Impressum Plattform SoPos |
Schockschwerenot! Der von Ihnen benutzte Internetbrowser stellt Cascading Style Sheets nicht oder - wie Netscape 4 - falsch dar. Unsere Seiten werden somit weder in dem von uns beabsichtigten Layout dargestellt, noch werden Sie diese zufriedenstellend lesen oder navigieren können. Wir empfehlen Ihnen nicht nur für unsere Internet-Seiten, auf einen anderen Browser umzusteigen - z.B. Netscape 6/Mozilla, Opera, konqueror. Wilhelm Raabes ErwartungenWolfgang Beutin Es gibt kaum einen deutschen Dichter, dessen Werk dermaßen mißverstanden, oft bis ins Gegenteil verfälscht worden ist wie das des vor 100 Jahren – am 15. November 1910 – in Braunschweig gestorbenen Wilhelm Raabe. Die NS-Literaturgeschichtsschreibung fingierte, Raabe sei ein »Prophet nationalsozialistischen Gedankenguts« gewesen (Wilhelm Fehse). Franz Hahne (seit 1932 Vorsitzender der Raabe-Gesellschaft) beschlagnahmte den Dichter für die »nordische Rasse« und befand, seine Schriften seien gegen »Weltjudentum« und »russisches Untermenschentum« gewendet. Dem steht zum Beispiel Clara Zetkins Äußerung von 1908 in einem Brief an Raabe entgegen: »Was Sie geschaffen haben, das gehört nach meinem Empfinden und meinem Urteil zu dem Besten, was die deutsche Literatur aufweist.« Erst nach 1945 gelang ein angemessenes, von Verzerrungen und Verfälschungen freies Raabe-Bild, wozu in der Bundesrepublik Forscher wie Karl Hoppe (der die maßgebende Werkausgabe schuf) und Hermann Helmers beitrugen, in der DDR Helmut Richter und andere. Helmers argumentierte, nach heutigen Maßstäben sei der Dichter ein Linksintellektueller. Läßt sich das bestätigen? Was ergibt ein kurzer Blick etwa auf Raabes »Stuttgarter Trilogie«? Das sind drei seiner Romane aus dem Jahrzehnt 1860/70: »Der Hungerpastor«, »Abu Telfan« sowie »Der Schüdderump«. Diese großen Prosawerke stimmen miteinander in ihrer Gedankenwelt überein. Deren organisierendes Zentrum ist der demokratische Gedanke (Helmut Richter). Raabe wußte, daß in seiner Gegenwart die Epoche der Monarchen endete und die Fürsten demnächst gehen mußten. Was in »Abu Telfan« der Kammerherr des Sultans von Indien beim Ritt auf dem Elefanten täglich pflichtgemäß ausruft: »Dieser so große und mächtige Monarch muß sterben, muß sterben, muß sterben«, avisiert den Untergang des monarchischen Prinzips auch in Europa. Was sich durchsetzt, ist die besonnene – man könnte sagen: genuin demokratische – Mentalität aller: »Wohl dem, der seines Menschentums Kraft, Macht und Herrlichkeit kennt und fühlt durch alle Adern und Fibern des Leibes und der Seele! Wohl dem, der stark genug ist, sich nicht zu überheben, und ruhig genug, um zu jeder Stunde dem Nichts in die leeren Augenhöhlen blicken zu können!« Die demokratische Substanz der Romanwelt Raabes erfordert allerdings genaues Lesen. Das muß bei unscheinbaren Fakten anfangen. Der Hungerpastor Unwirrsch trägt nicht zufällig die Vornamen Hans Jakob – wie ein anderer Hans Jakob, französisch: Jean Jacques. Auf ihn spielt Raabe an, zitiert auch aus dessen Werk in Französisch – diese Berufung auf Rousseau gilt einem der Gründerväter der neuzeitlichen Demokratie. Der Chevalier Glaubigern im »Schüdderump« stützt sich als Lehrer bevorzugt auf Comenius, den großen tschechischen Pädagogen, Utopisten und Friedensdenker des Barock. Momentweise kann Glaubigern sich im Gefühl sogar mit Cromwell identifizieren, dem großen englischen Revolutionär. Im »Hungerpastor« bilden den am höchsten geschätzten Typus Mensch die tatkräftigen Befreier. Sie entstammen dem Volk: »Aus der Tiefe steigen die Befreier der Menschheit; und wie die Quellen aus der Tiefe kommen, das Land fruchtbar zu machen, so wird der Acker der Menschheit ewig aus der Tiefe erfrischt.