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Groß war das Interesse auch an den außerhalb des Wettbewerbs gezeigten Produktionen, die kaum je im Repertoire unserer Kinos auftauchen werden, weil sie formal und thematisch nicht den Mainstream bedienen. Dennoch bleibt der Wettbewerb das Herzstück großer Festivals. Dieser Jahrgang war eher mittelmäßig, doch die Jury unter Werner Herzog machte mit ihren Entscheidungen noch das Beste daraus. Der Goldene Bär für den türkischen Beitrag »Bal« (Honig) von Semih Kaplanoglu war unumstritten. Die Geschichte einer engen Vater-Sohn-Beziehung in einem anatolischen Dorf beeindruckte emotional nicht zuletzt durch das anrührende Spiel des siebenjährigen Hauptdarstellers Bora Altas. Als der Vater, ein Imker, der seine Bienenstöcke nicht ungefährlich in Baumwipfeln anbringt, von einer Suche nach Ersatz für die ausbleibenden Honigspender aus einem unerforschten Teil des Waldes nicht mehr zurückkommt, bricht für den kleinen Yusuf eine Welt zusammen. Auch die unberührte Natur, von deren Bildern der Film lebt, ist bedroht. Es gibt Pläne, in dieser nordosttürkischen Schwarzmeerregion Wasserkraftwerke zu errichten. Schon werden Bäume abgeholzt, heimische Tierarten, die nirgendwo anders vorkommen, sterben aus. So ist »Bal« auch ein Abschied. An den Großprojekten, die zur Zeit vor Gericht verhandelt werden, dürfte seine immanente Warnung vor der Vernichtung einer Kulturlandschaft kaum etwas ändern. Unveränderbar ist wohl auch eine ganz andere Welt, in die wir vom zweiten Glanzlicht des Wettbewerbs hineingezogen werden. Tatsächlich übt Roman Polanskis Politthriller »The Ghost Writer« auf den Zuschauer im Kinosessel einen Sog aus, dem man sich nicht entziehen kann. Schon am Anfang gibt es Hinweise, daß sich der namenlose Titelheld auf eine Sache eingelassen hat, die ihm noch manche Nerven kosten wird. Kaum hat er das Gebäude des großen New Yorker Verlags verlassen, der ihn gerade beauftragt hat, die Memoiren des britischen Ex-Premiers Adam Lang, ein Millionenprojekt, in kürzester Zeit druckreif zu machen, entreißt ihm ein Motorradfahrer den Packen eines dicken Manuskripts, das er unterm Arm trägt, bei dem es sich aber nicht um die vermuteten Erinnerungen seines künftigen Interviewpartners handelt. In einem Restaurant sieht er dann auch noch in den Fernsehnachrichten die Meldung, daß Lang ein Verfahren vor dem internationalen Kriegsverbrechertribunal droht. Ein ehemaliger Kabinettskollege beschuldigt ihn, vier britische Staatsangehörige unter Terrorverdacht der CIA ausgeliefert zu haben, wo einer von ihnen nach Folterungen starb. Das gegenwärtige Domizil des ehemaligen Premierministers auf einer kleinen Insel im Atlantik vor der neuenglischen Küste, in dem der »Ghost« mit ihm arbeiten soll, gleicht einem Hochsicherheitstrakt, und der Hofstaat samt Ehefrau Ruth und einer ihrem Arbeitgeber wohl nicht nur als Assistentin verbundenen attraktiven Blondine wirkt auch nicht unbedingt vertrauenerweckend. Hinzu kommt der rätselhafte Tod des Vorgängers des neuen Memoirenschreibhelfers. Mehr sei hier nicht verraten, da der Film bereits in unseren Kinos läuft und allen Lesern wärmstens empfohlen sei. Spannung ist garantiert, denn niemand ist, was er scheint, und die Krake CIA hat ihre Fänge überall. Hervorragend das ganze Ensemble mit Pierce Brosnan als smartem Ex-Premier und Ewan McGregor als anfangs ahnungslosem, allmählich zum Detektiv werdenden »Ghost«. Der französisch-deutsch-britisch koproduzierte, in drei Monaten in Deutschland, großenteils im Studio Babelsberg gedrehte Film basiert auf einem preisgekrönten Roman des englischen Bestsellerautors Robert Harris, eines früheren Freundes von Tony Blair, mit dem viele Rezensenten des Buches Adam Lang vergleichen. Die Allgemeingültigkeit des Stoffes kommentiert der Darsteller des Ghost Writer: »Politiker treffen folgenreiche Entscheidungen über Leben und Tod in unserem Namen und ziehen sich dann zurück in ein Leben als Redner und Geldverdiener und werden nicht verantwortlich gemacht für ihre Entscheidungen oder die Lügen, die sie erzählt haben, und bleiben ungestraft.