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In Hannover und dann auch in anderen Städten klebten hunderttausende Autofahrer rote Punkte hinter die Wagenscheibe und zeigten damit ihre Bereitschaft, unentgeltlich Fahrgäste mitzunehmen. Straßenbahnen und Busse sollten leer bleiben, solange der Stadtrat die Fahrpreiserhöhung nicht zurücknahm. Die Botschaft war nicht nur: Die öffentlichen Verkehrsmittel müssen für alle bezahlbar bleiben, sondern auch: Dein Auto ist nicht für Dich allein da. Kittners FrühwerkSeit nunmehr fünf Jahrzehnten leidet die politische und wirtschaftliche Orthodoxie so sehr unter Dietrich Kittner und seiner entlarvenden Satire, daß sie ein strenges, konsequent durchgehaltenes Auftrittsverbot im Fernsehen gegen ihn erwirkte. Glücklicherweise können all jene, die sich zumindest gelegentlich gern mal zum Selbstdenken verführen lassen, auf eine beachtliche Anzahl von Kittner-Büchern, -Schallplatten und -Filmen zurückgreifen. Vor einigen Wochen ist in der edition logischer garten in einer limitierten Auflage von 500 numerierten und vom Künstler signierten Exemplaren die CD-Box »Progressive Nostalgie – Die frühen Jahre« zum Preis von 49.50 Euro erschienen. Auf fünf CDs mit einer Gesamtspielzeit von fast sechs Stunden finden sich größtenteils bisher unveröffentlichte Aufnahmen von Texten, die geradezu beängstigend aktuell geblieben sind. Die Ursache der Aktualität liegt darin, daß Kittner mit unbestechlichem analytischem Verstand und scharfen Witz bestimmende Merkmale der Kapitalherrschaft kenntlich macht. Logischerweise veralten solche Texte nicht, solange es uns nicht endlich gelingt, auch und gerade die Wirtschaft zu demokratisieren. Vorlagen dazu gibt es genug, zum Beispiel das Aalener Programm der CDU von 1947 Gero A. Schwalb Ich lernte Kittner als Unterstützer unserer Berliner AMOK-Aktionen in den 90er Jahren kennen. Das »Anti-Militärische Ober-Jubel-Komitee« rief mit Hilfe der Erich-Mühsam-Gesellschaft und vieler weiterer Helfer, darunter Künstler und Gewerkschafter, zu einer Parade unter dem Motto »Das Volk lacht das Militär aus« auf. Dietrich Kittner wirkte gratis mit, denn wir hatten kein Geld. Solche Solidaritätsauftritte waren für ihn niemals kostenlos – sie gingen auf seine Kosten, auf Kosten seiner Gesundheit und seiner Familie. Zum Schluß eines Konzerts ließ er, nachdem er sich die Lunge aus dem Leib gesungen hatte, wie bei jedem Auftritt seine Mütze herumgehen: Er sammelte für »Milch für Cubas Kinder«. Ein guter Mensch. Oft erzählt Kittner am Ende eines Kabarettprogramms von seinem Onkel, der ihm vor 1945 auf einer Bahnfahrt vom Zug aus KZ-Häftlinge zeigte, nach 1945 aber angeblich von nichts gewußt hatte. Der kleine Dietrich sagt ihm: Aber du hast doch damals ... – und wupps fängt er sich eine Ohrfeige ein. Eine von der Sorte, die wir alle, die Linke wurden, irgendwann bekommen haben. Meine Lieblingsgeschichte ist die von seinem Auftritt in einem westdeutschen Bierzelt. Nebenan versammelte Christdemokraten hören seine Texte und kommen herüber, um sich über die »kommunistische Propaganda« zu beschweren. »So, so«, fragt Kittner auf der Bühne, »Sie sind also dagegen, daß das Eigentum allen dienen soll? Sie wollen nicht, daß Grund und Boden vergesellschaftet, unsoziale Banken und Kapitalisten enteignet werden können?« Er zitiert, ohne die Quelle anzugeben, die Enteignungsparagraphen aus dem Grundgesetz. Prompt wollen ihn die Blödiane wegen verfassungsfeindlicher Tendenzen anzeigen. Da lacht man, aber es bleibt die Wut, daß solche Banausen die politische Macht haben. Ein Sympathisant verhilft ihm zu den Akten, die »Verfassungsschutz« und politische Kriminalpolizei über ihn gesammelt haben. Die mehr als 80 sogenannten Erkenntnisse, die er darin findet, sind durchweg Beobachtungen legaler, demokratischer Auftritte und Initiativen. Ernst Albrecht dagegen, der frühere Manager einer hannoverschen Keks-Fabrik, Vater der in den Uradel hineinverheirateten heutigen Bundessozialministerin Ursula von der Leyen, der 14 Jahre lang Ministerpräsident von Niedersachsen war und gern Bundeskanzler und später Bundespräsident geworden wäre, schrieb damals das philosophische Werk »Der Staat«, worin er, strikt gegen das Grundgesetz, dafür warb, bei der Bekämpfung des Terrorismus die Folter als Waffe nicht auszuschließen. Kittner sorgte für weite Verbreitung dieses Albrecht-Zitats. Am Ende hatte der Ministerpräsident keine Chance mehr, Präsidentschaftskandidat zu werden. Politisch angeschlagen mußte er sogar den Bau der geplanten äußerst gefährlichen nuklearen Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben absagen. Albrechts Nachfolger in Hannover wurde leider Gerhard Schröder – und das ist wohl die größte Leidensgeschichte des langjährigen SPD-Mitglieds Kittner. Kann man ermessen, was es bedeutet, wenn politische Freunde zu Sozialkillern werden und gar zu Kriegsverbrechern? Aber Kittner ließ nicht vom Glauben an die Vernunft des Volkes ab und hörte nicht auf, seine Zuhörer und Leser aufzuklären. Seinem »Kriegstagebuch« aus dem Jahre 1999 über die NATO-Aggression gegen Jugoslawien entnehme ich noch heute immer wieder heilsame Informationen und Einsichten, zum Beispiel über serbische Massaker, von denen jeder zu wissen glaubt, die es aber nie gegeben hat. Um all das zu sagen und zu singen, was wir unbedingt noch wissen sollten, müßte Dietrich Kittner wohl 100 Jahre alt werden.
Erschienen in Ossietzky 11/2010 |
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