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Peter Söhren Was braucht der Mensch?Mit Zahlen bis hinters Komma und für jedes Detail legt nun die »Hartz IV«-Bedarfsrechnung regierungsamtlich fest, was der Mensch monatlich zum Leben braucht. Zum Beispiel: 0,84 Euro für den Kauf von Fahrrädern, 2,05 für Glaswaren, Geschirr und andere Haushaltsgegenstände, 1,22 für Spielwaren und Hobbys. Daß für Zeitungen und Zeitschriften 6,57 Euro angesetzt wurden, nimmt sich erst einmal vergleichsweise großzügig aus. Ist es aber nicht. Der Betrag reicht nicht für die tägliche Bild-Zeitung, obwohl die viel billiger ist als die anderen. Wie soll sich denn da ein Stütze-Empfänger – nehmen wir an: mit Migrationshintergrund – bildungsbeflissen der deutschen Leitkultur nähern? P. S. Aufrufe zum AushungernIn welch einem Land leben wir? Cora Stephan beschreibt es uns: Hier werden »Leistungsträger verachtet und Leistungsempfänger heiliggesprochen«, Zuzug wird attraktiv gemacht, aber »nicht in Arbeit, sondern in das Sozialsystem«. Die Autorin legt uns das in der Welt am Sonntag dar. Einst war sie in der Redaktion des Frankfurter Sponti-Blattes Pflasterstrand tätig, zu dessen Mitarbeitern auch Thomas Schmid gehörte, heute politischer Vordenker der Welt-Gruppe im Springer-Konzern. Sie beklagt die »Hatz« auf Sarrazin, bei der »zivilisatorische Grundwerte auf der Strecke geblieben« seien. Der so bös Gehetzte allerdings äußert sich munter. Im Wirtschaftsmagazin Capital verlangt er nach schmerzhaften materiellen Sanktionen bei »notorischer Integrationsverweigerung«: Die Verweigerer müßten »unter das sozialökonomische Existenzminimum fallen«, also noch unter die »Hartz IV«-Sätze. Damit sie so tief fallen, daß sie nicht mehr existieren können, muß jemand sie schubsen. Sarrazin hat diese Aufgabe übernommen, und Stephan, die Streiterin für die »zivilisatorischen Grundwerte«, hilft ihm dabei. Ihre Aufrufe lassen sich, damit jeder sie versteht, pflasterstrandig ausdrücken: Aushungern, die Alis – und dann ab nach Anatolien! Marja Winken Freiheit wozu?Anläßlich des Einheitsjubiläums haben gut dotierte Persönlichkeiten die jetzt allen zugängliche Freiheit gepriesen. Daß man unter Freiheit Verschiedenes verstehen kann, ist im Brockhaus nachzulesen. Keiner der Festredner hat seine Definition von Freiheit kundgetan. Von Montesquieu, der sich einst mit dem Thema beschäftigt hat, ist die ironische Bemerkung überliefert, russische Bauern hätten unter Freiheit lange Zeit die Befugnis verstanden, lange Bärte zu tragen. Möglicherweise meinte der eine oder andere Festredner in Anbetracht der Erhöhung der »Hartz-IV«-Sätze um monatlich fünf Euro, die Freiheit für die Empfänger bestehe in der Befugnis, lange Gesichter zu machen. Günter Krone DraußenBettelt dich ein armer Mann Klingelt jemand an der Tür, Liegt wer vor dir auf dem Weg, Keiner traut dem andern. Wolfgang Eckert SparpläneIn Leipzig protestieren die Mitglieder des Opernensembles gegen regierungsamtliche Sparpläne: Infolge der darin vorgesehenen Mittelkürzung drohe der Oper eine Zwangspause von sechs Monaten im Jahr, berichtet die Leipziger Volkszeitung. Was denkt da der brave Leser? Die sollen sich mal nicht so haben mit ihrem bißchen Kultur. Schließlich soll auch die Wehrpflicht ausgesetzt werden, damit wir uns von dem dadurch eingesparten Geld mehr moderne Waffen kaufen können. Ohne solche Sparmaßnahmen müßte man womöglich das Kriegführen aussetzen. G. K. Grubes Milliarden-Grube»Ein Widerstandsrecht