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Aus knapp vier Metern Entfernung erlebt er Adolf Hitler: Im braunen Hemd und Knickerbockern steht der bei einer Rede breitbeinig auf dem Dach einer Limousine. Im Gegensatz zu vielen Umstehenden, die den Wahlkämpfer frenetisch bejubeln, findet der Schüler dessen Aufmachung und Gesten lächerlich. Und als der Redner zum Abschluß die Hand zu dem von den italienischen Faschisten abgeschauten Gruß hebt, erkennt der Junge einen feuchtdunklen Fleck unterm Arm. Der Anblick bestärkt ihn in seinem Urteil: Der da ist »kein Prophet und kein Held«; der ist nicht nur bei Bekleidung und Gestik, sondern auch beim Schwitzen ganz gewöhnlich. Aus der Zeitung erfährt Flieg beim Frühstück, daß die Reichswehr vorhat, deutsche Offiziere als Instrukteure der Kuomintang-Armee nach China zu entsenden. Nachdem ihm während des Unterrichts der Reim »exportieren – Offizieren« in den Sinn gekommen ist, verfaßt er unter der Schulbank ein paar bissige Verse. Unter anderem heißt es da: »Wir exportieren! / Wir exportieren! / Wir machen Export in Offizieren! / Wir machen Export! / Wir machen Export! / Das Kriegsspiel ist ein gesunder Sport. // Die Herren exportieren deutsches Wesen / zu den Chinesen! / Zu den Chinesen! ... // Sie haben uns einen Krieg verloren. / Satt haben sie ihn noch nicht – / wie sie am Frieden der Völker bohren! / Aus Deutschland kommt das Licht! / Patrioten! / Zollfrei Fabrikanten von Toten...« Das Gedicht »Exportgeschäft« schließt mit der sarkastischen Frage: »Was tun wir denn Böses? / Wir vertreten doch nur / die deutsche Kultur.« Während einer Freistunde bringt der 18jährige seine Zeilen, nicht ohne Zweifel, zur Redaktion der Chemnitzer Volksstimme. Zu seiner Freude wird das Gedicht angenommen, er erhält sogar ein Honorar dafür. Der erste eigene Text in einer Zeitung gedruckt und von Tausenden Menschen gelesen! Ein herrlicher Triumph – könnte man meinen. Doch im September 1931 kommen antimilitaristische Verse bei vielen Deutschen schlecht an. In deren Augen hat da ein »Jud« den »deutschen Offizier« und die »deutsche Ehre« in den Dreck gezogen. In der Schule wird Helmut von Mitschülern haßerfüllt zusammengeschlagen. Und im großen Saal einer Gaststätte findet gar eine öffentliche Versammlung zum »Fall Flieg« statt, zu der so viele Leute strömen, daß die Veranstaltung wegen Überfüllung geschlossen wird. Tenor der Reden: So einer muß der Schule verwiesen werden und darf kein deutsches Abitur machen! Und die nationalistischen Reaktionäre erreichen ihr Ziel. Zumindest in Sachsen. Erst im fernen Berlin ist schließlich eine Schule bereit, dem angehenden Abiturienten eine Chance zum Schulabschluß zu geben. Dort läßt er einzelnen Zeitschriften und Zeitungen, darunter Berlin am Morgen und Welt am Abend, wiederum eigene Texte zukommen. Auch in der Redaktion der Weltbühne wird er vorstellig, übergibt dem Herausgeber Carl von Ossietzky »ein paar Verse«, und der ist nach Angaben des Autors »freundlich genug, sie zu lesen und in seiner Zeitschrift zu veröffentlichen«. Else Flieg, die als Mutter offenbar ahnt, daß bei ihrem Sohn das inzwischen begonnene Studium gegenüber der Schriftstellerei ins Hintertreffen zu geraten droht, reist sorgenvoll von Chemnitz nach Berlin und sucht Ossietzky mit der Frage auf, ob ihr Helmut denn genügend Talent für ein Schriftstellerdasein habe. Nach dem Gespräch scheint sie einigermaßen beruhigt heimgekehrt zu sein, wie der Autor später erzählt. Daß Helmut Flieg und Carl von Ossietzky sich 1932 in den Redaktionsräumen nur ein einziges Mal begegnet sind, liegt an der deutschen Justiz: Der Weltbühne-Herausgeber ist von Mai bis Dezember in Berlin-Tegel inhaftiert, weil er die verbotene heimliche Aufrüstung der Reichswehr publik gemacht hat. Nach der Haftentlassung bleiben nur noch wenige Wochen, bis die inzwischen in Deutschland im Rahmen einer Koalition regierenden Nazis den Reichstagsbrand zum Vorwand für ihre Menschenjagd auf alle bekannten Andersdenkenden nehmen. Ossietzky wird eingesperrt und brutal mißhandelt. Flieg gelingt die Flucht über die Berge in die Tschechoslowakei. Wie nachhaltig der junge Autor die Begegnung mit dem Herausgeber der Weltbühne empfunden hat, zeigt das Eingangszitat. Es ist einer Rede entnommen, die er fast 70 Jahre später anläßlich des 100jährigen Stiftungsjubiläums des Friedensnobelpreises bei der Konferenz »War and Peace« in Tromsø auf Englisch gehalten hat, wenige Monate vor seinem Tod. Helmut Flieg – der Name sagt heute kaum jemandem etwas. Das liegt an den Nazis. Um seine Angehörigen in Deutschland nicht durch Nachrichten aus dem Exil zu gefährden, gab er sich – wie zahlreiche andere deutsche Emigranten damals – notgedrungen einen neuen Namen: Stefan Heym. Der in vielen Ländern gelesene Schriftsteller und Journalist ist manchen Zeitgenossen außerdem als würdiger Alterspräsident des Deutschen Bundestages in Erinnerung. Auskunft über sein Leben geben Stefan Heyms Bücher »Nachruf« und »Offene Worte in eigener Sache«, denen obige Zitate entnommen sind. Der Auszug aus dem Gedicht »Exportgeschäft« folgt dem Wortlaut auf www.exil-archiv.de
Erschienen in Ossietzky 12/2010 |
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