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Um nicht herunterzufallen, klammert sich der Arzt am Gürtel des Fahrers fest. Am frühen Morgen schaut Hida nach der Patientin und will ihr eine Spritze geben, als er am wolkenlosen Himmel des 6. August 1945 sieht, wie sich in ungewöhnlicher Höhe ein B-29-Bomber Hiroshima nähert. Er denkt, es handelt sich um einen der üblichen Erkundungsflüge, und beachtet das Flugzeug nicht weiter. Gerade hat er die Ampulle geöffnet, da, so erinnert er sich, »traf mich ein greller Blitz, der mich fast blendete. Eine Hitzewelle schlug mir ins Gesicht. Ich weiß nicht mehr, ob ich der Patientin die Spritze noch gab. Ich warf mich auf den Boden, bedeckte mein Gesicht instinktiv mit den Händen und versuchte, ins Freie zu kriechen. ›Feuer‹, dachte ich, doch ich sah durch meine Finger nur den blauen Himmel. In den Baumwipfeln über der Hütte bewegte sich nichts. Es war totenstill. ›Habe ich geträumt?‹ Ich schaute nach Hiroshima hinüber. Da sah ich einen riesigen Feuerring, der die ganze Stadt umfaßte. Eine gewaltige weiße Wolke stieg aus dem Zentrum. Sie wurde immer größer, und in ihrem Innern schwoll ein gigantischer Feuerball an. Unter dem Feuerball erschien eine schwarze Wolke, verbreitete sich über die Stadt, kroch an den Bergen entlang und zog sich über das Ohtatal in Richtung Hesaka, Wälder, Wege, Reisfelder, Bauernhöfe und Häuser einhüllend. Ein orkanartiger Sturm wirbelte den Staub und Dreck in der Stadt empor ... Eine lodernde Säule schoß gen Himmel. Sie wuchs zu einer riesigen Wolke an, die den Himmel durchstoßen zu wollen schien. Plötzlich wurde mir eiskalt, Angst kroch in mir hoch. ›Was ist das?‹« Die Abwürfe der Atombomben auf Hiroshima und drei Tage später auf Nagasaki haben die Welt verändert – mit furchtbaren Folgen. Seither lebt die Menschheit mit atomaren Waffensystemen und mit Kernkraftwerken. Die Bedrohung geht einher mit Namen wie Harrisburg und Tschernobyl auf der einen, Hiroshima und Nagasaki auf der anderen Seite. Und sie will nicht enden, ist in den Rüstungs- wie in den Abrüstungsanstrengungen gegenwärtig und setzt sich in Mißtrauen und Angst fort. Ursprünglich plante die US-Führung, die erste Atombombe über Berlin zu zünden. Um das NS-Regime zu besiegen, mußte Deutschland zerstört werden. Doch man war noch nicht so weit und warf statt dessen Phospor-Bomben auf Dresden. Eine noch schrecklichere Waffe – Napalm – kam über Japan zum Einsatz. Dennoch ließ sich die japanische Führung, verblendet von den anfänglichen Kriegserfolgen und – wie ihr deutscher Verbündeter – im Glauben an die eigene Unbesiegbarkeit verharrend, nicht zur Aufgabe bewegen. Die US-Militärs schätzten, daß bei einer Invasion eine Million Soldaten ihr Leben verlieren würden, und wählten die Bombe. Der kriegerische Wahnsinn, von den Deutschen 1939 vom Zaun gebrochen, war grenzen- und mitleidlos: Um so viele Menschen wie möglich zu retten, brachte man Tod und Verderben über zwei bis dahin blühende Städte. Mit dem Abwurf der Bombe stellten die USA zugleich ihre militärische Überlegenheit unter Beweis; sie wollten den sowjetischen Staatschef Josef Stalin einschüchtern, der auf der Potsdamer Konferenz größere Ansprüche angemeldet und angekündigt hatte, sich am Krieg gegen Japan zu beteiligen. Im Jahre 1949 verfügten die USA über 50 Atombomben, die Sowjetunion besaß nur eine. Heute gibt es Zehntausende von Atomsprengköpfen auf der Welt. Auch in Deutschland, in Büchel in der Eifel, lagern noch immer Atombomben. Deutsche Piloten mit Bundeswehr-Tornados üben – illegal – den Einsatz von Atombomben. Elke Koller vom Initiativkreis gegen Atomwaffen reichte, unterstützt von der deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung von Juristen gegen Atomwaffen, im April 2010 beim Verwaltungsgericht Berlin Klage ein. Sie weiß seit 1996, daß in unmittelbarer Nähe ihrer beim Fliegerhorst Büchen in Rheinland-Pfalz gelegenen Wohnung Atomwaffen lagern. Deren Zahl ist geheim, es sollen etwa zwanzig sein. Die Bundesregierung schweigt, statt alles dafür zu tun, daß die Atomwaffen von deutschem Boden verschwinden. Sie – wie auch Teile der Opposition – stellt sich der friedfertigen Mehrheit der Deutschen entgegen, die offenbar mehr aus den Erfahrungen der beiden Weltkriege gelernt hat als die Regierenden. Obwohl nahezu siebzig Prozent der deutschen Bevölkerung gegen den Krieg in