gegen einen Bahnhofsbau gibt es nicht«, sagte Bahnchef Rüdiger Grube, und so setzt dann die baden-württembergische Landesregierung immer mehr Polizisten ein und gibt ihnen (lebens-)gefährliche Waffen an die Hand. Die Vertreter von »Stuttgart 21« tun alles, um zu siegen, und sei es, daß man die bewaffneten Uniformierten zu Verteidigern der Demokratie erklärt und die zivilen Opfer zu Tätern. Die Furcht von Politikern und Geldleuten vor einer Niederlage ist berechtigt. Nicht vergessen ist der monatelange erfolgreiche Kampf der badisch-württembergischen Bauern, Winzer, Umweltschützer, Studenten, Linken und selbst CDU-Anhänger gegen den vom damaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger geforderten Bau des Kernkraftwerkes Wyhl (»Sonst gehen im Süden die Lichter aus«). Es war der erste große Erfolg der Kernkraftgegner gegen die Atomlobby, dem weitere folgten. Auch davor haben die Spekulanten, die sich vom Umbau der Innenstadt hohe Gewinne erhoffen, Angst: daß das Beispiel Stuttgart 2010 den Verfechtern des Volksentscheids neuen Mut zu neuen Taten gibt. »Der Schiller und der Hegel, der Uhland und der Hauff, das ist bei uns die Regel, das fällt uns gar nicht auf.« Mit diesem leicht arroganten Spruch geben die Schwaben zu verstehen, daß sie denken und schreiben können. Mindestens ebenso gut können sie bekanntlich rechnen. Kein schwäbischer Häuslebauer würde auf Teufel komm raus weiterbauen, wenn ihm klar wird, daß der Plan von Grund auf falsch ist, daß alles viel schwieriger und teurer wird als gedacht und daß das ganze Vorhaben ihm letztlich mehr schaden als nützen würde. Die anfänglich geschätzten Kosten von »Stuttgart 21« sind inzwischen um weitere Milliardenbeträge gestiegen, und sie steigen weiter. Werner René Schwab UnverhältnismäßigNach der Polizeiattacke im Stuttgarter Schloßgarten am 30. September, deren Opfer vor allem Schüler, Frauen und ältere Menschen wurden, haben einige volksverbundene Politiker ihrer »Empörung« nicht anders Ausdruck verleihen können als mit diesem siebzehn Buchstaben verbindenden Wortungeheuer der deutschen Bürokratensprache: unverhältnismäßig. Das sei der Einsatz der Hüter von Gesetz und Ordnung – hier muß das Wörtchen leider mitgedacht werden – gewesen. Die Herren und Damen möchte man gern fragen, was sie denn den Verhältnissen als angemessen angesehen hätten. War das Wasser aus den Werfern nicht genügend erwärmt? Waren die Knüppel zu lang oder zu hart? Besaß das Spray nicht die richtige chemische Mischung? Hinter dem Wortmonster, das Parteinahme für die Demonstranten heuchelt, versteckt sich dürftig das Ja zum Einsatz der Polizei zur Durchsetzung der Staatsmacht gegen den Willen einer Volksmehrheit. Apropos: Verhältnis. Ein nicht zu unterschätzendes Ergebnis haben die Bürger der baden-württembergischen Landeshauptstadt mit ihren Protesten schon erreicht. Sie haben sich über das Verhältnis der Staatsmacht zu »ihren« Bürgern in dem Fall aufgeklärt, daß es ihnen an Folgsamkeit mangelt. Davon waren viele Schwaben selbst sehr überrascht. Insbesondere jene von ihnen, die bisher glaubten, im »Ländle« herrschten ganz eigene und jedenfalls andere Sitten des Umgangs der Staatsmächtigen mit der Bürgerschaft als jenseits der Maultaschengrenzen. So scheint die angemessene Orientierung in den Verhältnissen um sich zu greifen. Kurt Pätzold Einer von vielenWozu schreiben wir Geschichte auf, die große und kleine? Wir tun es für uns selber, zur Orientierung, für die Nachkommen: Seht, so war es