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Als ich gebeten wurde, zur Eröffnung einer Fotoausstellung in Worpswede, die den grauen DDR-Alltag abbildete, ein paar Worte zu sagen, habe ich mich lange gewehrt, denn ich fürchtete, daß ich mit einem geschichtlichen Rückblick heftigen Widerspruch beim konservativen Publikum des Künstlerorts auslösen würde. Schließlich ließ ich mich doch überreden, ins Wespennest zu stechen, und fand überraschend aufmerksame Zuhörer. Da ich nicht als Kunstkenner, sondern als Zeitzeuge sprechen sollte, erzählte ich zunächst, wie ich die DDR kennengelernt und erlebt habe. Um dann auch ein paar Worte als Zeitkritiker zu sagen. Und das hörte sich so an: Jüngere wissen kaum noch, wie es eigentlich dazu gekommen ist, daß es diesen Staat gegeben hat, der nur 40 Jahre alt geworden ist. Vielleicht sind sie in der Schule nur bis zu Adolf Hitler gekommen und wissen gerade noch, daß der Zweite Weltkrieg böse ausgegangen ist. Aber was dann geschah, ist für viele dunkel geblieben. Sie wissen nicht, daß die Siegermächte schon bald nach dem Ende des Krieges so zerstritten waren, daß ein neuer Krieg drohte. Sie wissen nicht, daß die berühmt-berüchtigte Mauer im geteilten Berlin, deren Fall sie heute auch feiern, etwas damit zu tun hatte, daß die Grenze zwischen den verfeindeten Machtblöcken mitten durch das historische deutsche Staatsgebiet lief und nach und nach militärisch gesichert wurde. Daß damit eine Aufteilung Deutschlands zementiert wurde, die ursprünglich nur für eine begrenzte Zeit, nämlich bis zum Abschluß eines Friedensvertrages, gedacht war. Man weiß heute, daß die Moskauer Regierung die Gründung zweier selbständiger deutscher Staaten keineswegs gewünscht hat. Rosa Luxemburgs Ausspruch, daß man den Sozialismus nicht oktroyieren kann, war sicher auch Stalin bekannt. Und darum hätte man das Experiment DDR sicher gern vermieden. Wer von den Jüngeren weiß, daß es Anfang der 50er Jahre mehrere Initiativen der Sowjetunion gegeben hat, Deutschland im Wege freier Wahlen wiederzuvereinigen, was einen Verzicht auf die Installierung eines sozialistischen Gesellschaftsmodells bedeutet hätte. Wobei allerdings zur Bedingung gemacht wurde, daß dieses Deutschland neutral bleiben und nicht in ein gegen die Sowjetunion gerichtetes Militärbündnis einbezogen werden sollte. Aber nur eine Minderheit der Westdeutschen, als deren prominentesten Sprecher ich den späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann nenne, plädierte damals dafür, diese Angebote ernst zu nehmen. Heinemann warb um Verständnis dafür, daß die Sowjetunion kein Interesse daran haben konnte, auch die von ihr besetzten deutschen Gebiete preiszugeben, wenn diese in die militärische Aufrüstung einbezogen würden. Aber Adenauer erklärte die Moskauer Angebote für einen Fetzen Papier. Und die Mehrheit der Westdeutschen wählte den von der damaligen Bundesregierung eingeschlagenen Weg der militärischen Bindung an die Westmächte, der sich zwar als Wirtschaftswunder auszahlte, aber die Wiedervereinigung für die nächsten 40 Jahre unmöglich machte. Nicht nur unter den Jüngeren, sondern gerade auch unter den älteren Zeitgenossen sind bittere Krokodilstränen darüber vergossen worden, daß die ostdeutschen Brüder und Schwestern so lange von uns wohlhabenderen Wessis getrennt leben und Unrecht und Unfreiheit erleiden mußten. Aber wer von ihnen hat sich Gedanken darüber gemacht, wieviel die westdeutsche Politik zur Existenz und zu den Lebensverhältnissen dieses ärmeren ostdeutschen Staates beigetragen hat, der von der im Krieg ausgebluteten und zerstörten Sowjetunion abhängig war, die als politischer und wirtschaftlicher Bündnispartner weit weniger zu bieten hatte als die reichen westlichen Staaten. Für die Sowjetunion war die DDR ein ungeliebtes Kind, das die Reparationen für die ungeheuren von der deutschen Wehrmacht angerichteten Kriegsschäden allein tragen mußte und überhaupt nur gegründet und aufrechterhalten wurde, weil die Westmächte einen deutschen Staat nach ihrem Bilde aus der Taufe gehoben hatten und im Zeichen des kalten Krieges gegen den Osten aufrüsteten. Alles das muß mitbedacht werden, wenn wir heute Bilder von unserem deutschen Nachbarland sehen, die atmosphärisch sehr gelungen den Alltag in all seiner Gestrigkeit eingefangen haben. Sie sollten uns nicht zur Überheblichkeit oder zum Spott verführen. Denn wir sollten beherzigen, was Bertolt Brecht in seinem Gedicht »An die Nachgeborenen« gesagt hat: Ach, wir Zwar gab es höflichen Beifall, aber der konnte dem Text von Brecht gegolten haben. Und so flüchtete ich sicherheitshalber gleich nach meiner Rede, da ich keine Lust hatte, mich in Einzelgesprächen mit den Ablagerungen jahrzehntelanger antikommunistischer Medieneinflüsterung auseinanderzusetzen. Aber zu meiner Überraschung erschien am folgenden Tag die Veranstalterin mit zwei Flaschen Wein und berichtete, daß mein Vortrag großen Beifall gefunden und noch lange diskutiert worden sei. Was mich besonders freute: Jüngere Anwesende hätten gesagt, daß sie an diesem Abend einiges über die Geschichte der DDR hinzugelernt hätten.
Erschienen in Ossietzky 21/2010 |
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