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Die Wende 1989/90 wurde vom deutschen Kapital als befreiender Dammbruch verstanden, weil in deren Folge die profithemmende, durch die Existenz der realsozialistischen Staaten erzwungene Rücksichtnahme auf das Gemeinwohl nach vierzig Jahren überflüssig geworden schien. Seitdem wird bei einem speziellen Thema in einem nie zuvor erlebten Ausmaß gelogen: beim Begründen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Und das kam so. Die Vermögenden dieses Landes, die sich selbst als Elite verstehen, wollten nach Wegfall der von den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges auferlegten Fesseln mit der zurückgewonnenen vollen Souveränität wieder unbefangen die Streitkräfte in ihre traditionelle Rolle einsetzen: zur Absicherung ihrer ökonomischen Interessen, wie es die herrschende Klasse der Verbündeten in NATO und EU in ungebrochener historischer Kontinuität vormachte, immer neidisch beäugt von ihrem vierzig Jahre lang gestutzten deutschen Pendant. Hinzu kam der Druck der NATO-Führungsmacht, gefällig verpackt in den Euphemismus von »Partnership in Leadership«. So wurde denn unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer in den Führungsetagen der Bundeswehr und des Verteidigungsministeriums intensiv über neue Aufgaben für das Militär nachgedacht, dem so urplötzlich der Feind abhanden gekommen war. Das Ergebnis waren die ersten Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992, deren Kernüberlegungen zur militärischen Absicherung von Wirtschaftsinteressen auf einem Papier des späteren Generalinspekteurs und danach Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses, Klaus Naumann, beruhen. Nunmehr galt es, dieses Vorhaben über die Hürde zu hieven, die in Gestalt des Grundgesetzes den machtpolitischen Ambitionen im Wege stand: eine Verfassung, die, anders als bei den Verbündeten, den Auftrag der Armee strikt auf Verteidigung beschränkt. Der langjährige Redakteur für Sicherheitspolitik der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Karl Feldmeyer, hat – im Zusammenhang mit dem Irakkrieg und dem von US-Seite auf die Bundesregierung ausgeübten Druck – dieses etwas andere deutsche Verhältnis zu Militäreinsätzen so formuliert: »Was andernorts als ›präemptive Intervention‹ bewertet werden mag, kann sich in den Augen der Deutschen als Angriff ausnehmen, und den verbieten UN-Charta und Grundgesetz ... Für diese Haltung brauchen sich die Deutschen nicht zu entschuldigen, schon gar nicht bei ihren Verbündeten, die einst Opfer deutscher Angriffe waren« (FAZ v. 23.11.2002). Erschwerend kam hinzu, daß die Bevölkerung offensichtlich aus den geschichtlichen Brüchen unseres Landes gelernt hat: Eine stetig wachsende Mehrheit der Deutschen steht Einsätzen der Bundeswehr kritisch bis ablehnend gegenüber, sofern diese Geist oder Buchstaben des Grundgesetzes zuwiderlaufen. Das Dilemma für die Politische Klasse war offensichtlich. Hier der Druck des Kapitals, seine Verwertungsbedingungen notfalls mit Hilfe des Militärs zu optimieren, dort glasklare entgegenstehende Bestimmungen des Grundgesetzes, das noch dazu in seinem Kernartikel 20 politisches Handeln außerhalb des Rechts untersagt. Der Ausweg wurde gefunden durch einen Griff in die Strategie- und Taktikkiste militärischer Führer: Tarnen und Täuschen. Zunächst wurde die Öffentlichkeit behutsam mit kleinen, aber bald größer werdenden Einsätzen unter UN-Mandaten auf die neuen Zeiten vorbereitet. Nach der Beteiligung der Marine am Embargo gegen Jugoslawien in der Adria (1992), dem Feldlazarett in Kambodscha (1992), der Entsendung einer Logistikbrigade nach Somalia (1993), den Beteiligungen am Luftkrieg über Bosnien mit Tornado-Aufklärern (1995) und an der Besatzungstruppe SFOR/IFOR in Bosnien-Herzegowina nach dem Abkommen von Dayton (1996) war das Terrain bestellt. Der letzte Schritt zur Zerschlagung Jugoslawiens war mühsamer: Die Lostrennung des Kosovo von Serbien mit dem Luftkrieg von 1999 erfolgte unter Bruch der UNO-Charta, war jedoch eine notwendige Voraussetzung für die EU- und NATO-Osterweiterung. Da das Volk für Völkerrechtsverbrechen kein Verständnis hat, log die rot-grüne Bundesregierung unter Mitwirkung der Mainstream-Medien