einmal. Auch, um einfach zu begreifen, wie das scheinbar Unbegreifliche geschehen konnte: wie ein Junge aus der dörflichen Nachbarschaft zum Täter werden konnte; zu welchen Unmenschlichkeiten wir Menschen imstande sind. Einer, der zu den Handlangern und Durchführern, zu den willigen Vollstreckern gehörte, wurde für seine mörderischen Hilfsdienste im Dezember 1945 in Hameln an der Weser von einem britischen Militärgericht verurteilt und hingerichtet: Wilhelm Dörr aus Merenberg/Oberlahn, aufgewachsen in Em-merichenhain/Westerwald. Von dort soll nach einem deutschen Marschlied der Wind besonders kalt herwehen. Aus dem Westerwald weht nun ein anderer Wind, er kommt aus der Schreibwerkstatt SCHRIFT:gut in Form einer 162 Seiten starken fundierten Recherche über eben jenen Kriegsverbrecher unter dem Titel »Ein Schuß in den Hinterkopf«, geschrieben von zwei Heimatforschern, Lokalhistorikern aus Rennerod und Oberrod/Westerwald, Wolfgang (geb. 1951) und Carsten Gerz (geb. 1985), Vater und Sohn. Sie haben die Biographie eines Täters rekonstruiert, der aus ihrer Region stammte. Er hätte ihr Vater und Großvater sein können. Sie waren zufällig auf ihn gestoßen. Nicht um diesem Wilhelm Dörr ein Denkmal zu setzen, haben sie ihr Buch geschrieben, auch nicht als Ehrenrettung eines »alten Kameraden«. Die Geschichte des »ganz normalen Kriegsverbrechers« Dörr zeigt auf ernüchternde Weise, wie ein Mensch zum Täter heranwächst, willfähriges Instrument eines verbrecherischen Systems wird und in seiner Dummheit unbelehrbar bis zum Galgen bleibt. Den Autoren gelingt es durch die genaue Täterbiographie, nicht nur den Entwicklungsweg Wilhelm Dörrs auszuleuchten, sondern auch die Mißhandlung der Opfer erscheint nun, durch den Perspektivwechsel, in noch schärferem Licht. Die Taten in ihrer banalen Ungeheuerlichkeit, Kälte und Grausamkeit werden einmal anders nachlesbar und sichtbar. Da ist der »fröhliche, unbekümmerte« Dörr, Wilhelm, auf dem Klassenfoto aus dem Jahre 1930, ein »durchaus sympathischer Bursche«, wenn auch »nicht besonders intelligent«; als Schüler 1935 mit schon ernsterem Gesichtsausdruck, noch ein guter Junge. Eintritt in die HJ 1932, mit elf Jahren, da sieht man ihm ja noch nichts an, woher auch. Aber das Binnenklima der Familie war für die spätere kleine Nazi-SS-Karriere günstig: »braunes« Elternhaus, dazu ein Pfarrer, der den Nazis das Wort redete, und ein ebensolcher Lehrer. 1940 meldet Dörr sich freiwillig zur Wehrmacht, wird aber nicht aufgenommen, meldet sich darauf mit Erfolg zur Waffen-SS und wird im Verlauf der nächsten Monate »wegen eines Rheuma-Leidens frontuntauglich geschrieben«. Nach mehreren Lazarettaufenthalten landet er beim 7. SS-Totenkopf-Sturmbann im KZ Oranienburg. Sein SS-Lagerweg (Sturmmann, Rottenführer, Unterscharführer) brachte den Wachmann Dörr bis zu den Leichenbergen von Bergen-Belsen, wo im April 1945 die britische Gefangenschaft die Täterlaufbahn des mittlerweile erst 24 Jahre alten jungen Mannes beendet – selber ein Opfer, aber ein schuldiges. Diese Spurensuche führte Vater und Sohn Gerz nicht nur in etliche Archive, sie forderte ihnen auch ein umfangreiches Akten- und Quellenstudium ab. Die Autoren konnten darüber hinaus auch auf bisher unveröffentlichtes Material zurückgreifen, auf Augenzeugenberichte und das Tagebuch eines Fünfzehnjährigen aus Celle, nicht weit von Bergen-Belsen. Das alles ist im besten Sinne ambitionierte Heimatforschung, die der größeren und professionellen Geschichtsschreibung zuarbeitet. Die Heimatforscher fanden nahezu überall Unterstützung; nur das Niedersächsische Landesarchiv in Wolfenbüttel zeigte wenig Interesse und engagierte sich eher »mäßig«, lassen die Autoren durchblicken und fragen: »Welche Personen sollen 60 Jahre nach der Nazidiktatur mit … Sperrfristen geschützt werden?