Afghanistan sind, halten die sogenannten Volksvertreter es offenbar für nützlich, daß Deutschland überall dort auf der Welt, wo es Händel gibt, die Pflicht habe, »Verantwortung« zu übernehmen, wie sie es nennen. Die Dominanz des militärischen Denkens über zivile Optionen – Kennzeichen der deutschen Politik von 1871 bis 1945 – hält an. Verschleiert wird das mit Worten, die dem Denken in Gewaltkategorien einen humanen Anstrich verleihen. Und Kanzlerin Merkel verkündet ähnlich wie vorher der frühere Verteidigungsminister Peter Struck, am Hindukusch werde die »deutsche Sicherheit« verteidigt. Wahr ist hingegen: Seit dem Sommer 2009 ist die Bundeswehr dazu übergegangen, gegen die Taliban einen Angriffskrieg zu führen oder ihn vorzubereiten. Und sogleich bewegen sich die Befürworter solcher Kampfeinsätze in den Bahnen jener deutschen Kriegsideologen, die mit ihrer einseitigen Fixierung auf den machtpolitischen Gedanken zum Schrecken für ganz Europa wurden. Nach wie vor hängen sie dem Irrglauben an, mit Waffen Probleme lösen und die Welt befrieden zu können. Das Gegenteil ist, wie ein Blick auf die zwei von Deutschland verursachten Weltkriege zeigt, der Fall. Die Kanzlerin wirbt immerzu für ihre Kriegsbereitschaft und fordert gesellschaftlichen Rückhalt fürs Militär: »Wir können von unseren Soldaten nicht Tapferkeit erwarten, wenn uns selbst der Mut fehlt, uns zu dem zu bekennen, was wir beschlossen haben.« Und: »Alle Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, verdienen unsere Solidarität und unser Mitgefühl.« Mit solch verharmlosenden Worten und allgemeinen Floskeln über Angst, Mut, Tapferkeit, Dank und Hochachtung täuscht Merkel über die Schrecken und Grausamkeit des Krieges hinweg und verdrängt die Erfahrung, daß der Krieg, einmal losgetreten, kein Gebot kennt und Tod und Verderben bringt. Es kommt darauf an, den Krieg weder als »ultima ratio« noch als Normalfall zu begreifen, sondern ihn als Mittel der Politik zu bekämpfen und auszurotten. Erst wenn es so weit ist, wird auch die Bedrohung unseres Erdballs durch Atombomben gebannt sein. Hiroshima, Nagasaki, die schmerzlichen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und die Toten in Afghanistan mahnen, die Ächtung und Abschaffung der Atomwaffen in aller Welt, die Einstellung aller Kernwaffenversuche, die allgemeine Abrüstung, den Stopp der Waffenexporte und den sofortigen Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan zu fordern. Von einer atomwaffenfreien Welt ist die Menschheit nach wie vor meilenweit entfernt. Wer an Barack Obamas Versprechen, eine Welt ohne Atomwaffen zu schaffen, geglaubt hat, sieht sich bitter enttäuscht. Im Frühjahr 2010 hat die New Yorker Konferenz zur Überprüfung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages keine konkreten Schritte zu einer weltweiten Verminderung des nuklearen Potentials vereinbart und lediglich zu dem mehr als mageren Resultat geführt, daß die Atomwaffenstaaten im Jahre 2014 über ihre bis dahin erfolgten Abrüstungsmaßnahmen Rechenschaft ablegen. Bestürzend ist auch, daß das Abschlußdokument die »friedliche Nutzung der Kernenergie« zum non plus ultra einer Politik erklärt, die – dank der Atomkraft – erfolgreich die Armut überwinde, die Umwelt schütze, der Gesundheit diene und so weiter. Der Bock als Gärtner. Je mehr Mächte und Staaten über Atomwaffen verfügen, desto größer die Gefahr ihrer Anwendung. Mit den Folgen, unter denen die Opfer danach und bis heute zu leiden haben, hat sich der inzwischen 93jährige Shuntaro Hida Zeit seines Lebens intensiv wie kaum ein anderer beschäftigt; das zeigt auch seine Studie über die »Burabura«, die Atombombenkrankheit (»Die physischen und medizinischen Wirkungen auf die Opfer der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki aus der Sicht eines Mediziners«). Hoffentlich wird man auf seine Erfahrungen nie zurückgreifen müssen. Wer weiter mit der Bombe leben will, dem sei das, was Hida dazu schreibt, nachdrücklich empfohlen. Daß die derzeit Herrschenden ihre Macht- und Militärpolitik aufgeben, wird vermutlich nicht ohne den Druck der Straße gelingen, also der friedliebenden Mehrheit des Volkes. Shuntaro Hida »Der Tag, an dem Hiroshima verschwand – Erinnerungen eines japanischen Militärarztes«, Donat Verlag, 128 Seiten, 12.80 €
Erschienen in Ossietzky 15/2010 |
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