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Er gebot über sieben Bühnen und stieg 1931 mit seiner Berufung zum Künstlerischen Leiter der Bayreuther Festspiele zum mächtigsten Theaterleiter der Weimarer Republik auf. Als Generalintendant hintertrieb Tietjen die avantgardistischen Aufführungen der von Otto Klemperer geleiteten Krolloper und betrieb deren Schließung im Jahre 1931. Damit wurde er interessant für die erstarkenden Nazis, deren »Kampfbund für deutsche Kultur« eine Kampagne gegen das »rötlich-jüdische Kunstinstitut« führte und für »rein deutsche Kultur« kämpfte. Über das überzeugte NSDAP-Mitglied Winifred Wagner, die Witwe von Richard Wagners Sohn Siegfried, knüpfte Tietjen Beziehungen zu Hitler und Göring. Winifred Wagner empfahl ihn als Generalintendanten auch im anvisierten Dritten Reich. Er zögerte nicht, sich den kommenden Machthabern anzudienen. Er stellte einen aktiven Nazi ein, der binnen kurzem eine mehr als hundertköpfige Betriebszelle der Nazipartei in den Staatstheatern aufbaute. Mit Görings Versprechen, daß er im Falle des Sieges der NSDAP sein Amt behalten werde, ging Tietjen endgültig ins Lager der Nazis über. Heer und von Haken weisen an Quellen nach, wie Tietjen sich mitschuldig machte an der Unterwerfung der Preußischen Staatstheater unter die Nazis, die mit einem riesigen administrativen Aufwand auf die Vertreibung der Juden hinwirkten – wie im Staatsdienst, an den Universitäten und im Gesundheitswesen, so auch in der Kunst. Ohne Scheu bediente sich Tietjen einer von der Nazibetriebszelle erstellten »Judenliste«, um in Absprache mit Göring und dem Operndirektor Wilhelm Furtwängler bereits im Juni 1933 die Mehrzahl der jüdischen Künstler und Arbeiter zu entlassen. »Verhandelt« wurde allein die zeitweilige Weiterbeschäftigung des Dirigenten Leo Blech sowie der Bassisten Emanuel List und Alexander Kipnis, nicht aus Menschlichkeit, sondern aus Prestigegründen. Andere, wie die hochbetagte Altistin Therese Rothauser, gab Tietjen ohne Bedenken der Deportation preis. Die Autoren stellen fest: »Tietjen war kein Mitglied der NSDAP, aber auch nicht deren Mitläufer. Er ist, als es ihm an der Zeit erschien, aus einem System ausgestiegen und in ein anderes, barbarischeres, eingetreten ... Der Preis für seine zweite Karriere war der Verrat an guten Freunden und an einem freien Theater, die Auslieferung von jüdischen und politisch mißliebigen Kollegen an den NS-Terrorapparat und der unbeschwerte Umgang mit den Mördern.« Der Unterschied: Mitläufer kommen ins Rutschen. Überläufer treffen eine Entscheidung. Es war kein Opportunismus, sondern Seitenwechsel zu den Nazis. Tietjen wußte, daß eine Machtfülle wie die seine nur im Bündnis mit dem Staat Bestand hatte. Seine Affinität zum Führerprinzip hat ihm das Bündnis mit den Nazis leicht und die von ihnen geforderten kriminellen Maßnahmen akzeptabel gemacht. Nach der Befreiung, als Tietjen sich vor der Entnazifizierungskommission des Berliner Magistrats verantworten mußte, zimmerte er sich eine Legende als Beschützer der Juden, als Widerstandskämpfer und als Mann des 20. Juli. Die Autoren belegen, wie es Tietjen durch geschicktes Taktieren gelang, trotz der anfänglichen Verurteilung durch die Alliierten wieder als Intendant der Deutschen Oper (1948 bis 1955) und der Hamburgischen Staatsoper (1956 bis 1959) eingesetzt zu werden. Wie war es möglich, fragen die Autoren, daß Tietjen zahlreiche Entlastungszeugen präsentieren konnte, daß aber kaum Belastungszeugen zur Verfügung standen? Sie zitieren einen Prozeßbeobachter: Die Opfer waren zu humanistisch gesinnt, um als Rächer auftreten zu wollen. Wie bei vielen anderen Tätern war es der Zerfall der Antihitlerkoalition, der Tietjen ungeschoren davonkommen ließ. In der bundesdeutschen Gesellschaft stand er als Ehrenmann da. »Aus dem Solitär«, schreiben Heer und von Haken, »war einer der Abermillionen Deutschen geworden, die nichts gesehen, nichts gehört, nichts verbrochen, aber schon immer widerstanden hatten.« Wie hunderttausende Spitzenkräfte konnte er seine Karriere fortsetzen. Das Bild Heinz Tietjens rundet sich in der Rezeption bedeutender deutscher Kulturinstitute, welche die Nachfolge der Preußischen Staatstheater pflegen. Heer und von Haken verweisen auf eine 1997 erschienene Geschichte der Staatsoper Unter den Linden, in der eine Widerstandsgruppe Tietjen-Popitz erfunden wurde, von der kein Forscher je gehört hat. Dort wird sogar behauptet, Tietjen habe sich geweigert, Juden zu entlassen. Und 2008 fabulieren die Autoren einer Chronik des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt (»Apollos Tempel«) von erzwungener Gleichschaltung und heimlichem Widerstand. Wie weit die Künstler mit der Kulturpolitik der Nazis verflochten waren, bleibt unterbelichtet. Erklärt werden dort die Lücken mit der Vernichtung des Archivs der Staatstheater durch Bomben. Heer und von Haken hingegen fanden umfangreiches Schriftgut im Geheimen Preußischen Staatsarchiv, in dem die Akten der zuständigen Ministerien bewahrt werden. »Löcher mit Nebelbänken« nennen Heer und von Haken solche Geschichtsschreibung, die dem deutschen Heldenleben eine antifaschistische Biographie andichtet. Und jetzt schreibt Micha Aster, der 2007 »Das Reichsorchester«, die Geschichte der Berliner Philharmoniker in der Nazizeit, herausgegeben hat (Ossietzky 21/07), im Auftrag der Staatsoper Unter den Linden – von Daniel Barenboim mit Vorschußlorbeeren bedacht – die Geschichte des Hauses. Erscheinen soll das Werk im Frühherbst 2010.
Erschienen in Ossietzky 15/2010 |
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