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Jetzt zum Beispiel in einer Theaterkritik: Gelobt wird die Ironie, mit der eine Wiederaufführung des Stückes »Die Sorgen und die Macht« des DDR-Klassikers Peter Hacks die »Utopien von damals« mit der »utopieresistent ernüchterten Gegenwart« kontrastiere. Sind wir utopieresistent? »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« So lautet der erste Satz unseres Grundgesetzes, Eckstein und Fundament des gesamten Verfassungsgebäudes, jeder Änderung durch noch so qualifizierte Parlamentsmehrheiten entzogen. Welch grandiose Utopie! Wir alle wissen, daß die Realität anders ist: Die Würde des Menschen ist antastbar, sie wird Tag für Tag angetastet. Ein Beispiel nur für viele andere: Mehr als eine Million Menschen in Deutschland geben ihre volle Arbeitskraft für einen Lohn her, der nicht das Existenzminimum sichert, bleiben also in entwürdigender Weise auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen. Es wäre ein leichtes, dies gesetzgeberisch zu ändern, aber es geschieht so gut wie nichts. Im Gegenteil, der »Niedriglohnsektor« wird immer größer. Und sobald der »Lohnabstand« zu gering zu werden droht, also der auf Hartz IV angewiesene Dauerarbeitslose nicht deutlich genug noch ärmer ist als ein schlechtbezahlter Arbeitender, ertönt nicht der Ruf nach menschenwürdigen Mindestlöhnen, sondern nach Deckelung der Sozialleistungen. Wir sind wirklich utopieresistent. »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.« So steht es in unserer Verfassung. Welch grandiose Utopie! Wir alle wissen, daß die Realität anders ist. Die Staatsgewalt geht überwiegend von der Großindustrie, den Großbanken und den Wirtschaftsverbänden aus. Sie haben die Parlamente in der Hand und können sie unter Druck setzen, sie wissen sich Abgeordnete und selbst Regierungschefs gefügig zu machen und können inzwischen ihre Lobbyisten sogar in Ministerien entsenden und an Gesetzentwürfen feilen lassen. Mal sind es die Interessen der Automobilindustrie, die profitabel bedient werden, mal die des Hotelgewerbes, mal die der privaten Versicherungswirtschaft, mal – so zuletzt auf besonders kraß gemeinschädliche Weise – die der Atomstromproduzenten. Wir sehen zu und nehmen es hin. Wir sind wirklich beeindruckend utopieresistent. Seit fast zwei Jahrhunderten wird die Utopie gepredigt, daß der Markt schon alles richten werde, wenn man ihn nur ungestört seinen Lauf nehmen läßt; halte man ihn frei von staatlicher Reglementierung, so werde er irgendwie, geleitet von einer »unsichtbaren Hand«, die widerstreitenden Egoismen der Vielen harmonisierend zum Wohle aller ausmitteln. Die Erfahrung lehrt etwas ganz anderes: Erträglich funktioniert hat der »freie« Markt nur dort, wo der Staat regulierend und schützend eingriff; bleibt er sich selbst überlassen, fressen die Großen die Kleinen, und irgendwann kommt es zum Kollaps (siehe »Finanzkrise«), dessen Folgen am härtesten die ohnehin Benachteiligten treffen. Trotzdem jagen die sogenannten Eliten in Politik und Wirtschaft weiter dieser Utopie nach und finden genügend Wähler, die ihnen auf den Leim gehen. Wo bleibt die Utopieresistenz? Seit Beginn der Industrialisierung hängt die westliche Menschheit der Utopie an, die Natur vollständig beherrschen und menschlichen Nutzungsinteressen unterwerfen zu können, um zu grenzenlosem Wachstum des Wohlstandes zu gelangen. Längst ist überdeutlich geworden, daß wir damit an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen, weil die Natur nicht mit sich spaßen läßt, sondern zurückschlägt. Wir wissen, daß die Ressourcen endlich sind, wir wissen, was wir mit unserem Müll anrichten, wir erkennen die Vorboten eines Klimawandels mit katastrophalen Folgen, aber wir können uns nicht aufraffen, von der Utopie des »immer mehr« und »immer weiter so« zu lassen und ein realistisches Verhältnis zur Natur zu gewinnen. Wir sind nicht utopieresistent, wir sind resistent gegen Ernüchterung. Vor 20 Jahren hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer Festrede gesagt, der Realismus bleibe »kümmerlich«, wenn er im »Utopisten« nicht seinen »wahren Helfer« erkenne; der Realist brauche die kühnen, hoffnungsweckenden Entwürfe der Utopiendenker, um sich mit »unerträglichen Zuständen« nicht abzufinden. (Ja, solche Bundespräsidenten gab es einmal; man hält es im Zeitalter der Köhlers und Wulffs kaum mehr für möglich.) Wir sollten aber unterscheiden zwischen solchen Utopien, die wir bewußt durchdenken, an denen wir arbeiten, die wir immer wieder an der Erfahrung überprüfen und korrigieren, und solchen, von denen wir uns gewohnheitsmäßig und bewußtlos treiben lassen. Unterscheiden aber auch zwischen Utopien, die nur auf Konsum, Komfort und Wellness zielen, und solchen, die ein Wachstum an Menschlichkeit, Solidarität und gemeinsam verwirklichter Freiheit für alle verheißen. Zwischen solchen Utopien also, die Bequemlichkeit versprechen, und solchen, die uns etwas abverlangen. Über die Utopien »von damals« fühlen wir uns vorschnell erhaben, ohne genau genug die Gründe erforscht zu haben, warum sie gescheitert sind. Durch gründlicheres Analysieren könnte einiges zu lernen sein.
Erschienen in Ossietzky 20/2010 |
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