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Wegen des »demographischen Wandels« und des technischen Fortschritts habe man in Zukunft mit massiv steigenden Kosten zu rechnen, darum müsse die Finanzierung des Gesundheitswesens jetzt dringend reformiert werden, argumentiert der Minister. Doch diese Prämissen werden inzwischen sogar schon vom Handelsblatt, das gewöhnlich eher die FDP und die Arbeitgeber unterstützt, ins Reich der Mythen verwiesen. Kritische Geister widersprechen dieser Propaganda seit Jahrzehnten, haben es aber nach wie vor schwer, damit öffentlich durchzukommen, weil es auf dem Markt genügend hochdotierte Professoren als Mietmäuler gibt, die bereit sind, auf zwei Stellen hinter dem Komma auszurechnen, wie hoch der Beitragssatz der Gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2050 sein werde, wenn die »Reform« unterbleibe. In Wahrheit haben sich die Kosten des Gesundheitswesens in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten immer entlang der Steigerung des Bruttosozialprodukts bewegt, sind also nicht »explodiert«, doch gegenteilige Behauptungen sind so weit verbreitet, so fest verankert, daß kaum jemand an der Notwendigkeit der »Reform« zu zweifeln wagt. Eine weitere Prämisse seiner Politik wurde deutlich, als Rösler bei der Vorstellung des Gesetzentwurfs sagte, man habe den bisherigen Mechanismus »mehr Gesundheit bedeutet weniger Beschäftigung« ausgeschaltet. Dahinter steckt die Vorstellung, die »Lohnnebenkosten«, zu denen die Krankenkassenbeiträge zählen, seien ein Hauptgrund für Arbeitsplatzabbau und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Doch nicht nur Gewerkschaften und linke Gesundheitsökonomen, sondern jetzt auch das Handelsblatt rechnen vor, daß die »Lohnzusatzkosten bislang weniger als ein Prozent der Gesamtkosten eines typischen Exportprodukts ausmachen«. 0,98 € von einer mit 54,15 € angesetzten Handwerkerstunde sind es in einem von der Gewerkschaft ver.di gebrachten Beispiel. Vor diesen – von der Bundesregierung ignorierten – Hintergründen wurde nun die »Reform« vorgestellt: Sie besteht im wesentlichen darin, daß der Beitragssatz sowohl der Arbeitnehmer als auch der Arbeitgeber zu den gesetzlichen Krankenkassen im nächsten Jahr um 0,3 Prozentpunkte angehoben wird, so daß die Arbeitgeber 7,3 Prozent und die Arbeitnehmer 8,2 Prozent je Bruttoeinkommen zahlen müssen. Für künftige Ausgabensteigerungen sollen dann allein die Versicherten mit pauschalen Zusatzbeiträgen aufkommen; die früheren paritätischen Beitragspflichten sollen nicht mehr gelten. Für den Fall, daß der durchschnittliche Zusatzbeitrag auf mehr als zwei Prozent des Bruttoeinkommens der Versicherten steigt, ist ein Sozialausgleich vorgesehen. Wenn aber eine Kasse einen viel höheren als den durchschnittlichen Zusatzbeitrag erhebt und der einzelne Versicherte sich dadurch übermäßig belastet fühlt, soll auf diese Weise ein Anreiz entstehen, die Kasse zu wechseln. Und dann haben wir ihn, den segensreichen Wettbewerb! Die Arbeitgeber werden von alledem nicht mehr tangiert sein, nachdem ihr Beitragssatz eingefroren ist. Die Beiträge der Versicherten werden dann doppelt so schnell steigen wie bisher. An der Finanzierung des sozialen Ausgleichs werden die Arbeitgeber nur insoweit beteiligt, als sie Steuern zahlen. Denn die Mittel für diesen Ausgleich will man aus dem Steueraufkommen holen. Die Arbeitgeber werden also langfristig ganz gut bedient – auch wenn sie sich jetzt noch über den Beitragssatz beschweren, der für sie letztmalig erhöht wird. Wer wird noch bedient? Die Geschäftsbedingungen der privaten Versicherungen werden mit der »Reform« verbessert. Daß die Kriterien für eine Kosten-Nutzen-Prüfung neuer Arzneimittel in Zukunft per Rechtsverordnung des Ministeriums festgelegt werden statt zum Beispiel vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, ist direkt aus einem Papier der forschenden Pharmaindustrie abgeschrieben. Man muß das Rad ja nicht neu erfinden! Nebenbei melden dann noch die Süddeutsche und die Frankfurter Allgemeine, ein Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums sehe vor, die Beitragsbemessungsgrenze für die Gesetzliche Krankenkasse im nächsten Jahr erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik zu senken, weil die Wirtschafts- und Finanzkrise zu sinkenden Bruttolöhnen geführt habe. Doch Letzteres spüren die Menschen mit niedrigen Einkommen stärker als diejenigen, die mehr als 3750 € brutto (derzeitige Beitragsbemessungsgrenze) im Monat verdienen. Anstatt die Beitragsbemessungsgrenze und die Versicherungspflichtgrenze massiv zu erhöhen oder gleich alle Einkommen und Einkommensarten zur Beitragszahlung für die Gesetzlichen Krankenkasse heranzuziehen und die solidarischen Momente des jetzigen Finanzierungssystems zu stärken – mit dem Nebeneffekt, daß die Betragssätze um etwa ein Drittel fallen würden –, stellt Dr. Rösler den gesetzlich Versicherten und Arbeitnehmern mit dieser Reform also ein Privatrezept aus. Privat werden wir aus dieser Behandlung nicht mehr rauskommen. Gesellschaftlicher Protest ist angesagt.
Erschienen in Ossietzky 20/2010 |
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