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Im Verlauf des Jubiläumslanglaufes ist vieler, nahezu aller Ereignisse von damals gedacht worden: der Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge, der Großkundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz, der Demonstration auf dem Leipziger Ring, des Falls der Mauer, des Kohl-Besuches in Dresden, der Erstürmung des Ministeriums für Staatssicherheit, der »ersten freien und demokratischen Wahl« zur DDR-Volkskammer (Egon Bahr nannte sie »die schmutzigste Wahl«), der Wirtschafts- und Währungsunion und so weiter. Nur das segensreiche Wirken der Treuhandanstalt wurde weitgehend ausgeblendet, und völlig ungewürdigt blieb die Bundestagssitzung vom 20. September 1990, auf der der »Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands«, der sogenannte Einigungsvertrag, behandelt wurde. Warum diese bedauerliche Gedenkabstinenz? Es war doch eine denkwürdige, stürmische achtstündige Debatte, in deren Ergebnis der Bundestag dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach dessen Artikel 23 zum 3. Oktober 1990 zustimmte, also dem Anschluß. Machte diese Sitzung nicht überaus deutlich, welches schwere Erbe die Bundesrepublik übernahm? Konnte man nicht gerade in dieser Debatte viel über »das Ausmaß der Fäulnis des Regimes« der DDR erfahren, wie es Jürgen Rüttgers feststellte? Auf wirtschaftlichem Gebiet stank diese »Fäulnis« noch mehr zum Himmel, als der damalige parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion wahrgenommen hatte. Nur 14 Tage danach, auf der ersten Sitzung des nunmehr gesamtdeutschen Bundestages im Reichstagsgebäude, mußte der FDP-Grande Otto Graf Lambsdorff zur ostdeutschen »Katastrophenökonomie« feststellen: »Der Sozialismus in der DDR hat eine umweltverseuchte Wirtschaftswüste hinterlassen, die unsere schlechtesten Erwartungen noch übertroffen hat.« Doch nicht in der leicht übertriebenen Diffamierung der DDR ist der Grund dafür zu suchen, daß die historische Bundestagssitzung nicht in den Reigen der Jubiläumsveranstaltungen aufgenommen wurde. Die Verteufelung des ostdeutschen Staates war längst an der Tagesordnung. Offenkundig rührte die Gedenkabstinenz daher, daß die Debatte im Hohen Haus von einem heftigen Schlagabtausch zwischen dem saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine (damals SPD) und dem Autor des Einigungsvertrages, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU), geprägt war, der unterschiedliche Konzepte zur Vereinigung widerspiegelte. Daran lassen sich die »Sieger der Geschichte« und ihre Medien höchst ungern erinnern. Allein schon dieser Umstand rechtfertigt es, wenigstens einige Passagen aus der noch immer aktuellen Rede Lafontaines in Erinnerung zu rufen. Begleitet von wütenden Protestrufen von Abgeordneten der CDU/CSU und FDP sagte er: »Ich muß darauf hinweisen, daß sich die inneren Aspekte der Einheit nicht positiv entwickeln ... Die westdeutsche Wirtschaft boomt. Sie macht riesige Umsätze. In der DDR-Wirtschaft haben wir einen dramatischen Einbruch. Das kann doch wohl nicht die Richtung sein, die am Anfang der deutschen Einheit stehen sollte! ... Es ist viel zu billig, wenn versucht wird, eine Reihe von Entscheidungen, die zu den vorausgesagten Folgen geführt haben, jetzt so zu interpretieren, als seien dies noch die Folgen des ehemaligen Systems ... Die Verantwortung für eine Reihe von Entscheidungen, die in den letzten Monaten und Wochen getroffen worden sind, tragen nicht die ehemaligen Machthaber in der DDR, sondern Sie mit ihrer Mehrheit im Bundestag. Sie sollten sich dieser Verantwortung stellen! ... Sie tragen nach wie vor die Verantwortung für einen Investitionsstau in der DDR und für die Gefahr, daß begangenes Unrecht dadurch geheilt werden soll, daß neues Unrecht geschieht ... Das Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung« ... ist ein entscheidender Fehler gewesen ... Es geht nicht nur um den ökonomischen Aufbau, sondern es geht auch um die soziale Gerechtigkeit... Es ist unglaublich, daß Sie nicht in der Lage sind, statt Arbeitslosigkeit und Nichtstun zu bezahlen, Arbeit zu organisieren ... Wenn es um die Erhaltung des Industriestandortes DDR geht, wird immer klarer, daß wir an einer aktiven Industriepolitik nicht vorbeikommen. Es genügt nicht, nur über Mittelstand zu reden und auf die Kräfte des Marktes zu vertrauen ... Daher plädiere ich dafür, ... zentrale Industriestandorte in der DDR für eine Zeitlang zu erhalten – auch in der Verantwortung des Staates... Ich habe es bedauert, daß der eine oder andere mit der Attitüde aufgetreten ist: Alles im Westen ist bestens, und alles im Osten war weniger gut oder kann nicht übernommen werden... Es war ein schwerer staatspolitischer Fehler zu sagen, niemandem wird es schlechter gehen, vielen aber besser. In der DDR ist die Lage mittlerweile in vielen Bereichen anders... Wenn die Menschen nicht erfahren, daß mit der marktwirtschaftlichen Ordnung soziale Gerechtigkeit verbunden ist, dann glaube ich nicht, daß wir das Einigungswerk weiter gut voranbringen können.« Wie nicht anders zu erwarten, wies Schäuble alle Kritik empört zurück und meinte: »Wenn wir in Deutschland ein Klima der Einheit wollen, dann dürfen wir nicht solche Reden halten, wie es Lafontaine getan hat.« Doch statt auf dessen Argumente einzugehen, warf er ihm vor, »die dynamischen Kräfte einer Sozialen Marktwirtschaft überhaupt nicht einzukalkulieren« und statt Zuversicht Angst zu verbreiten. Als er am Schluß seiner inhaltsarmen, aber pathetischen Rede dazu aufrief, »das Gefühl der Freude und der Dankbarkeit nicht (zu verlieren), weil nur aus dem Gefühl der Freude und Dankbarkeit der Mut zur Zukunft wächst, den wir brauchen, wenn wir die Einheit Deutschlands wirklich vollenden wollen«, erntete er von den Bänken der CDU und FDP lang anhaltenden Beifall. Die SPD-Abgeordneten stimmten – mit Ausnahme Lafontaines, der als Landesministerpräsident kein Stimmrecht besaß – dem so heftig kritisierten Einigungsvertrag zu und in den spontanen Gesang der Nationalhymne ein. Die nationale Woge hatte auch sie erfaßt, und vielleicht glaubten einige von ihnen insgeheim an Schäubles Zukunftsverheißungen. Dieser hatte gelegentlich der Ersten Lesung des Gesetzentwurfes zum Einigungsvertrag Kohls Ankündigung blühender Landschaften in den ostdeutschen Ländern übertroffen und erklärt: »Ich werbe bei den Menschen in der DDR dafür, daß sie Verständnis und Geduld nicht verlieren, daß auch bei uns Wunder nicht über Nacht geschehen. Auch nach der Einführung der DM 1948 und nach der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft hat es ein paar Monate gedauert, bis der Prozeß des Wirtschaftswunders in der Bundesrepublik in Gang kam. Das dauert auch in der DDR ein paar Monate, aber es geht rasch voran.« Inzwischen sind 240 Monate vergangen, und es wird wohl noch »ein paar Monate« dauern, bis das ostdeutsche Wirtschaftswunder beginnt.
Erschienen in Ossietzky 20/2010 |
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