« Der Silberne Bär für die beste Regie war verdient, vielleicht war er zudem auch eine solidarische Geste der Jury gegenüber Roman Polanski, der als Opfer einer US-Justizfarce in seinem Schweizer Chalet gefangensitzt. Seine ironische Reaktion auf die Auszeichnung: Er wäre auf keinen Fall zu Entgegennahme nach Berlin gekommen, da er schon einmal auf dem Wege zu einer Preisverleihung (des Zürcher Filmfestivals) verhaftet worden sei. Nach jahrelanger Nichteinladung Rußlands zum Wettbewerb mögen diplomatische Erwägungen eine Rolle gespielt haben bei der gleich dreifachen Prämierung des russischen Beitrags »Kak Ya Provel Etim Letom« (How I ended this Summer) von Alexej Popogrebski. Die beiden einzigen Protagonisten Grigory Dobrygin und Sergej Puskepalis erhielten gemeinsam einen Silbernen Bären als Beste Darsteller, einen zweiten der Kameramann Pavel Kostomarov für seine künstlerische Leistung. Das Psychodrama zwischen einem älteren und einem jüngeren Mann auf einer einsamen Polarstation in der Arktis mit einem aufgesetzten actionreichen Schluß schien mir damit überschätzt. Gewöhnlich werden die künstlerischen Potenzen der osteuropäischen Kinematografien von der Berlinale zu wenig gewürdigt. Diesmal gibt es Ausnahmen, die aber nicht immer glücklich ausgewählt sind. Einem von mir leider versäumten rumänischen Wettbewerbsbeitrag sprach die Jury sogar ihren Großen Preis und den an den ersten Berlinale-Chef erinnernden Alfred-Bauer-Preis zu. Jedes Festival schmückt sich gern mit prominenten Namen, aber gerade die deshalb eingeladenen Arbeiten von Martin Scorcese und Michael Winterbottom blieben unter dem sonst von beiden gewohnten Niveau. Auch Publikumsmagnet Leonardo DiCaprio konnte Scorceses wirren Thriller »Shutter Island« nicht retten, und die orgiastische Gewalt eines sadistischen Polizisten gegen Frauen in Winterbottoms »The Killer Inside Me« wollte so gar nicht zum politischen Engagement dieses Regisseurs in seinem vor vier Jahren mit einem Silbernen Bären gewürdigten Film »The Road to Guantanamo« passen. Renommierte Regisseure schicken ihre neuen Filme lieber nach Cannes oder Venedig als nach Berlin. Dafür kann die Berlinale mit ihrem Ruf als politisches Festival punkten, dem sie auch diesmal gerecht wurde. So galten mehrere Beiträge dem Thema Islam. Der Diplomfilm des in Deutschland aufgewachsenen afghanischen Absolventen der Filmakademie Baden-Württemberg Burhan Quarbani, »Shahada« (ein muslimisches Glaubensbekenntnis), schaffte es sogar in den Wettbewerb. Er erzählt drei Episoden mit in Berlin lebenden Moslems. Ihre Probleme: ein Schwangerschaftsabbruch, ein Coming Out und die Begegnung eines schockierten türkischen Polizisten mit einer Frau, die vor drei Jahren durch einen Querschläger aus seiner Waffe lebenslänglich verletzt wurde. In der Mitte ein toleranter, aufgeklärter Imam, eine Idealfigur, mit der der Regisseur das Klischee vom Haßprediger durchbrechen wollte. Eine ganz andere Seite des Islam zeigt die vor drei Jahren für ihren Erstling »Grbavica« mit einem Goldenen Bären ausgezeichnete Bosnierin Jasmila Zbanic in »Na Putu« (Auf dem Weg). Ein