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Das Geständnis des Kultursenators Reinhard Stuth: »Hätte ich an drei Theatern gespart, dann hätte ich ja drei Häuser geschädigt.« Auf dem Damen-Klo hängt er – mit Fliege – als Plakat, rechtfertigt sich: »Ich habe all meine Zeit und Kraft auf die Vorbereitung der Sparklausur gerichtet, deshalb konnte ich mich in den letzten Tagen noch nicht intensiv mit dem Schauspielhaus beschäftigen.« Der Intendant ist geflohen. Zettel mit einem Offenen Brief an den Senator liegen aus: »Wir sind das Schauspielhaus – Sie auch!« Das Signet des Hauses, der Delfin, hat Zähne bekommen, Haifischzähne. Das neue Stück »Hänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg« ist ein Märchen, um sich die Zähne daran auszubeißen. Regisseur: Volker Lösch (der auch gegen den Abriß des Stuttgarter Bahnhofs kämpft). Akteure: vier Schauspieler, dazu Schüler und Schülerinnen der Gesamtschule Mümmelmannsberg und Mitglieder des Hartz-IV-Chors aus dem »Marat«-Stück. Texte der Brüder Grimm, gemischt mit Interview-Aussagen der Schüler, Eltern, Lehrer. Und eine Prise Hölderlin-Lyrik, versetzt mit Werbezettel- und Seminar-Kauderwelsch. Die Schüler-Schauspieler, dem Publikum ganz nah gerückt, vorn an der Rampe herumzappelnd, stellen sich und ihre Familien vor. Alle wohnen in Mümmelmannsberg. Dieser Hamburger Stadtbezirk, etwas außerhalb, ist eine Welt für sich, aus der viele nicht herauskommen. Hingefläzt vor dem Fernseher die Mutter (Marion Breckwoldt), fett und faul und böse wie im Märchen, zischt: »Ihr seid nicht niedlich« – keine Aufmunterung für den Nachwuchs. Und resigniert: »Wer rechnet, schafft sich keine Kinder an.« Der Lehrer (Achim Buch) bemüht sich, aufopfernd, unermüdlich, vergeblich, etwas zu ändern. Nicht in einem Klassenzimmer, sondern vor einer Katalog-Schrankwand (Bühne: Cary Gayler) hampeln die Halbwüchsigen herum, Chips aus Tüten knackend, eingeengt von allen Seiten. Ein »Indoor-Spielplatz« oder Nachhilfestunden – nicht für diese Kinder. Schon eine Fahrt mit der S-Bahn ist zu teuer. Was sie einmal werden wollen? Von Architekt, Boxer, Banker, Pilot, Manager oder einfach Star ist alles Unerreichbare vertreten. Ein Vater redet auf seinen breit und verstockt dasitzenden Sohn ein, immer aufs neue, schlägt auch mal zu. Der Sohn bleibt stumm. Bis es aus ihm herausbricht, alles das, was er in sich hineinfressen mußte: die immer neuen Bewerbungsversuche, die ständigen Absagen. Wer von Mümmelmannsberg kommt, hat keine Chance. Ein Mädchen mit Kopftuch stellt lakonisch fest: »Wir können nichts ändern an der Welt«, tröstet sich aber: »Hamburg ist so schön«. Nichts ändern? Das Schauspielhaus will uns ein Märchen für Aufsässige bieten. Wie bei Grimm werden die Kinder in den Wald geschickt – hinter die Bühne. Wir sehen eine Szene von heute. Ein Seminar vielleicht. Vier Teilnehmer in Phantasie-Kostümen oder auch im grauen Anzug. Der Anzug sagt: »Wer arbeitet, muß auch mehr haben« und »Wettbewerb macht Spaß«. Nicht nur die Pumps, die ihn charakterisieren sollen (ist das nötig?), erinnern an Westerwelle. Ein anderer (er könnte ein Boxer sein): »Deswegen müssen wir die Minderleister unter uns unterdrücken.« Ein Rap-Tanz der Hänsel und Gretel, rotberockt und blaubehost, zehn links, zehn rechts. Die blonde Hexe, auch sie im roten Rock, ist die Mutter (wieder Breckwoldt), genauso böse. Erst einmal lockt sie die Kinderchen in die bunt glitzernde und blinkende Hexenhaus-Disco. Sogar mit Hölderlin-Worten: »Ein göttlich Wesen ist das Kind« – hier so falsch wie unverständlich. Ihr süßes Säuseln schlägt um in: »Ich schlage euch tot. Ich fresse euch auf.« Vor dem modernen Knusperhäuschen erscheinen die Familien aus den Nobelvierteln, der Chor der Gutsituierten mit ihren behüteten Kindern. Goldene Schleifen verbinden sie – schon von Geburt an. Ein Reigen der Anwalts- und Kaufmannskinder, ein Chor, der von Klamotten spricht: »Gibt´s nur in New York.« Oder »Wir wohnen in Eppendorf, ein Haus in Familienbesitz.« Alle tanzen, goldbeschleift. »Unsere Kinder werden es schaffen, wir kümmern uns um sie. Sie sollen reisen, Europas Kultur kennenlernen.« So singt der Chor. Das Licht wird fahl. Vorn an der Rampe die anderen Eltern und ihre Kinder erzählen von ihrem Leben in Mümmelmannsberg. Krank? Ein Arztbesuch? »Nee, lieber nächstes Quartal.« Die Kinder sind sich oft selbst überlassen. Aber sie lieben ihren Stadtteil, aus dem sie nicht wegkommen. Zwei Herren in Dinnerjacketts begrüßen die Vorsitzende ihrer Stiftung. Auch sie im eleganten Schwarz mit Federn: »Diese Menschen brauchen uns.« Die Vorsitzende (wieder Breckwoldt), gerade aus Bangladesh zurück, zeigt, wie man zeigen kann, daß man selbst etwas für die sozial Schwachen tut: Barfuß tritt sie vor die Stiftungsmitglieder. Ein Schüler soll ausgezeichnet werden. Die Vorsitzende spricht von »genetischer Disposition« und davon, die Kinder »früher separieren« zu wollen. Hauptschulabschluß, das reicht völlig. Schüler wie dieser Murat »können nichts dazu«. Er würde gern Spanisch lernen. Also bekommt er als Geschenk eine Woche Flamenco-Kurs. Er liebt Tiere? Ein Plastik-Delfin wird ihm in die Hand gedrückt. Und, ist das nichts, ein Praktikum im »Futterhaus Billstedt«. Als Bester der Klasse würde er gern Abitur machen, aber: »Du brauchst doch kein Abitur.« Er hat keine Stimme, für ihn wird entschieden – gegen ihn. Sein Name wird falsch geschrieben – es kommt nicht so genau darauf an. Aber die Wohltäter stellen sich ins beste Rampenlicht. Murat wird wie ein Behinderter in einen Rollstuhl gezwängt. Er wirft ihn um. Die Befreiung? Alle kommen wieder auf der Bühne, die dunkel ist, tanzen, stampfen – bekennen sich zu dem Ort, wo sie leben, leben müssen: Mümmelmannsberg. Bewundernswert, wie die Schüler es schaffen, sich zu zeigen, sie selbst zu sein und doch Theater zu spielen. Sich einzufügen in den Chor und individuell zu agieren. Und das auf der großen Bühne. Wie lange noch wird das möglich sein in Hamburg unter diesem grünschwarzen Senat?
Erschienen in Ossietzky 21/2010 |
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