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Bezirksbürgermeister Norbert Kopp schreibt im Vorwort, die Anlage sei ein »Leuchtturm der Wissenschaft« und so aufgebaut, »daß alle anzunehmenden Störfälle beherrschbar sind, ohne Auswirkungen auf die Beschäftigten oder gar die umliegenden Anwohner.« Das HZB ergänzt: »Beim Betrieb des Forschungsreaktors entstehen unvermeidbar auch radioaktive Stoffe. Wir haben durch eine Vielzahl von Vorsorgemaßnahmen sichergestellt, daß diese in jeder Betriebsphase des Reaktors sicher eingeschlossen bleiben.« Schön wär’s. Aber: Für diesen Forschungsreaktor hat sich der Betreiber eine hohe Strahlenexposition der Bevölkerung genehmigen lassen, höher als für jedes deutsche Kernkraftwerk. Der Abluftkamin wurde von 30 auf 50 Meter erhöht. Über ihn wird unter anderem das besonders gefährliche Tritium – radioaktiver Wasserstoff – in weit größeren Mengen freigesetzt als von den meisten Atomkraftwerken. Das belegen die letzten Jahresberichte des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU), die die Tritiumbelastung ausweisen. Danach enthielt die Abluft des Berliner Reaktors in den Jahren 2001 bis 2007 zwischen 6,3E10 und 9,5E10 Becquerel Tritium. Das E steht für Exponent. 6,3 E10 sind 6,3 x 1010, also 63.000.000.000. Für das Atomkraftwerk Krümmel dagegen wurden im selben Zeitraum zwischen 2,8E10 und 4,1 E10 Becquerel ausgewiesen. Tritium ist ein Betastrahler, der in alle Organe und direkt in die Gene eindringen kann. Selbst das wegen hoher Leukämiehäufigkeit in die Schlagzeilen gekommene Atomkraftwerk Krümmel leitet mit der Abluft weniger Tritium ab als der Forschungsreaktor. Der Bericht des BMU über das Jahr 2008 enthält auch den Hinweis, daß bei der Auswertung der Luftfilter der Meßstationen in Berlin kleine Mengen Plutonium 239 und 240 ermittelt worden sind. Aber schon die unvorstellbar kleine Menge von einem Millionstel Gramm Plutonium reicht – einmal eingeatmet – aus, tödlichen Lungenkrebs zu erzeugen. Ich wandte mich an die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz und hielt ihr nicht nur die Meßergebnisse des Bundesministeriums vor, sondern auch das Resultat der vom Bundesamt für Strahlenschutz in Auftrag gegebenen, 2007 veröffentlichten Kinderkrebsstudie (KiKK), derzufolge die viel zu hohen Grenzwerte der Strahlenschutzverordnung nicht mehr haltbar sind, und stellte weitere Fragen. Unter anderem wollte ich wissen, wie das Reaktordach gegen Flugzeugabstürze oder Sprengstoffanschläge geschützt ist. Ein Dr. Leps antwortete: »Die Frage geht davon aus, daß es die Aufgabe des Gebäudedaches wäre, einen besonderen Schutz zu gewährleisten. Das ist nicht der Fall.« Und hinsichtlich der Strahlenbelastung: »Die radioaktiven Abgaben mit der Abluft liegen deutlich unter den genehmigten Werten.« Selbst die größtzulässige Zusatzbelastung sei geringer als die Schwankungen in der natürlich verursachten Belastung. Unter diesen Umständen sei es »nicht zielführend, die Schwankungen der tatsächlichen Abgabe zu untersuchen«. Ähnlich erhellend hatte die Berliner Senatsverwaltung in einem atomrechtlichen Erörterungstermin geantwortet: »In diesem Bereich des Restrisikos müssen wir von Annahmen ausgehen, und wir konnten nicht von einer anderen Annahme ausgehen, als daß am Zaun des Reaktorgeländes keine Gefahr eintritt bei allen vorstellbaren Fällen.