« Oskar Ansull Carsten Gerz / Wolfgang Gerz: »Ein Schuß in den Hinterkopf. Die Geschichte des Kriegsverbrechers Wilhelm Dörr. Eine Spurensuche«, Schreibwerkstatt SCHRIFT:gut, (Hauptstraße 20, 56479 Westernohe), 164 Seiten. Vorstellung des Buches am 4. November um 19 Uhr im Kreistagssaal in Celle, Trift 26 Apropos Reinhard StreckerReinhard Strecker schimpft gerade mit seinem veralteten Computer, der einen Text nicht korrekt ausdrucken will. Es ist ein Pressetext der Internationalen Liga für Menschenrechte über die Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille 2010. Geehrt wird der seit 1988 in Israel inhaftierte Mordechai Vanunu, ein Atomforscher, der bekannt gemacht hat, daß Israel über die Atombombe verfügt. Strecker, Vorstandsmitglied der Liga, hat die Übersetzung ins Englische übernommen. »Auch an solchen Schrauben mitzudrehen« findet er durchaus sinnvoll. Otto Köhler hat in Ossietzky 20/10 an Streckers Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« erinnert. Strecker erreichte, daß Nazi-Verbrechen nicht am 8. Mai 1960 verjährten – die »Schlußstrich«-Politik der Adenauerzeit erlitt eine Niederlage. Weniger bekannt ist sein langjähriges Engagement für sogenannte Wiedergutmachungsanträge (»das Wort Wiedergutmachung an sich ist eine Beleidigung«) vor allem für osteuropäische Juden. Schon seit 1954 hatte Strecker Lebensgeschichten von Verfolgten aus Osteuropa aufgezeichnet. Wie ein Anwalt oder Untersuchungsrichter im besten Wortsinn ebnete er Nazi-Verfolgten Wege durch den Dschungel der Behörden. Strecker war, obwohl Nicht-Jurist, aufgrund seiner umfassenden Kenntnisse zur »selbständigen Führung von Verfahren« bei den Verwaltungsgerichten zugelassen. In wie vielen Fällen er auf diese Weise half, weiß er selbst nicht mehr. Doch noch heute freut er sich, wenn ihn in Berlin immer mal wieder ein Passant anspricht und seiner Begleitung erläutert: »Bei ihm habe ich Deutsch gelernt, und er hat meinen Prozeß geführt.« Zu Streckers Aktivitäten gehörte daneben die Aussöhnung mit Polen. Seine Tätigkeiten im Vorfeld der »Gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuchrevisionskommission« in den 1970er Jahren hatten ihre große, nachhaltige Wirkung: »Da ist ein ganz dichtes Netz an Vertrauen entstanden.« Mehr dazu in: Berndt/Strecker (Hg.): »Polen: Ein Schauermärchen oder Gehirnwäsche für Generationen«, Rowohlt 1971. Rückblickend nennt Strecker diesen Erfolg als den zweiten wichtigen seiner Arbeit – neben seinen Weichenstellungen für die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit in der BRD. 1972 heuerte Strecker beim Goethe-Institut als Deutschlehrer an. Er leistete dort auch Gewerkschafts- und Betriebsratsarbeit und erreichte die Position des einzigen »Sozialreferenten« beim Goethe-Institut. Die Nazi-Verfolgten aus Osteuropa hatten weiterhin ihre Anlaufstelle, auf die sie vertrauen konnten. Vor 50 Jahren verfaßte Strecker für die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem einen 20seitigen ungeschminkten Text über seine Arbeit und Motive sowie über seine Auseinandersetzungen in »Wildwestdeutschland«. Zur Zeit ziert der Anfang dieser Arbeit eine Schautafel der Ausstellung »Studentenpack – 200 Jahre Studieren in Berlin« in der Humboldt-Universität. Strecker hatte seinen Text völlig vergessen. Jetzt, beim Wieder-Lesen, konnte er ihm nach wie vor zustimmen. Es fällt auf, daß ihm bisher weder akademische noch politische Ehrungen zuteil wurden. Bernhard Wette Bringt Orbán die Roma voran?Der ungarische Regierungschef Orbán hat eine bemerkenswerte Ankündigung gemacht: Ungarn werde, wenn es ab Januar 2011 die Europäische Ratspräsidentschaft übernimmt, die Lebensverhältnisse der Roma zu einem Schwerpunktthema der EU machen. Endlich – ist man versucht zu sagen. Aber dann stellt sich die Frage: Was bedeutet es, wenn gerade Orbán das ankündigt? Worauf will er hinaus, dieser eher rechtsgerichtete Politiker, der bei der Wahl im Frühjahr eine Zwei-Drittel-Mehrheit für seine christlich-konservative Partei erreicht hat, mit der er alle wichtigen Posten im Staat besetzen und alle Gesetze durchbringen kann, die er will, einschließlich einer ganz neuen Verfassung? Was wird er zustande bringen? Humane Lebensverhältnisse für die größte Minderheit Ungarns? Jobs, Bildung und Wohnungen statt Arbeitslosigkeit, Analphabetentum und Elendsquartieren? Bei der Wahl im Frühjahr hat nicht nur die Partei Orbáns einen Erdrutsch-Sieg errungen, neben ihr kam die rechtsradikale Jobbik-Partei auf 13 Prozent der Stimmen. Ihre Erfolge erzielte sie vor allem in Wahlbezirken, in denen viele Roma leben. – und da war noch allgemein in Erinnerung, daß rechtsradikale Ungarn 2008 und 2009 elf Angehörige der Roma-Minderheit erschossen hatten, darunter ein fünf Jahre altes Mädchen. Die »Garden« der Jobbik-Partei terrorisierten Dörfer und Stadtteile, und dieser Terror hält an. Der Vorsitzende dieser Partei trug bei seiner Vereidigung im Parlament ostentativ das Pfeilkreuzler-Symbol, das ungarische Faschisten-Zeichen, und niemand protestierte dagegen. Der Parlamentspräsident schritt nicht ein, auch kein Abgeordneter der Opposition nahm Anstoß. Also, was haben die Roma von solch einem Parlament, solch einer Regierung zu erwarten, die für sie in Europa die Dinge regeln will? Als Mitglied des Kulturausschusses des Bundestages war ich in Ungarn und Serbien. In Belgrad, wohin viele Roma aus dem albanisch dominierten Kosovo geflüchtet sind, fragten wir nach den Lebensverhältnissen der Roma. Lager am Stadtrand und Container-Unterkünfte sind kein gutes Zeichen. Zornig verwies man uns auf die EU-Mitglieder Polen, Slowakei, Ungarn – ob denn die Roma dort besser lebten als in Serbien, fragte man zurück. So gesehen wäre eine länderübergreifende Politik für die Roma und Sinti der Anfang für ein neues Miteinander von Mehrheiten und Minderheiten in ganz unterschiedlichen west- und osteuropäischen Ländern. Bei gutem Willen ist vieles möglich. In Pecs zum Beispiel, der europäischen Kulturhauptstadt 2010 im Süden Ungarns, gibt es ein Roma-Gymnasium. 350 Schüler und Schülerinnen besuchen die Klassen 9 bis 12. »Leider ist es das einzige in ganz Ungarn«, wurde uns gesagt. Was in Pecs geht, müßte doch auch in anderen Städten zu schaffen sein. In Belgrad besteht ein kleines Roma-Museum – in einem früheren Laden im Erdgeschoß eines verkommenen Beton-Hochhauses. Es zeigt Handwerk und Kunsthandwerk der Roma. Ein kleiner, rührender Hinweis auf traditionelle Kreativität. Immerhin findet man also bescheidene Beispiele dafür, wie der Teufelskreis von Vorurteilen und Repressionen zu durchbrechen ist. Aber die große Politik? Warum gibt es keinen europäischen Fond für