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Gietinger schreibt: »Leute, die sich als Autokritiker ausgeben, gibt es ganz viele. Aber das sind meist falsche Fuffziger. Man erkennt sie daran, daß sie in jeder Diskussion, in der ein bißchen am Autolack gekratzt wird, den Satz einbauen: ›Ich will das Auto ja nicht verteufeln, aber ...‹ Ich aber sage: ›Es wird endlich Zeit, das Auto zu verteufeln!‹« Nein, antworte ich, der Rezensent, im Verteufeln werden wir die Bild-Zeitung niemals übertreffen können, auf diese Konkurrenz dürfen wir uns gar nicht erst einlassen. Wir müssen tapfer aufklären: Wahrheiten aussprechen und verbreiten – wie es Gietinger in seinem Buch in vorbildlicher Weise tut. Ich fahre, während ich dies schreibe, nach einigen Strandtagen an der Ostsee mit der Usedomer Bäderbahn nach Züssow, wo ich wenige Minuten später an dem selben Bahnsteig in den Intercity nach Berlin umsteigen werde. Neben dem Bahngleis verläuft die Bundesstraße, die zwischen Ahlbeck und Wolgast alle Badeorte verbindet. Sie ist voller Autos, die nicht vorankommen. Ein einziger Stau. Wem nützt dieser sich selbst blockierende Autoverkehr – außer der Automobil-, der Straßenbau- und der Mineralölindustrie? Die UBB fährt pünktlich alle halbe Stunde und könnte auch alle 20 und zehn Minuten fahren, und sie könnte auch schneller fahren, wenn überall ein zweites Gleis verlegt würde. Usedom könnte genauso autofrei gemacht werden wie Spiekeroog, man würde mehr Ruhe, mehr Sicherheit gewinnen, den Energieverbrauch, die Abgasmengen und die Klimavergiftung reduzieren. Warum nicht? Was hindert uns daran. Gietinger: »Wir irren motorisiert herum, weil wir das als Freiheit verstehen. Aber es ist das Gegenteil davon, eine Sucht.« Ich habe seit mehr als 20 Jahren nicht mehr am Steuer eines Autos gesessen, aber gern und ohne jeden Skrupel lasse ich mich gelegentlich im Taxi chauffieren, wenn keine Bus- oder Bahnhaltestelle in der Nähe ist. Niemals reichen meine Taxiquittungen auch nur im entferntesten an die Kosten eines eigenen Autos heran. Einige Jahre nach meinem Verzicht auf das eigene Auto berichtete ich den Lesern der Frankfurter Rundschau über meine Erfahrungen als Korrespondent in einem ausgedehnten Bundesland – vor allem daß ich trotz vieler Streckenstillegungen und anderer Einschränkungen im Bahnverkehr insgesamt keine Zeit verlor, sondern eher gewann, denn Zeit am Steuer war immer verlorene Zeit gewesen. Im Zug dagegen kann ich lesen, schreiben, mich ausruhen. Und wie war es mir gelungen, mich von der Sucht zu befreien? Ähnlich wie ich vorher auch von der Nikotinsucht losgekommen war: von einem Tag auf den anderen – damals durch den einfachen Entschluß, andere und mich selbst nicht mehr mit meinem Qualm zu belästigen, morgens nicht mehr mit verqualmtem Kopf aufzuwachen, mir nicht mutwillig schwere Krankheiten zuzuziehen und meinen Kindern nicht als hilflos Süchtiger, als schlechtes Vorbild zu begegnen. Inzwischen, so kann Gietinger nun feststellen, wird zumindest an vielen öffentlichen Orten nicht mehr geraucht. Als »selbsternannter Anti-Drogen-Beauftragter«, wie er sich nennt, arbeitet er darauf hin, daß »mit den Rauchern nun auch noch die Autofahrer draußen bleiben müssen«. Gegen die Sucht fordert er die Kennzeichnung der Auto mit Aufklebern wie »Autofahren ist tödlich!«, »Autofahren verursacht Krebs!«, »Ich schade mir und der Umwelt!« Jede Werbung für Autos müsse wie die für Heroin und Kokain verboten werden. In Quiz-Sendungen des Fernsehens dürften keine Autos mehr als Preise ausgesetzt werden. Gietínger empfiehlt auch die Gründung von Selbsthilfegruppen (Anonyme Autler), in denen man versucht, die Sucht aus dem eigenen Innern zu bekämpfen. Nicht zuletzt klärt Gietinger über die Drogenbarone (die Auto- und Ölkonzerne) und die Dealer (solche wie den »Autokanzler« Schröder) auf. Am überzeugendsten erscheinen mir die Passagen des Buches, in denen Gietinger zeigt, wie schön sich das Leben in einer Welt ohne Autos entwickeln würde (aber einen Taxidienst mit Solarfahrzeugen will auch er zulassen sowie motorisierte Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst). Er schildert diese Welt am Beispiel seiner Stadt Frankfurt am Main und schwärmt ganz realistisch von einem schon innerhalb weniger Jahre erreichbaren Dorado der Urbanität, wo sich »alle Menschen – und vor allem auch die Kinder – frei und ungehindert bewegen können«. Seine schönste Hoffnung neben der vielleicht noch möglichen Verhinderung der Klimakatastrophe: Kriege werden unwahrscheinlicher, wenn der Öldurst der Automotoren nicht mehr gestillt werden muß. Den weiterhin Auto-Süchtigen aber gönnt er »Motodrome, in denen sie sich nach Lust und Laune (und für viel Geld) totfahren können«. Als Sarkasmus mag der Haß fortleben. Übrigens: Der Autohasser hat auch eine eigene Sicht auf die »Wende« vor 20 Jahren. Gietinger, der der DDR immer kritisch gegenübergestanden hat, schreibt: »Die DDRler hatten ihre Fesseln abgelegt und praktizierten sofort die freie Fahrt, die freien Bürgern offensichtlich zusteht. Wieso diese Revolution dann aber friedlich gewesen sein soll, habe ich nie verstanden … Ströme von Blut flossen. Die Zahl der tödlichen Unfälle stieg auf das Dreifache.« In den Jahren bis 2002, als sich die Todesrate auf den ostdeutschen Straßen normalisierte, haben nach seinen Angaben »etwa 14.410 Menschen diese Maueröffnungsmobilität nicht überlebt« – im Verhältnis zu den Menschen, die an der deutschdeutschen Grenze erschossen worden waren, »eine ganze Menge«. Dazu der ehemalige Präsident der Bundesanstalt für Straßenwesen, Heinrich Praxenthaler: »Ohne es auszusprechen, sind manche der Meinung, daß bei einem historischen Aufbruch solcher Wucht auch im Verkehrsgeschehen ein hoher Preis zu zahlen ist.« Gietinger fügt hinzu: »Übrigens war die Pro-Kopf-Schadstoffbelastung der DDR trotz der stinkenden Trabis (…) deutlich niedriger als in der BRD. Erst die Höchstmotorisierung durch die Vereinigung brachte den Verschmutzungsgrad auf Westniveau.« Welcher Festredner wird in den nächsten Wochen solche Einzelheiten erwähnen? Klaus Gietinger: »Totalschaden – Das Autohasserbuch«, Westend Verlag, 315 Seiten, 14.95 €
Erschienen in Ossietzky 18/2010 |
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