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Die 99 historischen Fragmente sind längst geschrieben und publiziert, nun gibt’s regelmäßig »Nachworte«, fast jeden Montag neu. »Das hat schon Schopenhauer so gehalten«, erklärt Zwerenz. »Das habe ich für mich genutzt, und ich schätze, es werden 99 Nachworte – wenn ich es erlebe!«. Wir sind aktuell bei Nachwort Nummer 26 (»Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller«; ganz nach unten scrollen!), und der Autor feiert am 3. Juni seinen 85. Geburtstag. Auf sein Alter kommen wir noch zurück. Zwerenz sieht sein Internet-Tagebuch auch als Fortführung der Weltbühne-Kolumne, die er 1954 in der DDR begonnen hatte – und bald darauf einstellen mußte. »Das hat mich am Angebot des Poetenladens fasziniert!«, sagt Zwerenz, der sich in der Tradition Kurt Tucholskys und Carl von Ossietzkys fühlt. »Tucholsky hat ja ungeheuer viele journalistische Formen ausprobiert. Und das war auch der Grund, warum ich mich ein Leben lang für ihn und Ossietzky interessiert habe«, so Zwerenz. Seine Tucholsky-Biografie aus dem Jahr 1979 zeugt davon, aber auch der biografische Roman »Gute Witwen weinen nicht«, für den Zwerenz auch in Schweden recherchierte, um einige Geheimnisse zu lüften. »Es gibt keinen Erfolg ohne Frauen«, dieser Tucholsky-Satz steht am Anfang des Textes über die letzten Jahre des Satirikers und dessen schwedische Geliebte Gertrude Meyer. Aber der Satz gilt natürlich auch für das Ehepaar Zwerenz. Ingrid Zwerenz – selbst auch eine feinsinnige Schriftstellerin – ist nach eigener Aussage für ihren Mann »Lektorin, Korrektorin und Beraterin« – »Gerhard konnte sich immer auf mich verlassen.« Das sagte sie vor zwei Jahren im Gesprächsband »Weder Kain noch Abel«. Täglich legt er ihr die Manuskripte vor, die sie liest und abtippt, mittlerweile am Computer. Zwerenz ist ein notorischer Vielschreiber, die Gesamtauflage seiner Werke wird auf drei Millionen geschätzt, über 100 Bücher sind seit 1956 erschienen. Zum 65. Geburtstag vor 20 Jahren erlaubte er sich den Scherz, als Schriftsteller in Rente gehen zu wollen: »Ich schreibe nicht mehr.« Wer ihn kennt, der weiß: Für diesen Autor wäre es schlichtweg undenkbar, den Tag zu vergeuden, ohne etwas geschrieben zu haben. Die Textproduktion im Hause Zwerenz in Oberreifenberg im Taunus läuft meist früh am Morgen an. »In meinem biblischen Alter nehme ich mir die Freiheit, aufzustehen, wann ich will – sei es um 5 oder erst um 9 Uhr«, sagt Zwerenz vergnügt. Mittags wird – zumindest im Sommer – die Temperatur im »Silbersee« geprüft. So nennen Ingrid und Gerhard das vier Kilometer entfernte Freibad in Schmitten. Es enthält wunderbar klares und chlorarmes Wasser, von einem Bergbach gespeist. Ist die Wassertemperatur über 18 Grad, dann »fahren wir rüber, so oft es geht«. Das Freibad im Weiltal ist meist angenehm leer, niemand bittet das Autorenpaar hier um Autogramme. Daß ihr kleiner Heimatort Oberreifenberg am Fuße des Großen Feldbergs im Taunus seit Jahren mehr Menschen anzieht, gehört zu den mysteriösen Dingen. Die »Mysterien im Hochtaunus« hat Ingrid Zwerenz vor kurzem in Ossietzky beschrieben. Apropos: Fragt man Gerhard Zwerenz nach einem Kommentar zur aktuellen politischen Lage inklusive Finanzkrise, dann sagt er: »Mich regt überhaupt nichts auf! Ich habe das seit Jahrzehnten vorausgesagt – überall wo ich geschrieben habe: in Ossietzky, aber auch vorher schon in Konkret, Twen, Pardon, der Frankfurter Rundschau. Ich habe stets vorausgesagt, daß es zu diesem Untergang kommt, das ist Rom zwei, der Untergang des neuen Rom. Ich habe übrigens auch das Ende des Dritten Reichs vorausgesehen, deshalb bin ich ja damals desertiert. Ich habe den Untergang der DDR vorausgesagt, deshalb mußte ich ja weggehen.« Im Gesprächsband »Weder Kain noch Abel« fügte Zwerenz vor zwei Jahren folgendes hinzu: »Ich lehne es ab, Mörder zu sein, und ich lehne es ab, Opfer zu werden. Diese Entscheidung beendete meine weitere Teilnahme am Morden, sie rettete mich, sie kostete mich vier Jahre Gefangenschaft, sie hat aber vor allem mein Leben verändert.« Der 85. Geburtstag fällt in Hessen auf einen gesetzlichen Feiertag: Fronleichnam. »Das haben die extra wegen mir gemacht«, lacht der Jubilar. Er habe sich irgendwann mal – nach einem Herzinfarkt – geschworen, keine Geburtstage mehr zu feiern. »Erst wieder den Hundertsten!«. Er selbst habe nie gedacht, daß er so alt werden würde. »Ich bin mit 18 als Soldat schon mal gestorben. Und seitdem bin ich ein paarmal gestorben. In Sibirien in Gefangenschaft bin ich auch schon mal gestorben. Und immer wieder auferstanden. Also – was will ich noch mehr??! Ich nehme an, mein 85. Geburtstag fällt deshalb auf Fronleichnam, weil ich wirklich als lebender Leichnam so froh bin, daß ich glaube: Hier oben, in 700 Meter Höhe, ist es so kühl, da wird man auch 100 Jahre!«.
Erschienen in Ossietzky 11/2010 |
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