Bildung und Ausbildung, in allen EU-Ländern geltende Anti-Diskriminierungs-Bestimmungen bei Einstellungen gerade im Staatsdienst, Wohnungsbau-Programme, Förderung der Roma-Kultur? Lukrezia Jochimsen Vertreibung auf polnischIn das Haus manches Deutschen in Schlesien, der nach Kriegsende westwärts ziehen mußte, zogen – wie man weiß – Polen. Und die waren oft – wie die wenigsten hier wissen – ebenfalls Vertriebene. Beispielsweise der Großvater aus Sabrina Janeschs Roman »Katzenberge«. Er kam aus einem Dorf in Galizien, wo Ukrainer und Polen bisher friedlich zusammengelebt hatten, bis ein furchtbares Morden begann – über dessen Ursachen uns die Autorin allerdings nichts mitteilt. Nur der Pole überlebt, der über den Bug fliehen konnte, aber man frage nicht, wie! Schließlich landen die Flüchtlinge in Schlesien. Im Haus, das der Großvater bezieht, hat sich ein Deutscher aufgehängt. Wird es je gelingen, den Spuk des Hauses zu bannen? Großmutter, die zusammen mit anderen Frauen nachgeholt wurde, kennt einige Mittel, und allmählich wird das fremde Haus bewohnbar, heimisch. Später wird auch Nele, die Enkelin, öfter hier sein, die in Deutschland lebt, denn sie hat einen deutschen Vater, der jedoch an den Zauber des Großvaters nicht heranreicht. Dieser weiß und kann alles, ist stark und geheimnisvoll zugleich. Der Roman spielt in der Gegenwart und wechselt locker in die Vergangenheit. Nele ist mittlerweile Journalistin an einer deutschen Zeitung. Nach dem Begräbnis des Großvaters sucht sie nach dessen Vergangenheit und erfährt, welch tragische und brutale Vertreibung er erlitten hat. Die schlesischen Katzenberge werden nie an den Wald in der alten Heimat heranreichen, aber den Ofen kann Großvater nachbauen. Distanz zu den immer häufiger das Dorf besuchenden wohlhabenden Deutschen gehört ebenso zum Heimischwerden in Schlesien wie die Scheu, je wieder in das Land hinter dem Bug zu fahren. Sabrina Janesch, fünfundzwanzigjährige Schriftstellerin, die unter anderem in Krakau Polonistik studiert hat, liebt Bulgakow und Marquez und hat einiges von ihnen gelernt. Unbefangen, genau im Detail und vertraut mit Realem, Geistern und Mythen schildert sie Schicksale ihrer Vorväter. Ihr poetisches Werben um deutsch-polnisches Verständnis ist frei von jeglicher Schulmeisterei und Verbissenheit. Sie erzählt Geschichten, indem sie sich souverän in vergangener Geschichte tummelt. Ein beachtliches Debüt. Christel Berger Sabrina Janesch: »Katzenberge«, Aufbau Verlag, 273 Seiten, 19.95 € Armenische ErzählungenDer vor fünf Jahren erschienenen Auswahl von Erzählungen armenischer Schriftsteller hat die Herausgeberin unter Mitarbeit ihres armenischen Ehemannes, des Wirtschaftswissenschaftlers Sarkis Latchinian, einen wiederum sorgsam kommentierten zweiten Band folgen lassen, in dem zwölf weitere Autoren vorgestellt werden. Die Texte stammen diesmal hauptsächlich aus den 1970er/80er Jahren. Am Anfang stehen schlicht dargebotene poetische Bilder aus der heimatlichen Natur oder aus der Kindheitswelt, in denen armenische Lebensregeln bekräftigt werden. Daran schließen sich Erzählungen von scheinbar verlorenen Existenzen in den Weiten der Welt an, deren Autoren die trotz allem unverlorene, nicht preiszugebende Heimat beschwören und feiern – zum Beispiel über das Armenier-Kind in der Fremde, das zwar den Kilimandscharo in Afrika, nicht aber den Berg der Armenier, den Ararat, kennt, oder über den Anglo-Armenischen Klub in London. Von alledem heben sich durch