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Sehr lebhaft und munter zeigten sie sich kürzlich eine Woche lang in St. Vith, Kleinstadt in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgien, auf Einladung des ortsansässigen Agora-Theaters zum nunmehr 23. Theaterfest. Angereist waren vor allem Ensembles aus Belgien, Frankreich und Deutschland. Dazu kamen Gruppen aus Belarus, Peru und Neuseeland. Einmal rund um den Erdball – und nichts von Fremdheit. Denn wie unterschiedlich auch immer in Absichten, Arbeitsweisen und künstlerischen Mitteln, ob Menschen- oder Figurentheater, die Zielgruppe eher sechs oder eher sechsundsechzig: Alle Ensembles schienen sich im wesentlichen Punkt einig: die Zuschauer ernst zu nehmen mit wichtigen, lebensnotwendigen Geschichten. Auffallend viele Aufführungen, und zwar solche für Kinder ebenso wie für Erwachsene, thematisierten die strukturelle Gewalt provinzieller Enge, aber auch Widerstand und Aufbruch. Einen Aufbruch in die Weiten des Globus schildert das Ein-Personen-Stück »Road Movie a Bicyclette« der französischen »Compagnie des Mers du Nord«. Es ist die Theatralisierung einer wahren Geschichte: Die 45jährige Arbeiterin Chantal Valéra beginnt plötzlich, mit ihrem Fahrrad die Welt zu bereisen. Die Zuschauer erleben Ausflüge zum Nordkap Europas, durch die Weiten Patagoniens und die lebensfeindliche Wüste Australiens. Der Darstellerin Brigitte Mounier gelingt es, in der Person ihrer Heldin die Komplexität der Welt zu zeigen. Die Wurzeln von Gewalt und Gegengewalt erkundet das derzeit erfolgreichste belgische Jugendstück »Tête à Claques« von Jean Lambert, gespielt von »Les Ateliers de la Colline«: Zwillingsbrüder erzählen einander mit Hilfe eines Dutzends lebensgroßer Puppen die eigene Geschichte: wie sie nach einer schier endlosen Kette von Drangsalierungen, Demütigungen und sozialer Ausgrenzung schließlich zurückschlugen. »Mo and Jess kill Susie« von Gary Henderson, mit dem die neuseeländische »Quartett Theatre Company« gastierte, ist ein eher klassischer Polit-Thriller über die Konflikte zwischen indigener und aus Europa zugewanderter Bevölkerung: Bei einer Demonstration für die Rechte der Ureinwohner entführen zwei Maori-Aktivistinnen eine weiße Polizistin. Stunden um Stunden reiben die drei Frauen einander im gnadenlosen, ihre Lebensumstände und Persönlichkeiten immer mehr erhellenden Streit auf. Die Situation eskaliert, als ein Polizeikommando die Geiselnahme zu beenden sucht. Im Agora-Solostück »Die Rabenfrau« erforscht eine Tochter (Viola Streicher) das Schicksal der ihr unbekannten Mutter, sie stößt auf die Spuren einer Gewalttat. Bilder grenzenloser Weite werden konterkariert mit miefiger Beschränktheit kleinstädtischer Provinz. Ein grandioses Plädoyer des viel zu früh verstorbenen Autors und Regisseurs Marcel Cremer für Freiheit und das Recht auf Anderssein. Erfrischend optimistisch waren die meisten Stücke für kleine Zuschauer. Zum Beispiel in »Ein Schaf fürs Leben« (nach dem gleichnamigen Bilderbuch von Maritgen Matter) vom Theater Marabu aus Bonn: Wolf hat Hunger, Schaf strotzt vor Arglosigkeit – singt, tanzt und ruht so fröhlich in sich selbst, daß Wolf nicht reinzubeißen vermag. Zwei hinreißende Darsteller, viel Phantasie bei einfachsten szenischen Lösungen: eine klare, starke Geschichte vom Entstehen einer Beziehung. Im Clownsstück »Elefanten vergessen nie« der Berliner »Pyromantiker« geht es gar nicht nur lustig zu: Der Weißclown des großen Zirkus Nord haut immerzu August Malimbo vom kleinen Zirkus Süd übers Ohr – bis dieser sich zur Wehr setzt. Da wird es erst einmal ganz schlimm. Doch schließlich kehren beide Clowns gemeinsam die Scherben zusammen und versuchen, den Planeten zu retten. Ein schönes Umweltmärchen von der Arroganz der Mächtigen und dem ungleichen Handel zwischen arm und reich – politische Aufklärung nicht nur für ganz Kleine. Eher melancholisch kommt zunächst das Stück »Der König ohne Reich« des gastgebenden Agora-Theaters daher: Der kleine König hat außer seiner Krone alles verloren. Auf der Suche nach seinem Reich und seinem Namen durchwandert er eine farbenfrohe Kinderwelt und findet Freundschaft und ein Lied. Der bereits todkranke Marcel Cremer hat in seinem letzten Werk eine poetische Absage an Herrschaft und Ausbeutung formuliert: Jeder Mensch ist anders, und doch sind alle gleich.
Erschienen in Ossietzky 25/2010 |
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