« Dem Argument von der natürlichen radioaktiven Belastung der Luft ist entgegenzuhalten, daß viele Aktivitäten – von der Urangewinnung bis zum Verschießen großer Mengen uranhaltiger Munition im Rahmen »robuster Friedensmissionen« – es schier unmöglich machen, natürliche und technisch erzeugte radioaktive Belastung noch auseinanderzuhalten. Unterschiedlich ist aber die biologische Wirksamkeit, die gewöhnlich nicht berücksichtigt wird. Die natürliche Strahlenbelastung besteht zu mehr als 80 Prozent aus materieloser Strahlung, die zum größten Teil durch unser natürliches Schutzschild Haut abgewehrt wird. Bei der Kernenergienutzung werden strahlende Materieteilchen freigesetzt, die über Luft, Wasser und Nahrung in den Körper eingebaut werden und dort lebenswichtige Organe aus nächster Nähe bestrahlen. Wenn sich die aus der Kernspaltung resultierenden strahlenden Materieteilchen im Körper festsetzen, kann sich die Radioaktivität dort allmählich auf einen mehrtausendfachen, über die Nahrungskette sogar auf einen millionenfachen Wert anreichern, wenn die radioaktive Verseuchung anhält. Der Hinweis auf genehmigte Werte hilft also nicht bei der Wahrheitsfindung. Die den genehmigten Werten zugrunde liegenden Strahlenschutzvorschriften sind nicht zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung entwickelt worden, sondern um öffentliche Akzeptanz für militärische Programme und die nukleare Industrie zu erzielen. Maßstab für die geltenden Vorschriften sind die Empfehlungen der International Commission on Radiological Protection (ICRP). In ihr sitzen Vertreter des Militärs, der zivilen Atomindustrie und der medizinischen Radiologie. Sie alle eint das unbedingte Interesse, Strahlung zu nutzen und die großen Risiken der Anwendung kleinzureden. Die weltweit aufwendigste und exakteste in der Umgebung von Kernkraftwerken durchgeführte Kinderkrebsstudie erhärtet die von seriösen Wissenschaftlern schon Anfang der 1950er Jahre getroffene Feststellung, daß ionisierende Strahlung auch in kleinsten Dosen Mutationen, Krebs und Mißbildungen auslösen kann. Die von Menschen erzeugte zusätzliche Strahlung stört das über lange Zeiträume gebildete genetische Gleichgewicht. Der unabhängige, wissenschaftlich angesehene Informationsdienst Strahlentelex hält es für erwiesen, daß die für zulässig erachtete Strahlendosis nach amtlicher Vorschrift »generell falsch errechnet« ist. Das ergeben auch die Beobachtungen der Anwohner des Berliner Atomreaktors, die eine erhöhte Krebshäufigkeit in der Nachbarschaft feststellen. Besonders betroffen sind nach den Aussagen einer Kinderärztin die Kinder von MitarbeiterInnen der nuklearen Anlage. Die Studie bestätigt im Grunde genommen nur das, was kritische Wissenschaftler schon bei der Untersuchung des Tschernobyl-Unfalls vom 26. April 1986 festgestellt haben. So ermittelte der Berliner Humangenetiker Professor Karl Sperling in einer wasserdichten Studie neun Monate nach Tschernobyl in West-Berlin eine auf das Fünffache gestiegene Zahl von Neugeborenen mit dem Down-Syndrom. Ähnliche Befunde wurden in Süddeutschland, Schweden und Schottland erhoben. Der frühere HMI-Mitarbeiter Professor Jens Scheer fand einen einmalig starken Anstieg der Säuglingssterblichkeit und einen gravierenden Anstieg allergischer Erkrankungen in der gesamten BRD heraus. Das hinderte die Berliner Strahlenschutzbehörde nicht, zu behaupten, als Folge von Tschernobyl seien in Berlin keine gesundheitlichen Schäden, Mißbildungen und so weiter aufgetreten. Auch Angela Merkel beteuerte in ihrer zeitweiligen Funktion als Bundesumweltministerin, die Strahlenbelastung der BRD durch den Unfall von Tschernobyl sei bedeutungslos. Klärt wenigstens die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf? Fehlanzeige. »Die Weltöffentlichkeit wird nicht etwa vor den Gefahren und Risiken der Atomenergie geschützt, sondern vor der Wahrheit über diese Risiken!