Thematik und Poetik die nachfolgenden fünf Erzählungen ab, geprägt durch eine Lebenswelt der Autoren, die nicht in der armenischen Diaspora liegt, sondern in Sowjetarmenien. Die emphatischen Bezüge zur großen Volkstragödie – die Massaker und Vertreibungen durch die Türken 1894–96 und 1914/15 – sind den alltäglichen Problemen menschlichen Zusammenlebens gewichen, doch auch hierbei zeigt die Prosa poetische Qualitäten, so R. Howsepians »Nächtliches Wasser«: Reflexionen und psychische Erfahrungen eines älteren Mannes in einer heißen Sommernacht, und W. Pogoshians »Mann und Frau«: der Balkon-Dialog eines Paares in der Ehekrise. In ihrem informativen Nachwort weist die Herausgeberin auf die erfreuliche Tatsache hin, daß der Deutsche Bundestag sich im Jahre 2005 in einem einstimmig gefaßten Beschluß endlich zur deutschen Mitverantwortung für die Verbrechen der Türkei an der armenischen Bevölkerung bekannt hat, ohne sich jedoch mehrheitlich zu deren Einstufung als Genozid durchzuringen. Willi Beitz Adelheid Latchinian (Hg.): »Leben miteinander«, Armenische Erzählungen II, NORA Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide, 147 Seiten,14.90 € FrauensacheDie Fußballnationalmannschaft der Männer hat bei der letzten Weltmeisterschaft den dritten Platz belegt. Sie und ihr Trainer haben dafür allerhöchste Ehrungen durch den Bundespräsidenten erfahren. Die viel schlechter bezahlte Fußballnationalmannschaft der Frauen hat die beiden letzten Weltmeisterschaften gewonnen und ist 2009 zum siebenten Male Europameister geworden. Soll sie sich nächstes Mal auch mit dem dritten Platz begnügen? Darf sie dann gleichermaßen mit allerhöchsten Ehrungen rechnen? Günter Krone Öffentlichkeit schaffen!Die Stiftungen der Grünen, der Linken, der SPD und des DGB gehörten zu den Trägern des Kongresses »Öffentlichkeit und Demokratie« Anfang Oktober in Berlin. In der Abschlußerklärung heißt es: »Wir stehen einer nie gekannten Flut von Information gegenüber. Andererseits unterliegen wirklich wichtige Informationen immer öfter einer Geheimhaltung. Während sich Unternehmen und Staat anstrengen, den ›gläsernen Bürger‹ und den umfassend überwachten Beschäftigten Wirklichkeit werden zu lassen, braucht eine starke Demokratie das Gegenteil: einen gläsernen Staat und eine transparente Wirtschaft. Davon sind wir weit entfernt.« Folgende Forderungen wurden u.a. erhoben: »Journalistinnen und Journalisten stehen in der Verantwortung, Hintergründe und Interessen(konflikte) sichtbar zu machen. Zu den Grundlagen, um diese Aufgabe erfüllen zu können, zählen ausreichende Ressourcen, die sie von Redaktionen, Verlagen und Sendern erhalten müssen. (...) Von fortschreitender Pressekonzentration, lokaler Monopolbildung und den zur Oberflächlichkeit verurteilenden Arbeitsbedingungen ist zu reden (...). Die Gesellschaft muß die Medieninhaber viel stärker in die Pflicht nehmen (u.a. durch Redaktionsstatute, Presserecht, institutionalisierte Pressekritik (...). Wir brauchen eine Renaissance des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens.« Ja: »Keine Demokratie ohne Demokratisierung der Medien«, wie 2008 ein Ossietzky-Sonderheft überschrieben war. Wann werden die drei Parteien und der DGB in diesem Sinne tätig werden? Nehmen wir doch zu ihren Gunsten ein mal an, sie seien wirklich nicht zu bang, sich mit den Eigentümern der zehn großen Medienkonzerne anzulegen... Eckart Spoo
Erschienen in Ossietzky 21/2010 |
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