glückliches modernes Paar entfremdet sich, als der Mann, der gerade seinen Job verloren hat, einen neuen in einer fundamentalistischen muslimischen Kommune findet, einer streng abgeschotteten, nach bärtigen Männern und verschleierten Frauen getrennten Wahabiten-Gemeinde an einem idyllischen See. Eine fremde Welt, die den Mann so verwandelt, daß ihn seine Freundin kaum wiedererkennt. Die Religion zerstört eine Liebe. Sie verändert auch das Bild Sarajevos. Wie die Regisseurin sagte, ist die Burka in den Straßen keine Seltenheit mehr – unvorstellbar noch vor drei Jahren, als ich zuletzt dort war. Allerdings ließ schon ein großes iranisches Kulturinstitut den wachsenden Einfluß des Islam ahnen. Eher verschlüsselt weist der iranische Wettbewerbsbeitrag »Shekarchi« (Der Jäger) von Rafi Pitts auf die heutige Situation im Lande der Ayatollas hin. Meldungen von Demonstrationen hört man nur aus dem Autoradio. Der Titelheld jagt in seiner Freizeit gern in den Wäldern nördlich von Teheran. Außer zur geliebten Familie hat der ehemalige Häftling kaum Kontakt. Um so härter trifft ihn die Nachricht, daß seine Frau bei einem Feuergefecht zwischen Polizei und Demonstranten versehentlich erschossen wurde. Quälende Stunden des Wartens auf eine Auskunft der sich unzuständig fühlenden Bürokratie werden zum Alptraum wie die Suche nach der vermißten sechsjährigen Tochter, an deren Ende die Gewißheit steht, daß auch sie bei der Schießerei ums Leben gekommen ist. Die Rache des Vaters: Von einer Autobahnbrücke aus erschießt er zwei Polizisten. Man kommt ihm auf die Spur, und in den Wäldern wird er selbst zum Gejagten. Dieser Showdown überzeugt mich weniger als die ruhigen poetischen Bilder der ersten Hälfte des Films, der dem weltweit bekanntgewordenen Demonstrationsopfer Neda Soltan gewidmet ist. Im April wird er unter dem Titel »Zeit des Zorns« in unsere Kinos kommen. Eine dokumentarische Ergänzung liefert der iranische Filmemacher und Publizist Nader Davoodi mit »Red, White & The Green«. In den letzten drei Wochen vor den Wahlen im Juni 2009 führte er in Teheran Interviews mit einfachen Leuten und bedeutenden Persönlichkeiten, wobei die allgemeine Offenheit und der vorherrschende Optimismus überraschen. Inzwischen sitzen manche der Befragten im Gefängnis. Der interviewte bekannte Regisseur Jafar Panahi, der zur Vorführung in Berlin erwartet wurde, erhielt keine Ausreisegenehmigung. Und wurde dann ebenfalls festgenommen. Ermutigend wirkt ein Dokumentarfilm der Amerikanerin Julia Bacha, »Budrus«. So heißt eine kleine palästinensische Ortschaft, deren Bewohnern der Bau israelischer Sperranlagen auf ihren Feldern und Pflanzungen droht, wodurch sie ihrer Lebensgrundlagen beraubt würden. Die Dokumentaristin hat über Jahre die gewaltlosen Proteste, die sonst konkurrierende Hamas- und Fatah-Anhänger, die Frauen des Dorfes, israelische und internationale Friedensaktivisten vereinen, und die aggressiven Reaktionen israelischer Soldaten verfolgt. Einer von vielen Zeitgeschichte reflektierenden Beiträgen der Berlinale, zu deren 60. Jubiläum man sich gern wünscht, es gäbe Kinos, in denen wir die hier gezeigten Filme – gerade die nicht von Verleihern gekauften – auch nach dem Festival sehen könnte. Wenigstens besteht die Aussicht, zahlreichen Koproduktionen von ARD und ZDF auf dem Bildschirm wiederzubegegnen. Zur Geschichte der Berlinale seien zwei Publikationen empfohlen: »Play it again« von der Deutschen Kinemathek und »Zwischen uns die Mauer – DEFA-Filme auf der Berlinale« im be.bra verlag.
Erschienen in Ossietzky 5/2010 |
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