«, konstatiert Angelika Claußen, die Vorsitzende des deutschen Zweigs der Internationalen Ärzte-Organisation zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW). Beraten von der ICRP und am Gängelband der von der UN-Organisation zur Förderung der Kernenergie ins Leben gerufenen Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) stellte die WHO zu Tschernobyl keine eigenen Untersuchungen an, wertete bei einer ohnehin dürftigen Datenlage sehr einseitige Studien aus, die wiederum sehr einseitig interpretiert wurden, und kam in einer im September 2005 vorgestellten Studie zu dem Ergebnis, daß infolge der Reaktorkatastrophe nicht mehr als 56 Menschen durch direkte Strahlung ums Leben gekommen seien. Die tatsächlich viel höhere Zahl von Toten – darunter viele Tausende Soldaten und Feuerwehrmänner, die den Brand löschten – schrieb sie zynisch dem ungesunden Lebensstil der Menschen zu. Manche Experten hingegen schätzen, daß die Zahl der Todesopfer in die Hunderttausende geht. Mit den Methoden der Verschleierung des wahren Ausmaßes der Katastrophe hat sich unter anderem der Münchner Strahlenwissenschaftler Professor Edmund Lengfelder auseinandergesetzt – mit erschütternden Ergebnissen. Genetische Schäden treten in vollem Umfang erst ab der dritten Generation auf. Die deutsche Strahlenschutzverordnung hingegen berücksichtigt Erbschäden nur bis zur zweiten Generation. Eine allgemeine Schwächung der körpereignen Abwehrkräfte in nachfolgenden Generationen sowie vermehrtes Auftreten von Zuckerkrankheit, Kurzsichtigkeit, Allergien, frühzeitiger Gefäßverkalkung und Herzinfarkt, rheumatischen Gelenkerkrankungen, bestimmten Formen von Schwachsinn, Kleinwüchsigkeit, Bluthochdruck, Epilepsie und Schuppenflechte, wie sie vom wissenschaftlichen Komitee der Vereinten Nationen für die Atomstrahlung (UNSCEAR) als mögliche Strahlenfolgen angegeben werden, bleiben unberücksichtigt. Einige im Tabak enthalten Stoffe sind allgemein als krebserregend bekannt. Doch die von vielen Wissenschaftlern als bedeutendste Krebsursache erkannte Radioaktivität der im Tabak enthaltenen Alphastrahler Polonium (Po-210) und Plutonium (Pu) wird in der Regel verschwiegen. Das hochradioaktive Po-210 hat eine Halbwertzeit von 138,4 Tagen und kommt in der Natur nur selten vor. Die Aufnahme von etwa 0,1 Mikrogramm kann innerhalb von wenigen Tagen zum Tod führen. Für die Verwendung in der Strahlenchemie, der Radiologie, als Wärmequelle in der Raumfahrt sowie als Zünder für Atomwaffen wird es künstlich in Kernreaktoren durch Bestrahlung von Wismut 209 mit Neutronen hergestellt. Pu läßt sich in seiner natürlichen Form nur in kleinsten Spuren in sehr altem Gestein finden. In großen Mengen entsteht es unvermeidlich in den mit Uran betriebenen Kernkraftwerken und bildet den Ausgangsstoff für Atom- und Wasserstoffbomben. Polonium 210 lagert sich zusammen mit Plutonium besonders gut an etwa 0,3 µ große Staubpartikel in der Luft an. Die Tabakpflanze filtert Partikel dieser Größe durch spezielle Blatthaare aus der Luft. Über das Wurzelwerk nimmt sie zusätzlich im Boden angereicherte radioaktive Substanzen auf. Gründe genug, alle nuklearen Anlagen sofort zu schließen. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung besteht eine staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes, die auch eine Nachbesserungspflicht des Staates umfaßt, wenn einfachrechtliche Schutznormen aufgrund neuerer Erkenntnisse nicht mehr geeignet erscheinen, Gesundheitsgefährdungen sicher auszuschließen. »Geschichte besteht darin, daß sich Systeme als brüchig erweisen und Menschen erkennen, daß sie brüchig sind.« (Robert Jungk)
Erschienen in Ossietzky 24/2010 |
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