hat tatsächlich die nicht-jüdischen Frauen aus der Gemeinde ausgeschlossen. Aber davor spielten fremde Frauen eine zentrale Rolle in der biblischen Geschichte. Bathseba war die Frau eines Hethiters, bevor sie König David heiratete, und wurde die Mutter des Hauses David, aus dem der Messias kommen wird (oder nach christlichem Glauben vor 2010 Jahren geboren wurde). David selbst war ein Nachfahre von Ruth, einer Moabiterin. König Ahab, der größte der israelitischen Könige, heiratete eine Phönizierin. Wenn unsere Rassisten das häßlichste Gesicht des Judentums darstellen und dabei dessen universale Botschaft ignorieren, schaden sie der Religion von Millionen von Juden in aller Welt. Die bedeutendsten jüdischen Rabbiner schwiegen dieser Tage angesichts des rassistischen Feuers, das von Rabbinern entzündet wurde, oder murmelten etwas über »Wege des Friedens« – womit sie auf die Regel verwiesen, es sei verboten, die Goyim zu provozieren, weil sie die Juden in anderen Ländern so behandeln könnten wie die Juden die Minderheit in ihrem eigenen Staat. Bis jetzt hat noch kein christlicher Priester seine Gemeinde aufgerufen, Juden keine Wohnung zu vermieten – aber es könnte geschehen. Das Schweigen der »Thora-Weisen« ist donnernd. Noch lauter das der politischen Führer des Landes. Friedensnobelpreisträger Shimon Peres erhob seine Stimme nicht. Binyamin Netanyahu begnügte sich damit, die Rassisten aufzurufen, »das Gesetz nicht in ihre eigenen Hände zu nehmen«. Kein einziges Wort gegen den Rassismus, nicht ein einziges Wort über Moral und Gerechtigkeit. Doch als ich den Exsoldaten bei der Veranstaltung »Das Schweigen brechen« zuhörte, war ich voller Hoffnung. Diese Generation hat die Pflicht, den Staat zu heilen, in dem sie ihr Leben verbringen will. Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert
Erschienen in Ossietzky 1/2011 |
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