die Aggression in eine »humanitäre Intervention« zur Verhinderung eines Völkermordes um. Dem konnte der Bürger nichts entgegensetzen. Denn über die vertraulichen Lagebeurteilungen der zuständigen Ministerien, die die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Kosovo vor den NATO-Bombardements als Bürgerkrieg einstuften, an dessen Grausamkeiten beide Seiten gleichermaßen beteiligt waren, bewahrten Verteidigungsausschuß, Auswärtiger Ausschuß und die Fraktionsführungen Stillschweigen. Die Begründungen für die jeweiligen Mandatsverlängerungen des Afghanistaneinsatzes orientieren sich an diesem damals erfolgreichen Täuschungsmuster. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Die Wirkung läßt massiv nach. Rund zwei Drittel der Deutschen fordern inzwischen ein Ende des Bundeswehreinsatzes am Hindukusch. Köhlers Interview beim Rückflug vom Truppenbesuch in Kundus drohte nun, das Lügengebäude auch beim verbliebenen Drittel zum Einsturz zu bringen, obwohl der Deutschlandfunk sein Möglichstes tat, durch Weglassen wesentlicher Passagen die Wirkung abzumildern. Zwar hatte der Bundespräsident lediglich wiedergegeben, was in allen nationalen, NATO- und EU-Strategiedokumenten nachzulesen ist. Aber genau dies war in den Augen seiner Kritiker aus Regierung und ehemaliger Regierung ein Kardinalfehler. Denn die Täuschungsstrategen verlassen sich darauf, daß sich nur Wenige der Mühe unterziehen, einen Blick in Weißbücher, Verteidigungspolitische Richtlinien oder Bündnisdokumente zu werfen. Folgerichtig klangen ihre Rettungsversuche in den folgenden Tagen so, als wäre am 23. Mai 2009 ein Debiler im Amt bestätigt worden. Kostprobe: »Ich glaube, der Bundespräsident hat sich hier etwas mißverständlich ausgedrückt.« (Rupert Polenz, CDU, 27.5.2010 im Deutschlandfunk) Aber hat Köhler wirklich wegen der von Panik getriebenen Kritik aus den eigenen Reihen seinen Rücktritt erklärt? Schon seine Körpersprache bei der Pressekonferenz deutete eher darauf hin, daß dieser Schritt der Endpunkt einer längeren Entwicklung war. Vergessen wir beim derzeitigen Zustand der Eurozone nicht, daß der Finanzfachmann Köhler, von 1990 bis 1993 Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, damals gegen heftige französische Widerstände zwei Entscheidungen mitgeprägt hat, die der Europäischen Union die Geldpolitik der Deutschen Bundesbank verordneten: den Vertrag von Maastricht und die Europäische Währungsunion. Mit den nunmehr französisch/italienisch geprägten Entscheidungen des EU-Gipfels vom 8./9. Mai 2010 – Errichtung eines Garantieschirms von 750 Milliarden Euro und eine gegen den Widerstand des Bundesbankchefs Axel Weber beschlossene Monetarisierung von Staatsschulden (deren Aufkauf mit neu geschöpftem Geld) durch die Europäische Zentralbank – wurden Turbulenzen vorprogrammiert, die durch die vom Bundeskabinett am 7. Juni 2010 beschlossenen Kürzungen ausgelöst werden können, aber auch durch die beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Klagen gegen das Rettungspaket für Griechenland sowie die des CSU-Abgeordneten Peter Gauweiler gegen das vom Bundestag am 22. Mai 2010 beschlossene »Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus«. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß sich Köhler mehrfach geweigert hat, Gesetze zu unterzeichnen, deren Verfassungskonformität noch nicht feststand, daß das Bundesverfassungsgericht in den letzen Jahren etliche Gesetze als nicht verfassungskonform zurückgewiesen und in seinem Urteil vom 30. Juni 2009 gegen den Lissabonvertrag der »Entstaatlichung der Bundesrepublik Deutschland« (so der Bonner Staatsrechtler Christian Hillgruber) Grenzen gesetzt hat, worauf Gauweiler seine Klage stützt. Köhlers Rede zur Amtseinführung des neuen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 2010 kann stellenweise durchaus als Warnung und Menetekel für die anwesende Bundeskanzlerin interpretiert werden. Unüberbrückbare Differenzen über den Umgang mit der Krise der Eurozone zwischen dem Fachmann und der Kanzlerin als Rücktrittsgrund? Es könnte auch ganz anders sein. Das Rätsel ist bisher nicht gelöst, noch tappen wir im Dunkeln.
Erschienen in Ossietzky 12/2010 |
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