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Ich vermute, daß alle über unser Thema mitreden wollen, nachdem in der Bild am Sonntag gestanden hat: »SPD will die Bevölkerung stärker an politischen Entscheidungen beteiligen.« Sankt Gabriel bekämpft unsere Parteien-Oligarchie wie Sankt Georg den Drachen? Vorher werde ich katholisch. In der Klause rede ich im gleichen Stil weiter: »Mehr Demokratie per Volksentscheid? Ja freilich, und Körperscanner erhöhen die Flugsicherheit. Bild würde mit Schlagzeilen für die Todesstrafe erscheinen, und Minister zu Guttenberg hätte beste Chancen, ›Volkskanzler‹ zu werden. Laut Forsa-Umfrage im August hält er mit 61 Punkten den Spitzenplatz auf einer Skala von Null (kein Vertrauen) bis Hundert (sehr großes Vertrauen). Oder der hiesige Spießbürger besorgt sich bei anhaltendem Trend zum Geistigen vielleicht die Piefke-Abfüllung Château Merkel-Wowereit, serviert mit Steffen-Seibert-Sülze an Pofalla-Keksen.« Nachbar Paul möchte versachlichen. »Wichtig ist die Bildung. Wenn die Leute gut informiert sind, entscheiden sie auch vernünftig.« – »Ja, wenn sie informiert sind! Du bist vielleicht naiv!« kontert Anke und weist spöttisch in einem Atemzug auf ARD-Tagesschau, ZDF-heute und Springerpresse hin. »Gute Information ohne demokratisierte Medien, wo gibt’s denn sowas? Außerdem blockiert schon die Angst vor Arbeitslosigkeit viele Hirne!« Volksentscheide in Deutschland: Die Meinungen changieren von unbedarftem Positivismus zu ablehnendem Sarkasmus. Ist es borniert oder einfach realistisch, wenn wir die Mehrheit der Stimmbürger zwischen Pisastudie und Spaßgesellschaft orten? Ruedi wirft ein, der Gedanke an Basisdemokratie in Deutschland wecke im Ausland gemischte Gefühle. Prompt erinnert Nachbar Günter spitz an das in der Schweiz per Volksentscheid durchgesetzte Minarett-Verbot: »Wann diktiert Vernunft und wann Emotion das Ergebnis einer Volksabstimmung? Wie sicher schützen Erfahrung und Tradition vor Fehlentscheiden?« Ruedi beißt nicht an, sondern schildert lächelnd den jüngsten Einfall des Berner Abgeordneten Dominique Baettig, die schweizerische Bundesverfassung so zu ändern, daß folgende Gebiete einen Beitritt zur Eidgenossenschaft beantragen könnten: Baden-Württemberg (D), Vorarlberg (A), Elsaß (F), Aosta (I), Jura (F), Bozen (I), Savoyen (F), Varese und Como (I). Gelächter, Händeklatschen. Alle reden durcheinander. Träumerisch überlege ich, meinen Wohnsitz nach Konstanz am Bodensee zu verlegen. Ruedi holt mich in die Realität zurück: Baettig sei nur ein Hinterbänkler, berüchtigt wegen seines Rechtsdralls, dummer Sprüche und exzessiver Jagdleidenschaft. Seine Schnapsidee sei trotzdem mehr als nationalistische Aufschneiderei. »Ihr lacht und leidet doch unter eurer total abgehobenen Politiker-Kaste. Unser Demokratiemodell liegt vielen Nachbarvölkern nahe, stimmt’s nicht? In Vorarlberg und in Savoyen werden ständig Forderungen nach Annäherung an die Schweiz erhoben.« Jetzt beflügelt die Simpelei »Wir werden Schweizer und kriegen Demokratie« die Phantasie im Laubenpieperklub. Wolf, ein nach Brasilien Ausgewanderter und deshalb seltener Holstein-Besucher, fragt: »Wurde die Erweiterung der Schweiz um etliche süddeutsche Regionen nicht schon zur Reformationszeit bedacht?« Man müsse mal unter »Schweiz nach Zwingli und Calvin« nachschlagen. »Aber: Wenn Baden-Württemberg beiträte, wäre die alte Eidgenossenschaft überstimmt. Elf Millionen Einwohner hat das ›Ländle‹ und erzielt 20 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung.« Wolf gibt sich dann gnädig gegenüber Ruedi: Nicht das komplette Baden-Württemberg würde er abstoßen, sondern »nur ein paar Landkreise, in denen man hauptsächlich CDU wählt und das schönste Alemannisch spricht. Ruedi, ihr braucht dann keine Dolmetscher. Wir wissen ja: Die Schwaben können alles, nur kein Hochdeutsch.« Der Stammtisch wird zum Ideenquell: »Die Schweiz könnte Südtirol übernehmen. Die Leute dort versteht eh keiner, jedes Dorf redet anders.« – »Und den Lago di Como samt Umland kauft die Schweiz zusätzlich und bezahlt in Raten mit dem Urlaubsgeld, das man uns Deutschen dort abknöpft!« Anke bittet Ruedi vergnügt, »diese sachdienlichen Vorschläge Herrn Nationalrat Baettig zu unterbreiten.« Wolf mahnt unsern Züricher: »Spekulier jetzt bloß nicht, wie die Schweiz das Wallis abstoßen könnte, nur weil du den Baettig loswerden willst! Der Typ bleibt Schweizer, bis wir eingemeindet sind! Auch wenn er gelegentlich einen Halbmond vom Minarett schießt wie einstens der Tell das Fallobst vom Kopf seines Walter!« Alle lachen. Ruedi aber holt theatralisch einen Zettel mit Zahlen einer deutschlandweiten Umfrage des Internet-Magazins Telepolis heraus und trägt vor: »Auf die Frage: ›Eidgenossenschaft statt Europäische Union?‹ antworteten fünf Prozent: ›Ja – weil ich den Franken als stabile Währung schätze und Angst vor der Euro-Inflation habe‹. 45 Prozent sagten ›Ja – weil die EU die Demokratie weggefressen hat und es in der Schweiz viel direkte davon gibt‹. 18 Prozent sagen ›Ja – weil ich dann ein Gewehr bekomme, das ich zuhause aufbewahren darf und gegen Vuvuzelas einsetzen kann.‹ – Den Rest erspar ich euch, aber das Wallis bekommt Ihr geschenkt!« Mit großer Geste steckt Ruedi seinen Zettel wieder ein und verkündet in gemütlichem Schwyzerdütsch (Züricher Version): »Under üs gseit: Di ganzi EU isch nanid riiff für de Bitritt zu de Schwiiz!«
Erschienen in Ossietzky 18/2010 |
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