« Zeitgeschichtlich konkret wird dieser Menschen-Typus im Freiheitskämpfer, dessen Existenz ihre Erfüllung in den Revolutionen findet. Zu Raabes Kunst gehört es, diese nicht stets ausdrücklich zu benennen. Über das Revolutionsjahr 1830 schreibt Raabe: »… wo’s wieder anfing, lebendig in der Welt zu werden«. Zu den Leuchtpunkten der Geschichte gehören auch die Befreiung Südamerikas und die Rolle Bolivars. In dunklerer Färbung erscheinen die Konterrevolutionen und nicht zuletzt die Ära der Restauration nach 1815 in Deutschland samt den Demokratenverfolgungen und der romantischen Deutschtümelei: »Es war eine schöne Zeit, als man neunzehn Frühlinge durchlebt hatte und in Kompanie mit den tapfern und treuen deutschen Fürsten und ihren frommen Ministern das neue heilige Reich baute. … O Freiheit, die ich meine – sämtliche Zuchthäuser und Kasernen von Gottes Gnaden verwandelten sich in gotische Dome, und für jeden schwarzen Sammetrock erzog eine deutsche Mutter eine deutsche Jungfrau mit blondem Haar und blauen Augen. … da hatten wir diesen Karlsbader Beschluß des Schicksals dankbarlichst zu akzeptieren ...« Die Adjektive »schön, tapfer, treu, fromm, blond, blau« – nichts als Hohn! Und so der gesamte Passus! Über einen Fabrikbesitzer schreibt Raabe: »Kalt und klar stand der Herr der Erwerbsanstalt als ein unstreitig sehr nützliches Glied der großen menschlichen Gesellschaft inmitten seiner schwarzen, dampfenden, zischenden, ächzenden, knarrenden, geschäftigen Welt.« Dessen Glaubensbekenntnis lautet: »Die Zeit schreitet mächtig fort, und wir Kaufleute und Fabrikanten haben uns wahrhaftig nicht über sie zu beklagen; sie nimmt uns gern mit, wenn wir nur wollen.« Aber der Abstand zwischen arm und reich vergrößert sich: »Da waren die Leute, welche zu Mittag gegessen hatten, und die, welche zuviel zu Mittag gegessen hatten, und die, welche gar nicht zu Mittag gegessen hatten.« Was folgt? »Auch der ärmste Mensch kann zuletzt den Hunger und die Sorge nicht mehr ertragen, und leider macht er dann keine schriftlichen Eingaben an die Behörden, sondern er schlägt mit der Faust an die Tür der Leute, welche noch etwas zu essen haben. … Das Murren des Arbeitervolkes wurde zur Meuterei …« Also eine Proletarierrebellion. Sie endet wie der Weberaufstand 1844: »Aus der nächsten Garnisonstadt rückte natürlich eine Infanteriekompagnie heran, um die Ruhe wiederherzustellen.« Welche Schlüsse zieht Unwirrsch aus dem Vorgang? Verzagt er? Nein: »… was konnte man von solch einem Hungerleider von Hauslehrer anders erwarten, als daß er die Partei der Hungerleider nehme?« Er begreift seine eigene Stellung in der Gesellschaft, findet dafür die Formel: »Ein Proletarier wandelte er unter den Proletariern …« Im »Abu Telfan« legt Raabe dem alten Leutnant Kind die Voraussage in den Mund: »… es wird wohl einmal die Stunde kommen, wo der Auktionator mit dem Hammer auf den Tisch klopft und den ganzen Trödel vor dem ganzen deutschen Volk versteigert. Zwölf Exzellenzen für’n Groschen und die dreizehnte zu! Zwölf Durchlauchten für einen Groschen und die dreizehnte zu! Doch das ist einerlei, da mag auf die Schande bieten, wer’s erlebt …« Wenn Kind fortfährt und von einem Fehler »in allen ihren Rechnungen« spricht und von Vergeßlichkeit, wäre abzuwägen, wessen Rechnungen das sind. Und ist es die Vergeßlichkeit der Fürsten und der Aristokratie? Oder schon diejenige der Bourgeoisie, die den Kleinbürgern, Bauern und Proletariern Versprechungen gemacht hat und weiter machen wird? Im zweiten Falle wäre das Ereignis schon der Vorschein einer proletarischen Revolution, auf den der Dichter zeigt: »… es ist ein Fehler in allen ihren Rechnungen; sie zählen nur sich selber und vergessen stets die Hände, die Fäuste, welche sich von da unten erheben mögen.« Nach der Stuttgarter Trilogie, während des letzten Jahrhundertdrittels, schuf Raabe kritische Prosa, in der er unerhört scharf mit dem Kapitalismus abrechnete. Ihn personifizierte er in seiner Erzählung »Zum Wilden Mann« in dem Schlagetot »Dom Agostin Agonista«, der durch Blutvergießen reich wurde und die Menschenwelt mit Verwüstung überzieht. Der Dichter klagte schroff die vom skrupellosen Industrialismus bewirkte Zerstörung der Natur und der Humanität an (»Pfisters Mühle«, »Meister Autor«) und schilderte eindringlich das Entsetzen des Krieges (am Beispiel des »Siebenjährigen«in dem Roman »Das Odfeld«). Dem Militärkult des deutschen Kaiserreichs setzte er in seinem letzten vollendeten Roman »Hastenbeck« (1899) ein auffällig anderes Vorbild entgegen, wiederum aus dem Siebenjährigen Krieg – den bravourösen Deserteur!
Erschienen in Ossietzky 23/2010 |
This page is hosted by SoPos.org website
<http://www.sopos.org> Contents copyright © 2000-2004; all rights reserved. Impressum: Ossietzky Maintained by webmaster@sopos.org |